Eingebracht von: Wilken, Corinna
Eingebracht am: 18.05.2021
Sehr geehrter Gesundheitsminister,
sehr geehrtes Parlament.
Mit Erstaunen nehme ich zur Kenntnis, dass eine tiefgreifende Gesetzesänderung ohne Wirkungsfolgenabschätzung (WFA) zum Beschluss eingebracht wurde bzw. diese erst bei Bedarf nachgereicht wird.
Gerade in einer modernen, komplexen Gesellschaft ist bei staatlichen Eingriffen mit einem dichten Geflecht an wechselseitigen Wirkungen und Zusammenhängen zu rechnen, die weit über den Kompetenzbereich eines Ministeriums hinausreichen. Im Sinne eines kohärenten Auftretens der gesamten Bundesverwaltung ist es daher notwendig, diese Auswirkungen stärker zu berücksichtigen, wie
Und zwar in festgelegten Politikbereiche ("Wirkungsdimensionen") wie z.B.:
• finanzielle,
• umweltpolitische,
• konsumentenschutzpolitische oder
• gesamtwirtschaftliche Auswirkungen,
• Auswirkungen auf Unternehmen,
• auf die Verwaltungskosten für Bürgerinnen und Bürger und für Unternehmen,
• in sozialer Hinsicht,
• auf Kinder und Jugend sowie
• auf die tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern
Ich fordere vor der Einführung des grünen Passes sowie der 3 G-Regel (geimpft, getestet und genesen), sowohl eine WFA als auch eine medizinische und evidenzbasierte Nutzen-Risiko-Abwägung zu treffen, bevor über den vorliegenden Gesetzesentwurf abgestimmt wird.
Gerade im Bereich von Geeignetheit, besonders von Erforderlichkeit und Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) sind Grundrechtseingriffe nicht ohne maßnahmen- und eingriffsbezogene spezifische Begründungen rechtlich zulässig. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung hat maßnahmenspezifisch zu erfolgen; grundrechtsspezifische Angemessenheitsanforderungen sind zu beachten.
Ich erhebe daher Einspruch, dass gesunde und symptomlose Personen einen Test vorweisen müssen, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu dürfen. Grundrechte sind nicht-konditionierbar und man muss sich für sie nicht „qualifizieren“. Ebenso geht es darum, dass Grundrechte nicht „zurückgegeben“ werden können, weil sie niemals weggenommen werden dürfen. Zusammenfassend: es geht darum, dass ich NICHT nachweisen muss, dass ich „gesund" bin, um Rechte ,,zu haben".
Daher sind die vorgeschlagenen Änderungen und die Einführung des „grünen“ Passes ein Verstoß gegen die Grundrechte.
Darüber hinaus frage ich Sie: was sind die medizinischen und die gesundheitlichen Ziele eines „grünen Passes“? Gibt es eine wissenschaftliche Evidenz, dass der „grüne Pass“ dazu beiträgt, diese Ziele zu erreichen?
Hinsichtlich von Massentests, wie sie nun als Alternative zu Impfung bzw. überstandener Krankheit zum Einsatz kommen sollen, gibt es seit 2020 einen von der WHO veröffentlichten deutschsprachigen Leitfaden zu Vorsorgeuntersuchungen und Screening, um deren Wirksamkeit zu erhöhen, Nutzen zu maximieren und Schaden zu minimieren (https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/330853/9789289054805-ger.pdf).
Für die Aussagekraft von Massentests ist nicht nur die Testgüte (Sensitivität, Spezifität) alleine, sondern vor allem auch die Vortestwahrscheinlichkeit entscheidend. Wenn also die Stecknadel im Heuhaufen immer seltener wird, dann nützt auch eine sehr hohe Testgüte nichts mehr. Bei einer Vortestwahrscheinlichkeit von derzeit unter 0,01 Prozent (<1:10.000) erübrigt sich jedes Screening, wie zuletzt auch Angela Raffle, eine der weltweit führenden Screening-Expertinnen im BMJ (www.bmj.com/content/373/bmj.n1058) festgestellt hat. Gerade dies sollte vor einer Gesetzesänderung berücksichtigt werden. Verpflichtende Eintrittstests bei einer derart geringen Vortestwahrscheinlichkeit widersprechen geltenden medizinisch diagnostischen Standards.
Nachdem voraussichtlich bis Juni ausreichend Impfstoff für diejenigen Personen zur Verfügung steht, und davon ausgegangen wird, dass eine Impfung das Risiko einer schweren Erkrankung um 90 Prozent (Selbstschutz) und die Übertragungswahrscheinlichkeit ebenfalls um 90 Prozent reduziert (Fremdschutz), wozu braucht es dann noch „FFP2-Maske und Abstandsgebot und Tests von gesunden Personen“? Ein Nullrisiko kann und wird es in keinem Bereich unserer Gesellschaft geben.
In dem Moment wo das Krankheitsgeschehen wieder in einem akzeptablen Bereich ist, gilt für alle Mitglieder der Gesellschaft, dass sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Wie hoch der akzeptable Bereich ist, ist eine gesellschaftliche Entscheidung – hierfür braucht es eben eine WFA und eine medizinische Nutzen-Risiko-Abwägung sowie eine öffentliche Diskussion – so wie es auch bei anderen Themen bisher geschehen ist, wie z.B. der Säuglingssterblichkeit, den Drogentoten, der Anzahl der Suizide, den Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen, den Krankenhauskeimen, Antibiotikaresistenzen, den Verkehrstoten, usw. Ich wiederhole mich, ein Nullrisiko gibt es jedoch niemals.
Ich fordere Sie, Herr Gesundheitsminister und Mitglieder des Parlaments, daher auf, weitere Verschärfungen des Epidemie- und Corona-Maßnahmen-Gesetzes zu unterlassen und der Einführung des „grünen Passes“ nicht zuzustimmen und stattdessen auf Differenzierung als Konzept der Pandemiebekämpfung zu setzen, was seit langem notwendig und wissenschaftlich wäre. Ebenso fordere ich Sie auf, wieder auf Eigenverantwortung zu setzen, wie das bisher auch der Fall war.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Corinna Wilken