Transkript der
Veranstaltung:
Podiumsdiskussion zu 100 Jahren B-VG
Alexander Kandl (Schulleiter des Akademischen Gymnasium Wien): Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Name ist Alexander Kandl, ich darf Sie herzlich als Schulleiter des Akademischen Gymnasiums hier im Festsaal zu dieser Veranstaltung anlässlich 100 Jahre österreichische Bundesverfassung begrüßen. Es ist kein Zufall, dass wir uns hier im Festsaal unserer Schule eingefunden haben, denn hier hat Hans Kelsen vor ziemlich 120 Jahren, also im Jahr 1900, maturiert. Hans Kelsen als Vater, als Architekt der österreichischen Bundesverfassung.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Veranstaltung und darf das Wort an den Nationalratspräsidenten Herrn Wolfgang Sobotka übergeben.
Wolfgang Sobotka (Präsident des Nationalrates): Meine sehr geehrten Schülerinnen und Schüler, liebe Professorinnen und Professoren, Herr Direktor! Das österreichische Parlament wird in wenigen Tagen diesen 100. Geburtstag der österreichischen Bundesverfassung mit einer Festveranstaltung begehen. Wir haben uns vorweg gedacht, wir nehmen dieses Thema, das vielleicht für viele sperrig ist, auf – und wir übertragen das auch über den Livestream und stellen das auch zur Verfügung – und zum Anlass, mit zwei Experten zu diskutieren. Ich darf bei am Podium zwei ganz hochkarätige ExpertInnen begrüßen: Zu meiner Rechten, von Ihnen gesehen zu meiner Linken sitzt Frau Dr. Elisabeth Lovrek, sie ist die Präsidentin des Obersten Gerichtshofes. Und zu meiner Linken und Ihrer Rechten sitzt Dr. Christoph Herbst, er ist Rechtsanwalt und Richter am Verfassungsgerichtshof in Wien. Beide werden zu einzelnen Fragen oder zu einzelnen Themenkomplexen der Verfassung auch ihre Ansichten und ihre Einschätzungen, vor allem auch ihre Erfahrung im Umgang mit der Verfassung berichten, denn schlussendlich, die Verfassung regelt unsere Grundrechte oder garantiert unsere Grundrechte, regelt unser politisches Zusammenleben und -arbeiten und hat sich in mehreren Hauptstücken so etabliert, dass sie heute 152 Paragraphen umfasst mit vielen Untergliederungen. Sie ist – der Herr Direktor hat es schon angesprochen – von jenem Mann verfasst worden und wirklich fast alleine verfasst worden, der hier maturiert hat: Hans Kelsen, der vielleicht in der Welt als der bedeutendste Rechtsgelehrte Österreichs gilt.
Hans Kelsen wurde – ich darf vielleicht am Anfang ein paar Worte zu ihm sagen und dann gleich in die Fragerunde einsteigen – in Prag geboren, 1881, also das ist schon länger her, und ist dann 1973 in Berkeley, in Amerika, gestorben. Er wurde in Prag eine jüdische Familie hineingeboren, ist sehr bald nach Wien übersiedelt, nach drei Jahren, und hat eigentlich einen großen Teil seines Lebens, bis 1929/30, in Wien verbracht und dort auch seine akademischen Studien vorangetrieben. Er war eine ganz interessante Persönlichkeit. 1911 hat er sich habilitiert, ist 1917 Professor geworden und 1919 dann ordentlicher Professor und hat eigentlich schon sehr früh, auch noch zur Zeit der Monarchie mit seinen Schriften Aufmerksamkeit erregt und war zum Beispiel von 1915 bis 1917 Berater des Kriegsministers – in einer sehr heiklen Situation –, als es darum gegangen ist: Gibt es eine einheitliche Armee oder gibt es schon zwei Armeen, nämlich die Österreichs und die Ungarns? Und er hat damals schon sehr, sehr bemerkenswerte Artikel verfasst, die sich weit über den Themenbereich der Armee hinaus befasst haben.
Hans Kelsen ist 1919 in der Staatskanzlei bei Bundeskanzler Renner eingestellt worden. Renner hat ihm vertraut, hat ihn auch letzten Endes mit der Verfassung der Verfassung beauftragt, ganz einfach deshalb, er schreibt es in seiner Biographie, weil er selbst, Renner selbst nicht Zeit hatte. Sie wissen, das waren die Verhandlungen zu St. Germain, die wirtschaftliche Not in dieser Zeit war außerordentlich und hat Renner, damals noch als Staatskanzler bezeichnet, sehr viel Zeit erfordert, um die Regierungsgeschäfte zu managen. Wir hatten noch keine Verfassung. Es gab zwar einzelne Artikel, also galten natürlich die Gesetze noch aus der Monarchie, es war also notwendig, eine neue Verfassung zu schreiben, die hat natürlich Teile auch aus den früheren gesetzlichen Materien übernommen und Renner hat ihr nach seiner eigenen Meinung nur zwei Aufträge gegeben: Sie sollte das demokratische und das republikanische föderalistische Prinzip beinhalten, und wenn es geht, sich an der Verfassung von Weimar orientieren. Das ist dann nicht so ganz passiert, wenngleich sicherlich auch Ähnlichkeiten festzustellen waren.
Hans Kelsen war dann Mitglied im Verfassungsgerichtshof, dort sind bemerkenswerte Urteile gefasst worden, die damals auch schon zu großen politischen Diskussionen geführt haben. Damals wollte man das Stück, um Schnitzler ist hier gegangen, meines Wissens, den Reigen verbieten, das wollte man verbieten von der Zensur, und der Verfassungsgerichtshof hat aber entschieden, dass es aufgeführt wird. Auch ein Krematorium ist in Wien errichtet worden, da gab es auch einen Rechtsspruch, der zwar nicht ein klares Recht zur Errichtung gegeben hat, aber „von einem glaubhaften Rechtsirrtum ausgehend“, so ähnlich war die Begründung, und dann war noch die Frage der Ehescheidung, die nicht im Sinne der katholischen Kirche, auch nicht der christlichsozialen Partei entschieden wurde.
Kelsen selbst war nie ein Mitglied einer Partei, er hat den Marxismus abgelehnt, hat aber sehr klare Sympathien für die Sozialdemokratie gehegt, und darum verstehen wir auch, warum 1929 dann bei der Änderung der Verfassung die Christlichsozialen, die damals mit dem Landbund und anderen Parteien regiert haben, das natürlich nicht besonders geschätzt und dann eine Verfassungsreform durchgeführt haben. Es ist allgemein bekannt, dass dann nicht mehr der Bundespräsident von den Parlamentariern gewählt wurde, sondern vom Volk direkt. Das ist die gravierendste Auswirkung; daraufhin ist er aber auch einem Ruf nach Deutschland gefolgt. Es hat hier für ihn dann keine Möglichkeiten mehr gegeben, sich wirklich zu etablieren. Interessant ist, dass er von einem Christdemokraten, von Konrad Adenauer sehr unterstützt wurde bei seiner Berufung an die Universität zu Köln. Es hat aber nicht lange gedauert, 1933 wissen wir, dass Hitler dort die Macht ergreift, zuerst demokratisch und schlussendlich in einer undemokratischen Art und Weise die Demokratie zu einer Diktatur umgewandelt hat, Stück für Stück. Und das ist auch eine Frage, die sich in der Verfassung bei uns widerspiegelt: Was kann unsere Verfassung für einen Schutz der Demokratie bieten? – Damit werden wir uns noch beschäftigen. Er war dann 1933 in Genf Völkerrechtssachverständiger und hat sich dort im Völkerrecht eingebracht bis 1940, zwischenzeitlich auch in Prag an der Universität, von 1936 bis 1938, und schlussendlich 1940 während des Kriegsgeschehens emigriert er aus der Schweiz nach Amerika, zuerst nach Harvard und dann nach Berkeley, wo dann nicht mehr Recht lehrt, sondern Politikwissenschaft, und dass macht er bis 1957.
Wenn wir heute Hans Kelsens Ruf ansehen, dann sehen wir, er ist ein Rechtsgelehrter, der vielleicht eine Ausnahmepersönlichkeit in Österreich – ungeheuer geschätzt, viele Staaten haben seinen Rat mitgenommen und für ihre Verfassungen auch die Grundlagen benutzt, die Kelsen entwickelt hat, insbesondere in Südamerika. Natürlich war er durch seine Haltung in Amerika vielleicht nicht so populär wie in anderen Regionen. Er hat in seiner „Staatslehre“, die er 1925 publiziert hat, etwas vertreten, den Reinen Rechtsstaat, das werden dann die Experten erklären, ich kann das sicherlich nicht so gut wie Sie, weil sie mit dem umgehen, und er war ein besonderer Vertreter des Rechtspositivismus und die Grundzüge der Kelsenʼschen Verfassung von 1920 sind bis zum heutigen Tage erhalten. Und meine erste Frage an meine Experten ist: Was macht eigentlich diese Verfassung von 1920 so einzigartig auch im Vergleich mit anderen Ländern, oder was sehen Sie als einzigartig in dieser Form an?
Elisabeth Lovrek (Präsidentin des Obersten Gerichtshofs): Einzigartig ist sicher die Stellung des Verfassungsgerichtshof. Ich weiß nicht, ob Österreich nicht das einzige oder eines der ganz wenigen Länder ist, das ein so starkes eigenes Verfassungsgericht hat. Die Besonderheit ist, dass die Verfassung ein Gesamtkunstwerk ist, das heißt, die sechs Grundprinzipien – Sie haben schon einige erwähnt – sind wirklich schön verankert. Vielleicht, dass man gleich auch bissel Kritik anbringen kann: Sie haben schon am Anfang gesagt, unsere Verfassung hat 152 Artikel, es gibt sehr viele Verfassungsbestimmungen außerhalb der Verfassung, und, und das ist, glaube ich, der einzige Schönheitsfehler: Wir haben keinen in der Verfassung verankerten einheitlichen Grundrechtskatalog. Das heißt, wir klauben uns die Grundrechte aus der Menschenrechtskonvention, die in Österreich Verfassungsrang hat, zum Teil auch noch aus dem Staatsgrundgesetz 1867, einige Bundesverfassungsgesetze haben auch Grundrechtscharakter, aber es fehlt ein Gesamtkunstwerk.
Wolfgang Sobotka: Herr Dr. Herbst.
Christoph Herbst (Mitglied des Verfassungsgerichtshofs): Ich sehe es ähnlich. Ich bin nicht so ein totaler Verteidiger der österreichischen Bundesverfassung. Was das Einzigartige daran ist: Ich weiß es, ehrlich gestanden, nicht. Es ist etwas hervorzuheben, was die Frau Präsidentin gesagt hat: Wir haben unzählige Verfassungsbestimmungen, die irgendwo in Gesetzen sind. Da gibt es oft einen einzigen Absatz, der eine Verfassungsbestimmung darstellt. Ich glaube, es gibt niemanden, der sagen kann, wie viele Verfassungsbestimmungen es in Österreich gibt. Wenn man das zum Beispiel im Vergleich nimmt zum Deutschen, zum Bonner Grundgesetz, da gibt es eine einheitliche Urkunde, in der alles steht. Also insofern ist das schon eine gewisse Unkultur, die es in Österreich gibt, dass es so verstreut, lose irgendwo Verfassungsbestimmungen gibt.
Die Verfassung hat sicherlich mit der Verfassungsgerichtsbarkeit einen gewissen Meilenstein gesetzt, mittlerweile haben aber sehr viele Staaten nachgezogen, also diese Einzigartigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit kann man heute nicht mehr so herausstreichen wie sie es war. Was vielleicht – und da kann man kontroversieller Ansicht sein – eine Eigenart der österreichischen Verfassung ist, ist, dass sie sehr trocken ist, dass sie sehr neutral formuliert, dass sie nicht strotzt vor Werten, die drinnen vorkommen. Also, es wird immer darüber diskutiert, ob es eine sehr wertneutrale, sehr wertfremde Verfassung ist, immer wieder natürlich schaut über die Grenze nach Deutschland, das eine Verfassung hat, die vor Werten strotzt. Jetzt kann man natürlich sagen, auch die österreichische Verfassung hat viele Werte: Demokratie, Rechtsstaat und so fort. Aber Werte, wie sie in der Deutschen Verfassung vorkommen, wie Menschenwürde, das gibt es in der österreichischen Verfassung nicht.
Letzter Punkt – was auch die Frau Präsidentin gesagt hat – aus meiner Sicht: Es ist schon eigenartig, dass unser Grundrechtskatalog, unser eigenständiger österreichischer Grundrechtskatalog, das muss man sich einmal vorstellen, aus dem Jahr 1867 stammt. Warum? – Weil zum Zeitpunkt der Entstehung der Verfassung, 1920, sich die politischen Parteien, die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten schlicht nicht einigen konnten, welche Grundrechte hier aufgestellt werden, ob es soziale Grundrechte gibt und so weiter. Jetzt hat es vor einigen Jahren einen Verfassungskonvent gegeben, mit großem Aufwand und Pomp – wiederum konnten sich die politischen Parteien nicht auf etwas Derartiges einigen. Also, insofern ist es schon eigenartig, dass wir so viele ganz alte Grundrechte in unserer Verfassung haben, was aber nicht bedeutet, dass sie nicht zeitgemäß angewendet werden können.
Wolfgang Sobotka: Sie sehen die Einzigartigkeit. Ich habe es auch nicht so wertend formuliert, sondern das Besondere an der Verfassung ist, dass sie offenbar nicht alles beinhaltet, was andere Verfassungen als Grundrecht beinhalten, aber sie etwas erstmalig geschaffen – Sie haben es benannt –: den Verfassungsgerichtshof. Den gab es vorher in dieser Form nicht. Was macht das eigentlich aus? Wie sieht er diesen Verfassungsgerichtshof damals? Im Vergleich zum Reichsgericht ist es eine Weiterentwicklung in welcher Form? Darf ich das dem Mitglied des Verfassungsgerichtshofs vielleicht zuerst geben.
Christoph Herbst: Das Besondere war, dass das erste Mal, das muss man wirklich sagen, das war etwas Einzigartiges zur damaligen Zeit, es hat in der Tschechischen Republik auch Ansätze gegeben, dass das erste Mal Gesetze überprüft werden durften. Man muss sich das so vorstellen, früher war es eigentlich so, dass man nur die Verwaltung kontrolliert hat. Da hat es ein Verwaltungsgerichtshof gegeben und früher das Reichsgericht, es durften Einzelakte, Vollzugsakte überprüft werden. Aber das auf einmal auch der Gesetzgeber, der Souverän, kontrolliert wird, das war etwas völlig Neues. Heute ist das Allgemeingut. Heute versteht überhaupt niemand mehr, dass das so etwas Besonderes ist. Aber im Jahr 1920 – und das ist schon sehr stark zurückzuführen auf Kelsen, man darf die Person Kelsen nicht als den alleinigen Autor sehen, aber hat sehr wesentliche Beiträge geleistet – war es sicher etwas Einzigartiges, dass auf einmal der Verfassungsgerichtshof Gesetze des Bundes oder des Landes aufheben kann. Es hat vorher schon einige Kompetenzen gegeben, ein paar sind dazugekommen, aber ich würde sagen, das ist das Besondere gewesen, dass auf einmal der Souverän, der Gesetzgeber kontrolliert werden kann. Und was durfte kontrolliert werden? – Eigentlich sehr viel. Es kann kontrolliert werden, ob der Bund oder das Land zuständig ist, Gesetze zu erlassen, aber auch vor allem, ob Gesetze den Grundrechten widerstreiten. Das war etwas Neues.
Ich muss gleich dazusagen, der Verfassungsgerichtshof war am Anfang sehr, sehr zurückhaltend, der Verfassungsgerichtshof hat erst im Laufe der Zeit eine Praxis entwickelt, bei der sehr viel stärker Wertvorstellungen, bestimmte materielle Betrachtungen verwendet wurden. Und das war etwas, das genau gegenteilig zu Kelsens Position ist. Kelsen war jemand - - Sie kennen vielleicht die Diskussion über Werte Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, die Diskussion Positivismus, Max Weber und all diese Sachen; und hier hat Kelsen eine Position vertreten, dass eigentlich über Werte, ob etwas gleichheitswidrig ist, ob etwas vergleichbar ist, dass man da sehr zurückhaltend sein soll, dass sich der Verfassungsgerichtshof nicht in diese Sachen einmengen soll. Das war eigentlich die sogenannte Reine Rechtslehre, dass man eine sehr zurückhaltende Interpretation von Wertvorstellungen in der Rechtsordnung vorgenommen hat. Das hat sich, würde ich einmal sagen, gegenüber der Zeit von 1920 grundlegend geändert. Ich glaube, alle Gerichte haben heute eine relativ materielle Betrachtung der Rechtsvorschriften und nicht mehr diese formale Betrachtung, die es früher gegeben hat.
Wolfgang Sobotka: Wie sehen Sie diesen Unterschied oder die Bewertung einer Reinen Rechtslehre und dann doch einer sehr wertorientierten. Ist das auch für den OGH von Bedeutung?
Elisabeth Lovrek: Ich glaube, die Entwicklung, die Dr. Herbst geschildert hat, ist auch zurückzuführen auf doch bedeutende unionsrechtliche und überhaupt europarechtliche Vorgaben beziehungsweise auf die Europäische Menschenrechtskonvention.
Dieses völlige Zurückziehen, dass der Richter sagen kann, was nicht im Gesetz steht, gilt für mich überhaupt nicht, ich habe mich ganz streng und ohne Wertentscheidung zu orientieren, das ist nicht mehr haltbar, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eben sehr grundrechtsaffin agiert und eine gewisse Bewertung auch der Gerichte erfordert. Das heißt, will man als österreichisches Höchstgericht nicht vom EGMR – um es jetzt salopp zu sagen – eine am Deckel kriegen, muss man sich auch an dieser Rechtsprechung orientieren, und die hat sich sehr weit von Kelsens Reiner Rechtslehre entfernt. Ob das gut oder schlecht ist - - Eine gewisse Zurückhaltung halte ich persönlich, das ist wirklich meine Meinung, von Richtern für angebracht. Ich glaube, wir sollten die Gewaltentrennung ernst nehmen, an sich sollen die Gesetze im Parlament gemacht werden, die Richter, vor allem der ordentlichen Gerichtsbarkeit, also Zivil- und Strafrichter, sind, glaube ich, nicht dazu berufen, politische Entscheidungen zu korrigieren. Das ist eine sehr persönliche Auffassung von mir.
Wolfgang Sobotka: Ich darf auch gleich ermuntern, Fragen zu stellen, wenn etwas nicht klar ist oder ein Begriff einer Erklärung bedarf. Es gibt keine blöden Fragen, nur blöde Antworten in der Regel. Also, scheut euch nicht, wenn die Begriffe - - OGH, der Oberste Gerichtshof, der für Zivil- und Strafsachen die letzte Instanz ist, und der Verfassungsgerichtshof, der, wie schon Dr. Herbst ausgeführt hat, vor allem die Frage der Gesetzgebung in besonderer Art und Weise auch zu beurteilen hat beziehungsweise die Auswirkung dieser Gesetzgebung. Und dann gibt es noch einen Verwaltungsgerichtshof, der den Verwaltungsablauf zu beurteilen hat, ob dort die Gesetze eingehalten werden.
Wir haben eine doch starke Trennung zwischen der Exekutive und der Legislative. Was war die ursprüngliche Idee Kelsens? Wie sah er diesen Verwaltungsgerichtshof? Ist das wirklich striktest getrennt? Hat er ihn gesehen als ein Organ, das auch politische Entscheidungen trifft oder wie sah er auch das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative, also zwischen dem Parlament und den Ministern beziehungsweise den Regierungen?
Christoph Herbst: In unserer Verfassung und das ist in den meisten Verfassungen so, seitdem es die Ideen von Montesquieu gibt, ist es eigentlich verankert, dass es drei Gewalten gibt oder eher in der Diktion von Kelsen: drei Staatsfunktionen. Es gibt einerseits die Gesetzgebung. Die Gesetzgebung ist eigentlich über der Vollziehung. Die Vollziehung ist einerseits die Gerichtsbarkeit und andererseits die Verwaltung. Die Idee ist, dass die gesamte Vollziehung, die Verwaltung und Gerichtsbarkeit am Gesetz hängt. Das heißt, der Gesetzgeber bestimmt, was in der Verwaltung oder Gerichtsbarkeit durchgeführt werden soll. Das ist insofern wichtig, als damit die Vollziehung die Gerichtsbarkeit und auch die Verwaltung, an den Souverän, an das Volk rückgekoppelt. Die Idee ist eigentlich, dass es dadurch eine indirekte demokratische Legitimation von Entscheidungen der Gerichte, aber auch der Entscheidungen der Verwaltung gibt. Damit diese Rückkoppelung an die Gesetzgebung und an das Volk gewährleistet ist, ist es notwendig, dass sich die Verwaltung aber auch die Gerichtsbarkeit an die Gesetze halten. Und insofern, was die Frau Präsidentin vorher gesagt hat: die Zurückhaltung eines Gerichtes oder der Verwaltung ist schon alleine deswegen geboten, weil eigentlich der Gesetzgeber der Souverän ist, der bestimmen soll, in welche Richtung der Staat gehen soll. Und das ist nicht die Aufgabe der Richter oder der Verwaltung, auch nicht die Aufgabe des Verfassungsgerichtshofes oder des Obersten Gerichtshofes. Das es bisweilen oder öfter Entscheidungen gibt, bei denen die Politik vielleicht die Frage stellt: Überschreitet nicht hier der eine oder andere Gerichtshof seine Kompetenzen?, das kann man natürlich nicht hintanhalten. Aber die Idee ist eigentlich, dass die gesamte Vollziehung letztlich rückgekoppelt ist an das, was das Volk durch das Parlament, durch den Gesetzgeber macht. Und das ist einmal die Grundvorstellung.
Jetzt muss man trotz allem sagen, Sie kennen ja diese Ideen von Montesquieu, diese klare Trennung der drei Staatsfunktionen gibt es nicht. Es gibt vielfach Überschneidungen. Beispielsweise die Frau Präsidentin ist ernannt worden letztlich vom Herrn Bundespräsidenten. Insofern gibt es eine Verbindung der Verwaltung – Bundespräsident – zur Gerichtsbarkeit. Oder: Ein Mitglied des Verfassungsgerichtshofes wird ernannt, entweder vom Bundesrat oder vom Nationalrat oder von der Bundesregierung. Es gibt vielfache Überschneidungen, aber von der Grundtendenz sind diese drei Funktionen einmal in den wesentlichen Angelegenheiten für sich stehend.
Wolfgang Sobotka: Das schaut so aus, wenn man den Verfassungsgerichtshof hernimmt, dass er sich auch sich zurücknehmend in seiner Beurteilung darstellt. Der Verfassungsgerichtshof hat 13 Richter - -
Christoph Herbst: 14!
Wolfgang Sobotka: 14, und es gibt dort letzten Endes Entscheidungen, die nicht immer einstimmig fallen, oder?
Christoph Herbst: Richtig! Das ist ja klar, wenn 14 Leute zusammensitzen, wäre es ja traurig, wenn alles einstimmig ist. Es ist ja notwendig, dass es hier eine entsprechende Meinungsvielfalt gibt, um überhaupt im gemeinsamen Diskurs zu einer sinnvollen Entscheidung zu kommen, wobei man sagen muss, von den 14 Richtern sind 13 stimmberechtigt. Der Herr Präsident, derzeit haben wir einen männlichen Präsidenten, führt die Verhandlungen, darf aber nicht mitstimmen. Und diese 13 sind in manchen Dingen einer Meinung, in manchen Dingen kontroversieller Position, das ist, glaube ich, in jedem Kollegium ja die Idee, dass es eine Diskussion gibt und man gemeinsam im Ringen um eine Sache gescheiter wird. Und ich kann es nur aus meiner Erfahrung sagen, während Diskussionen, während Beratungen geht man hinein und denkt sich oft: Ja, das ist eindeutig in die eine oder andere Richtung zu beantworten. Da hat man einen Entwurf, der vorbereitet wird und denkt sich, entweder das ist völlig falsch oder völlig richtig. Und dann kommt die Diskussion zustande, man lernt sehr viel Neues kennen, und in der gemeinsamen Diskussion, wie es so schön heißt, „wächst man“ und kommt zu einer gemeinsamen interessanten neuen Sicht.
Wolfgang Sobotka: Das wird aber vom Rezipienten nicht als solches wahrgenommen, weil die Diskussion ja letzten Endes nicht veröffentlicht wird. In Amerika gibt es, wenn das Urteil verkündet wird, entweder positiv oder negativ, können auch die, die unterlegen sind in der Rechtsmeinung, eine abweichende Haltung begründen: die Dissenting Opinion. Wie wäre es, wenn man das in Österreich täte? Es gibt ja Entscheidungen, wir sind in der Phase, der Verfassungsgerichtshof tagt ja jetzt gerade in seiner Session und eine ganz wesentliche Fragestellung ist: Gibt es eine Tötung auf Verlangen oder gibt es - - Die Sterbehilfe ist gerade ein Thema, das der Verfassungsgerichtshof ganz prominent schlussendlich behandelt. Wäre es hier eine Hilfe auch für die Bevölkerung, ein Gerichtsurteil zu verstehen, wenn man auch sieht, dass es unterschiedliche Meinungen gibt und diese abweichende Meinung dann begründet wird?
Elisabeth Lovrek: Es gibt natürlich wie bei allem Pro- und Kontraargumente. In Österreich ist man tendenziell sehr skeptisch immer schon gewesen, was diese sogenannten Dissenting Opinions betrifft. Es wird meistens argumentiert - - Also, zwei Argumente stehen im Vordergrund: Das eine ist: Am Ende fällt eine Entscheidung! Das ist völlig wurscht, ob sie 7:6 im VfGH oder 3:2 beim Obersten Gerichtshof – wir entscheiden in 5er-Senaten – getroffen wird, das, was am Schluss herauskommt, gilt, das muss man nicht verwässern durch die Veröffentlichung abweichender Meinungen. Es wird auch dagegen eingewendet, dass die Richter geschützt sein sollen. Man würde sonst mit dem Finger auf den Dr. Herbst zeigen, wenn man wüsste, wie er beim Sterbehilfeurteil abgestimmt hat. Und es wird argumentiert, dass die Autorität des Höchstgerichtes geschwächt würde, wenn die Bevölkerung erfahren würde, dass das nicht einhellig ist.
Ich persönlich bin eher ein Befürworter der Dissenting Opinions, jedenfalls soweit sie nicht zwingend veröffentlicht werden müssen. Ich glaube, es müsste einem Gerichtshof freistehen, zu sagen: Wir haben zwar unterschiedlich abgestimmt, aber aus ganz bestimmten Gründen wollen wir diesen Abstimmungsprozess nicht veröffentlichen. Das ist in Deutschland beim Bundesverfassungsgericht der Fall, da kann, muss aber nicht veröffentlich werden. Und ich glaube, ich gibt schon gesellschaftspolitisch sehr wesentliche Fragen, wo wichtig wäre, dass man auch sieht, dass das entscheidende Gericht auch pluralistisch ist, dass es nicht eine Meinung gibt, die hundertprozentig richtig oder falsch ist. Ich kann mir vorstellen, dass die unterlegene Partei - - die kann sich zwar nichts kaufen, wenn sie weiß, irgendwer hat auch für ihren Standpunkt gestimmt, aber das ist vielleicht doch auch etwas, wo man sagt: Aha, so ganz daneben war ich oder mein Anwalt nicht. Also, ich finde, man sollte das überdenken, das sollte man nüchtern diskutieren, gerade beim Verfassungsgerichtshof hielte ich es nicht für abwegig, so etwas einzuführen. Ich weiß aber, dass der Gerichtshof selbst eher dagegen ist.
Christoph Herbst: Ich persönlich halte das schon für eine ganz interessante Idee, ich möchte aber nur ein bisschen etwas vom gruppendynamischen Prozess schildern. Ich möchte nicht sagen, dass es ein Für oder Wider ist, aber, sie müssen sich das vorstellen: Es sitzen 14 Personen – jetzt rede ich vom Verfassungsgerichtshof – um einen Tisch oder an einem Tisch und diskutieren. Und wenn man merkt, die Mehrheit geht in die andere Richtung und man geht unter, hat man zwei Möglichkeiten: entweder man lehnt sich zurück und sagt, habt’s mich gern, ich komme sowieso nicht durch, oder ich versuche, doch meine Meinung so hineinzubringen, dass vielleicht bestimmte Nuancen anders begründet werden, damit sie in einer Linie zu den sonstigen Entscheidungen sind. Wenn die Dissenting Opinion eingeführt wird, könnte es passieren, dass einer sich relativ bald geistig verabschiedet und sagt: Ich werde es euch nachher ohnehin zeigen, ich werde ein Dissenting Opinion abgeben, die hat sich gewaschen! Und da erkläre ich der Mehrheit, wie falsch das Ganze ist. Vom Gruppendynamischen kann das auch eine negative Situation darstellen.
Andererseits heute wird immer wieder großartig gesprochen von Transparenz. Wenn ich jetzt Transparenz sage, ist es vielleicht in manchen Situationen nicht schlecht zu wissen, wie waren die Mehrheitsverhältnisse, und ich glaube schon, dass es auch für die Judikatur sinnvoll ist, oft zu wissen: Na ja, das gibt es vielleicht doch eine gewisse Entwicklung in der nächsten Zeit, derzeit ist es halt noch nicht so weit, dass man mit dieser Meinung durchdringt, aber vielleicht, wenn die Leute gescheiter werden, wenn andere Personen an den Gerichtshof kommen, vielleicht wird sich das dann diese Richtung entwickeln. Ich glaube, diese Dissenting Opinion hat im Laufe der Zeit schon an negativer Kraft verloren. Ich glaube, es ist wahrscheinlich über kurz oder lang ein sinnvolles Instrument, das man einführen kann. Aber von allen 14 Richtern wird jeder eine ganz andere Meinung haben, ich fände es eigentlich ganz interessant.
Wolfgang Sobotka: Also, dem schließe ich mich eigentlich an. Wir haben ja auch im Parlament unterschiedliche Meinungen, und jeder weiß, wie er mit den unterschiedlichen Meinungen umzugehen hat. Ich denke, dass natürlich auch begründete Urteile unterschiedliche Zugänge letzten Endes haben können.
Christoph Herbst: Wenn ich das noch ergänzen darf, was die Frau Präsidentin gesagt hat: Es gibt es den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; dort gibt es Dissenting Opinions. Es gibt es Deutsche Bundesverfassungsgericht; dort gibt Dissenting Opinions. Das heißt, es gibt eigentlich im internationalen Kontext schon sehr viele Sachen. Beim EuGH gibt es den sogenannten Generalanwalt. Ich glaube schon, dass es sehr sinnvoll ist, dass man sieht, welche unterschiedlichen Positionen da dahinterstehen, weil damit vielleicht auch der Diskussionsprozess nachvollziehbarer ist, der sich in einem Gericht abspielt. Und die Position, die man früher gehabt hat, dass alles in der Camera separata sein sollte, hinter verschlossenen Türen, das, glaube ich, ist eine Position, die heute nicht mehr so leicht vertretbar ist wie vor einigen Jahrzehnten.
Wolfgang Sobotka: Kommen wir vielleicht wieder zur Verfassung zurück. Der Verfassungsgerichtshof ist ja wirklich das Wesen, ein Kernstück der Kelsenʼschen Verfassungen. Wie beurteilen Sie die Reform von 1929? – Das war ja neben der `94er eine der gravierendsten Veränderungen. Wie schaut das aus Ihrer Sicht aus, Frau Doktor?
Elisabeth Lovrek: Die Einführung des Direktwahlrechts des Bundespräsidenten halte ich für gut, und auch, wie man gesehen hat, seine Position ist gestärkt worden durch die Verfassungsreform 1929. Und ich glaube beides, sowohl die inhaltliche Positionierung des Bundespräsidenten als auch die Direktwahl sind wirklich große Errungenschaften. Ein vom Parlament, verzeihen Sie, gewählter Bundespräsident hat, glaube ich, nicht - - Ja, ich finde das ist ein schöner Zug eine Volkswahl da stattfinden zu lassen. Ich nehme an, ich bin keine Verfassungsexpertin, 1929 war auch eine Föderalismusreform, oder? Oder war das 1925? Ich weiß in Wirklichkeit 1929 – ich lege das offen – nur von der Rechtsstellung des Bundespräsidenten, und das halte ich für sehr gut.
Christoph Herbst: Wenn ich das ergänzen darf: Im Jahr 1929 ist die Position des Bundespräsidenten gestärkt worden, der eigentlich vorher keine wesentliche Aufgabe im österreichischen Staatsgefüge hatte. Und das Wesentliche ist, dass der Bundespräsident jetzt vom Volk gewählt wird, dass er aber auch – und das ist das Entscheidende – den Nationalrat auflösen kann, dass er die Bundesminister bestellt. Man hat das ja vor kurzer Zeit gesehen in der politischen Diskussion: Hätten wir die Rechtslage vor 1929 gehabt, wäre das, was wir vor zwei, drei Jahren gehabt haben, sicherlich nicht so klaglos über die Bühne gegangen. Das muss man schon sagen, im Nachhinein müssen wir dankbar sein, dass - - (Zwischenruf.)
Wolfgang Sobotka: Dem kann ich einiges abgewinnen, nur, die ursprüngliche Idee Kelsens war natürlich eine starke parlamentarische Demokratie zu etablieren, er hat auch die Minister nicht Minister genannt, sondern Volksbeauftragte in seiner ursprünglichen Version und hat natürlich auch den Bundespräsidenten, sowie er in Deutschland auch noch immer durch den Bundestag gewählt wird, durch die Bundesversammlung wählen lassen. Es hat sich dadurch das Gewicht zwischen Exekutive und Legislative verschoben, Sie, Herr Dr. Herbst, haben dann noch viel deutlicher gesagt, es gibt so viele Schnittstellen zwischen den drei Staatsfunktionen. Sind diese Schnittstellen damit noch mehr geworden, ist es dadurch noch etwas komplexer geworden oder Ihrer Meinung nach auch klarer?
Christoph Herbst: Ich glaube, dass sich in dem Bereich im normalen, praktischen Alltag nichts geändert hat. Ich glaube, das ist gleichgeblieben. Die Funktion des Bundespräsidenten wird natürlich sehr stark auch auf einer informellen Ebene ausgeübt, hinter den Kulissen. Das ist etwas, was man nicht so wahrnimmt oder selten wahrnimmt. Sonst würde ich sagen, die Stellung des Bundespräsidenten ist mehr eine Autorität im Hintergrund, wenn es eine prekäre Situation gibt. Im normalen Alltag würde ich sagen, hat sich dadurch nicht so viel geändert.
Elisabeth Lovrek: Aber in der Krise war es schon sehr bedeutend.
Wolfgang Sobotka: Kommen wir zur Verfassung zurück. Sie haben zuerst angesprochen, dass der Grundrechtskatalog im Deutschen Grundgesetz gesamtheitlich verankert ist. Wie ist es eigentlich, wenn man andere Verfassungen mit der österreichischen vergleich? Sie haben gesagt, sie ist sehr zurückgenommen, sehr nüchtern, sprachlich sehr exakt, keine Werte (Herbst: Wenig!), wenig Werte transportierend. Bräuchte es eigentlich heute einen größeren Wertehintergrund, Werte, die in der Verfassung zu verankern wären?
Elisabeth Lovrek: Ich bin da eher skeptisch. Ich finde, diese Staatszielbestimmungen in der Verfassung - - Ich finde, der Gesetzgeber kann sich entscheiden, Gesetze zu schaffen, aber so nebulose Ziele wie Tierschutz et cetera, das sind so Lippenbekenntnisse, die ohnedies einer Ausfüllung bedürfen. Ich finde diese Klarheit der österreichischen Verfassung in diesem Punkt eher sehr positiv.
Christoph Herbst: Wir dürfen nicht vergessen, als ich studiert habe, hat es die österreichische Verfassung gegeben und dann hat es daneben die Europäische Menschenrechtskonvention gegeben, die Teil der österreichischen Verfassung ist. Mittlerweile, die Frau Präsidentin hat das angesprochen, kommt eine ungeheure Lawine an Rechtsvorschriften über die Europäische Union herein; und da kommen auch sehr viele Grundwerte herein, die eigentlich unser Rechtsleben stark verändern. Es gibt Grundfreiheiten, die eine sehr starke liberale Betrachtung vieler Systeme erfordern. Also die Werte, die vielleicht ursprünglich der österreichischen Verfassung implizit zugrunde gelegen sind, sind sicherlich sehr stark verändert worden durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union. Wir dürfen nicht vergessen, sehr, sehr viele Bereiche, mit denen wir heute zu tun haben, sind letztlich Ausfluss der Umsetzung von Unionsrecht. Und das erfasst alle möglichen, zum Beispiel verwaltungsrechtlichen Vorschriften, abfallrechtliche Vorschriften, datenschutzrechtliche Vorschriften, aber auch im Zivilrecht sehr, sehr viele Sachen, die jetzt durch die Europäische Union und deren dahinterstehende Werte ganz stark beeinflusst werden. Das heißt, die österreichische Verfassung, so wie wir sie ursprünglich kennengelernt haben, dass hier der Nationalrat mit Zweidrittelmehrheit alle möglichen Sachen in die eine oder andere Richtung lenken kann, das ist ganz stark – jedenfalls in machen Aspekten – eingeschränkt.
Und wir haben auch im Unionsrecht, im Europarecht mittlerweile Grundrechte – seit 2009, seit dem Vertrag von Lissabon. Also, diese Gemengelege zwischen österreichischem Recht und Unionsrecht, glaube ich, bringt uns alle immer wieder vor sehr große Herausforderungen.
Wolfgang Sobotka: Das heißt, unsere Lebenssituation wird stark nicht nur von unseren Gesetzen, sondern von europäischen Gesetzen und der europäischen Gerichtsbarkeit determiniert. Die Frage, die sich mir stellt im Vergleich zur deutschen Verfassung, die kennt so etwas wie die Ewigkeitsklausel, das ist insbesondere in der Frage der Demokratie und der Werthaltung der Demokratie für mich doch etwas Besonderes. Wir erleben ja in der Jetztzeit doch einzelne Gruppen, die die Demokratie anzweifeln, den demokratischen Wert. Wir sehen vermehrt ein Ansteigen des Antisemitismus, der eine grundsätzlich antidemokratische Grundhaltung zum Ausdruck bringt und natürlich auch der politische Islam. Ist unsere Demokratie, obwohl wir das eben nicht haben, genügend durch die Verfassung geschützt? In der Reinen Rechtslehre nach Kelsen heißt es nämlich: Wenn die Mehrheit befindet, die Demokratie abzuschaffen und das in einer Volksbefragung dann diesem Grundsatz unterliegt, dann wäre sie abgeschafft. Braucht es solche Ewigkeitsklauseln für bestimmte Werte oder ist unsere Demokratie, zu der wir uns ja alle bekennen, genügend durch die Verfassung geschützt?
Elisabeth Lovrek: Eine Gesamtänderung der österreichischen Bundesverfassung bedürfte zumindest einmal einer Volksabstimmung. Ob jetzt ganz realpolitisch betrachtet die Ewigkeitsklausel im Grundgesetz wirklich alles verhindern kann, wage ich zu bezweifeln. Wenn alle Stricke reißen, dann wird auch die Ewigkeitsklausel auf dem Papier stehen. Das heißt, ich glaube schon, dass unsere Verfassung wehrhaft genug ist, das heißt nicht, dass nicht auch der einfache Gesetzgeber immer wieder nachrüsten muss, um etwa die Phänomene, die Sie geschildert haben, doch sehr deutlich zu verfolgen: Antisemitismus, politischer Islam. Da müssen wir dann also auch vielleicht diskutieren, was das überhaupt bedeutet. Ich glaube aber, das reicht. Verfassungsrechtlich da jetzt eine Ewigkeitsklausel zu basteln - - die hätte einen Hitler auch nicht gehindert.
Christoph Herbst: Ich sehe das ähnlich. Ich glaube, dass so eine Ewigkeitsklausel gar nicht so die große Bedeutung hat. Wenn die Grundfesten der Verfassung geändert werden, dann müsste eine Volksabstimmung durchgeführt werden. Ich glaube, es ist eigentlich viel mehr so, dass man sich von der Verfassung auch nicht alles erwarten darf. Aus meiner Sicht ist es viel wichtiger, wie eigentlich jene Personen agieren, die die Verfassung täglich exerzieren oder mit ihr zu tun haben, und da denke ich in erster Linie an die Politik, an den Gesetzgeber, an die Verwaltung, aber auch an die Gerichtsbarkeit – da sind wir alle berufen. Wir sehen ja in anderen Staaten, dass ein System immer nur so gut ist wie die Personen, die diese Funktionen ausfüllen.
Ich bin groß geworden mit der Idee, dass gerade eigentlich die USA das Paradeland für Checks and Balances ist, sodass sich eigentlich die unterschiedlichen Staatsfunktionen so gegenseitig kontrollieren und aufwägen, dass da nichts passieren kann. Wenn man jetzt das tägliche Leben dort beobachtet, kommt man drauf, dass dort eigentlich überhaupt nichts so ist, wie sich das alle vorgestellt haben. Deswegen glaube ich, solche Ewigkeitsgarantien sind gar nicht so wichtig, am Ende des Tages würden auch die Fallen, sondern es kommt eigentlich viel stärker darauf an, dass alle Personen, die mit den Institutionen zu tun haben, mit den Rechtsvorschriften zu tun haben, genau wissen, was sie machen, auch über die entsprechenden charakterlichen Eigenschaften verfügen und auch die notwendige Zurückhaltung haben und dass auch die Zivilbevölkerung hier ihren Beitrag leistet. Aber durch irgendwelche formalen rechtlichen Vorschriften zu glauben, das in den Griff zu bekommen, das halte ich eigentlich für sehr weit hergeholt.
Wolfgang Sobotka: Das heißt, die Demokratie als solche - - Wir haben auch jetzt eine Diskussion, dass bei Covid die Grundrechte eingeschränkt werden , Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden, die letzten Endes durch die Verfassung und durch die Verfassungsbestimmungen geschützt werden sollen. Das reicht Ihrer Meinung nach aus, so wie wir es derzeit haben?
Elisabeth Lovrek: Solange wir den Verfassungsgerichtshof haben, so wie er ist, kontrolliert er, überprüft er – das ist doch ein wunderbares Kontrollsystem, also da habe ich wirklich vollstes Vertrauen.
Christoph Herbst: Das ist ganz interessant, es gibt andere Staaten, als Beispiel, wenn man das mitbekommt, Spanien: Spanien kann den Ausnahmezustand erklären. Wenn ich den Ausnahmezustand erkläre, werden verschiedene Sachen anders gehandhabt. Wir haben eigentlich in Österreich eben das gerade nicht, oder in Deutschland gibt es so ein Ausnahmerecht nicht, Kriegsrecht oder was auch immer, sondern bei uns - -
Wolfgang Sobotka: Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz!
Christoph Herbst: Bei uns läuft alles in den geordneten Bahnen. Wenn Sie die Covid-Situation, die Coronasituation ein bissel überlegen, da haben selbstverständlich starke Eingriffe in die Grundrecht stattgefunden, aber solange die Institutionen noch da sind, um diese Sachen zu überprüfen und gegebenenfalls aufheben können, wenn etwas nicht in Ordnung ist, erfüllt meines Erachtens der Rechtsstaat noch seine Aufgabe. Dass das vielfach in der Situation, in der man unter Druck steht, vielleicht als zu spät empfunden wird, das ist sicherlich bedauerlich, aber das habe ich in der normalen Rechtsordnung immer wieder, dass natürlich der Rechtsschutz oft ein wenig zu spät kommt.
Wolfgang Sobotka: Wir haben jetzt vieles gehört, es gibt noch interessante Fragen. Was wollen Sie als Schülerinnen und Schüler hier im Haus zur Diskussion anmerken oder wissen? Wer bricht das Eis?
Frage: Ich habe eine Frage an Sie, aber entschuldigen Sie, sie passt nicht zum Verfassungsrecht, das ist ein anderes Thema: Sie sind ja ehemaliger Lehrer und deswegen wollte ich Sie fragen, ob Sie einen Shutdown bewerten würden, falls die Schulampeln auf Orange gestellt werden.
Wolfgang Sobotka: Das ist natürlich eine sehr politische Frage. Ich glaube, das niemand in Österreich grundsätzlich einen zweiten Shutdown befürwortet. Wir haben vieles gelernt aus der ersten Phase dieses Shutdowns, wir wissen die Probleme, die auf dem gesundheitlichen Sektor auftreten, glaube ich, jetzt besser zu managen in der Frage der Behandlung, wenngleich auch noch kein Medikament da ist, um die letale Situation zu beseitigen. Wir haben mehr Erfahrung, wie wir mit unseren Spitälern umgehen, aktuell sind etwa 300 Personen in Österreich hospitalisiert und an die 70 auf den Intensivstationen. Wir haben etwa 2 200 Intensivbetten, also da gibt es noch genügend Kapazität, sie sind natürlich auch mit anderen Krankheiten belegt. Was für uns natürlich die größte Herausforderung derzeit ist, das ist die wirtschaftliche Frage. Und durch die Reisewarnungen der anderen Länder ist es natürlich für die Wirtschaft schwierig, es ist schwierig für die einzelnen Leute ins Ausland zu fahren, die müssen in Quarantäne gehen, müssen sich testen lassen. Die wirtschaftlichen Beziehungen sind schwerst eingeschränkt, sodass keine Idee besteht, einen zweiten Shutdown zu organisieren, auch nicht, aber das liegt natürlich im Ermessen der Bundesländer, wie sie mit dieser Ampellösung dann per se umgehen, wie weit sie in das schulische Leben vor Ort eingreifen. Es ist sehr sensibel, es ist auch nicht überall gleich. Das ist auch der Föderalismus, der letzten Endes durch die Verfassung begründet ist, manche haben andere Lösungen als die anderen parat, da gibt es keine grundsätzliche einheitliche Linie in dieser Frage, aber es gibt natürlich ein klares Bekenntnis, es nicht wieder zu diesem Shutdown kommen zu lassen.
Gibt es zur Verfassung noch eine Frage?
Frage: Am 21. März erfolgt ja die Kundmachung der Änderung des Telekommunikationsgesetzes, welche unumstrittenerweise verfassungswidrig war. Das hinterlässt den Eindruck, dass unsere Verfassung teilweise mehr als Richtlinie gilt und nicht als Grundlage unserer Gesetze. Wie kann in Zukunft sichergestellt werden, dass das von Regierungen nicht ausgenützt wird, um beispielsweise verfassungswidrige Gesetze mit fragwürdigen Interessen umzusetzen?
Wolfgang Sobotka: Herr Dr. Herbst.
Christoph Herbst: Das ist eine Frage der politischen Kultur. In der Regel würde ich einmal sagen, soweit ich das beobachten kann, versucht der Gesetzgeber schon, sich an die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und auch die unionsrechtlichen Bestimmungen zu halten. Es mag vereinzelt Situationen geben, in denen man mit Absicht die Sachen ausreizt und vielleicht auch Grenzen ausreizt, vielleicht sogar überschreitet, weil es politisch als opportun angesehen wird.
Elisabeth Lovrek: Sie haben insofern Glück – weil Sie ein junger Mensch sind –, denn früher war ja die Praxis in Koalitionsregierungen, die eine Zweidrittelmehrheit gehabt haben, dass sie durchaus, wenn der Verfassungsgerichtshof gefunden hat, ein Gesetz ist verfassungswidrig und ist aufzuheben, es als Verfassungsgesetz neu beschlossen haben. Dieser Praxis ist jedenfalls nach den momentanen politischen Verhältnissen der Boden entzogen.
Frage: Ich habe eine Frage, aber muss zugeben, ich bin kein Experte des Verfassungsgesetzes. Ich glaube, Sie kennen das Habsburgergesetz, in dem steht, dass die Habsburger enteignet werden müssen – also das Vermögen –, die Habsburger müssen enteignet werden und müssen aus dem Land ausgewiesen werden. Sie haben gesagt, dass Verfassungsgesetze Grundrechte sind: Inwiefern ist das Habsburgergesetz ein Grundrecht?
Christoph Herbst: Gerade in diesen Themen bin ich nicht so bewandert. Ich glaube nicht, dass es ein Verfassungsgesetz ist, soweit ich weiß, ist es ein einfaches Gesetz. Das muss man vor einem bestimmten historischen Hintergrund sehen, diese Gesetze.
Wolfgang Sobotka: Es gilt auch heute nicht mehr.
Christoph Herbst: Aber die sind vor einem bestimmten verfassungsrechtlichen Hintergrund erlassen worden. Man hatte die Idee, ab 1920 die Monarchie zu beenden. Jedenfalls war das dann der gemeinsame Wille der Politik, die Christlichsozialen wollten eigentlich noch die Monarchie nach 1918eine Zeit lang weiterführen, aber man hat sich dann doch geeinigt, die Republik auszurufen, und man hat offenbar so eine Angst gehabt, dass die Habsburger doch auf irgendeine Weise in österreichischen Staat eingreifen könnten, sodass man diese Habsburgergesetze erlassen hat, das hat ja verschiedene Sachen beinhaltet: Personen aus dem Hause Habsburg durften nicht zum Bundespräsidenten gewählt werden, sie sind enteignet worden, man durfte auch den Adelstitel nicht mehr führen, also, das Ganze war eigentlich ein Bouquet an antimonarchistischen Regelungen. Ob so eine Tendenz von vornherein richtig ist, indem man glaubt, verschiedene Sachen ausmerzen zu können, indem man die Sachen verbietet, ist eine grundsätzliche rechtspolitische Frage, aber ich glaube, das war die dahinterstehende Idee, das ja nur fernzuhalten und ganz klar zu signalisieren: Wir haben überhaupt nichts mehr mit diesen ursprünglichen monarchischen Strukturen zu tun.
Wolfgang Sobotka: Und es gab natürlich in der Ersten Republik keinen Europäischen Menschengerichtshof und auch keinen EuGH und daher auch keine weitere Instanz so ein Recht in Frage zu stellen und dementsprechend einen Rekurs einzulegen.
Nächste Frage. – Bitte.
Frage: Heute gibt es ja diese ganzen Instanzen und deswegen interessiert mich, warum man dann keine freundlichen Nasenlöcher gegenüber einer Aufhebung des Verbotes von Aristokratie macht?
Christoph Herbst: Ich glaube, man muss jetzt unterscheiden, um welche Sachen es geht. Das eine sind die Enteignungsmaßnahmen, das andere sind Regelungen, dass jemand nicht Bundespräsident werden kann. Andere Sachen sind wieder die Führung des Adelstitels in Österreich, was verboten ist. Ich glaube, man muss diese drei Sphären auseinanderhalten.
Elisabeth Lovrek: Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das Adelsaufhebungsgesetz in irgendein Grundrecht oder ein Unionsrecht eingreift, also das, glaube ich, obliegt wirklich dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers.
Christoph Herbst: Desgleichen muss man sagen: Wer zum Bundespräsidenten gewählt werden kann oder nicht ist eine im Wesentlichen österreichische Frage, die auch nicht vom Unionsrecht erfasst wird. Übrig bleiben sicherlich die Enteignungsregelungen, über die kann man aus menschenrechtlicher Sicht lange diskutieren.
Wolfgang Sobotka: Die Eigentumsfragen sind aber auch thematisiert worden, und da gibt es auch gerichtlich anhängige Verfahren – jetzt nicht mehr, aber es gab sie –, und es ist auch hier zum Teil unterschiedlich entschieden worden.
Nächste Frage?
Ich selbst hätte noch eine Frage, die angeklungen ist am Anfang: Unsere Verfassung bringt also nicht den ganzen Grundrechtskatalog mit sich, das andere Mal ist sie vielleicht sehr spezifisch ausgeformt. Was würden Sie beide sich wünschen, was der Gesetzgeber in der Zukunft zu tun hätte? Sie haben gesagt, vom Verfassungskonvent aus 2000 - - Da war zwar eine große Diskussionsrunde, aber das hat nicht die politische Mehrheit gefunden; es braucht dann immer eine Zweidrittelmehrheit. Sie haben gesagt, jetzt ist es nicht mehr so leicht, weil es die politischen Verhältnisse für eine Zweidrittelmehrheit kaum mehr in dieser Form gibt. Was würden Sie sich trotzdem wünschen, was dringend notwendig wäre, was unsere Verfassung braucht, um das Leben der Menschen, die Grundrechte, die Abläufe und letzten Endes auch die einfache Handhabung oder Transparenz besser zu bewerkstelligen?
Elisabeth Lovrek: Ich hielte schon die Schaffung eines einheitlichen Grundrechtskatalogs für erstrebenswert, ich befürchte aber, dass das realpolitisch nicht wirklich durchsetzbar sein wird. Weniger grundrechtlich orientiert, aber doch denke ich, dass die berühmte Föderalismusreform, also das Verhältnis Bund/Länder schon thematisiert werden sollte. Auch da wusste man schon vor dem Verfassungskonvent, aber auch seither, dass da eigentlich Reformbedarf besteht, es ist aber leider noch jede Regierung daran politisch gescheitert, aber das würde ich mir wünschen. Ich befürchte, ich werde das nicht mehr erleben, aber einige von Ihnen vielleicht doch noch.
Wolfgang Sobotka: Was wünscht sich ein Mitglied des Verfassungsgerichtshofes?
Christoph Herbst: Als Mitglied des Verfassungsgerichtshofes wünsche ich mir nichts.
Wolfgang Sobotka: Aber als Staatsbürger und als Jurist?
Christoph Herbst: Als Staatsbürger würde ich mir wünschen, dass manche Verflechtungen, die es in der österreichischen Verwaltung gibt, beseitigt werden. Ich bin an sich sehr stark für den Föderalismus, ich finde, er hat sehr viele Vorteile, weil diese Diskussion zwischen Zentralismus und Föderalismus in vielfacher Hinsicht zu einfach geführt wird. Zu sagen, wir brauchen keine Bundesländer, ist meines Erachtens eine Simplifizierung, die an der Sache vorbeigeht, aber es gibt eine Reihe von Bereichen, in denen so verflochtene Strukturen sind, dass Reformen nicht möglich sind, zum Beispiel im Bereich der Gesundheit. Alle Sachen, die mit Gesundheit im weitesten Sinn zu tun haben, sind so verstrickt zwischen Bund und Land – ein normales Unternehmen könnte so nicht leben! Das ist in Wahrheit eine Situation, die ganz unbefriedigend ist, und ich glaube, wenn jeder Politiker das einmal genau für sich beachtet, wird er sagen, dass da sehr viel Geld auf der Straße bleibt, dort geht es wirklich um ganz gewaltige finanzielle Quellen, also, das ist etwas, was man wirklich längst hätte angehen müssen, aber als gelernter Österreicher bin ich da sehr pessimistisch.
Wolfgang Sobotka: Ich darf mich ganz, ganz herzlich bedanken, zuerst bei unseren beiden Experten. Sie haben vielleicht jetzt auch einen Einblick - - Bitte, noch eine Frage.
Frage: Ich habe eine Frage, weil Sie die ganze Zeit von Grundrechten sprechen, es ist eine allgemeine Frage: Sind für Sie alle Gesetze, die in der Verfassung zu finden sind, Grundrechte?
Christoph Herbst: Nein! Das ist ja das Besondere in der Verfassung. Wir haben vorhin über das Bundesverfassungsgesetz gesprochen, das ist jenes Gesetz, mit dem Kelsen eigentlich immer wieder assoziiert wird. Wenn wir diese 152 – oder wie viele auch immer – Artikel haben, stehen davon, wenn ich jetzt ganz schnell nachdenke, im B-VG vielleicht fünf, sechs Grundrechte drinnen. Die meisten Grundrechte sind eigentlich in einem separaten Gesetz. Die Frau Präsidentin hat schon gesagt, es gibt das sogenannte Staatsgrundgesetz aus dem Jahr 1867, das wurde durch das Bundesverfassungsgesetz rezipiert, diese Bestimmungen aus der Monarchie gelten weiter, aber im Bundesverfassungsgesetz selber sind die meisten Bestimmungen sogenanntes objektives Verfassungsrecht, auf das wir alle uns nicht als Grundrechte berufen können. Und das Besondere an Grundrechten ist ja, dass ich das beim Verfassungsgerichtshof, aber auch im Strafrecht vor allem beim OGH geltend machen kann. Also, man muss sagen, im Bundesverfassungsgesetz selbst, von dem wir ja hier reden, weil es 100 Jahre alt wird, gibt es ganz wenige Verfassungsbestimmungen, die als Grundrechtsbestimmungen angesehen werden.
Wolfgang Sobotka: Aber letzten Endes geht es um die Struktur, um diese Grundrechte dann bei den Gerichten einklagen zu können oder einfordern zu können – und sie schützen. Man muss jetzt relativieren: Die Verfassung schützt unsere Grundrechte, ich glaube, das ist auch ein wesentlicher Punkt.
Christoph Herbst: Man muss aufpassen: Wenn man von Grundrechten redet, muss man einmal schauen, es wird etwas garantiert, man hat bestimmte Rechte, aber ich habe als Bürger relativ wenig von Rechten, wenn ich sie nicht entsprechend durchsetzen kann. Insofern sind die Regelungen in der Verfassung - - die sind wirklich im Bundesverfassungsgesetz verankert, ich habe die Gerichtsbarkeit geregelt in den Artikeln 82 ff und dann gibt es die Regelungen über den Verfassungsgerichtshof zum Beispiel: Artikel 137 ff. Also die Rechtschutzeinrichtungen werden wirklich in der Bundesverfassung gemacht, also, die Institutionen, bei denen ich das Recht suchen kann. Das materielle Recht, die Grundrechte als solche sind größtenteils außerhalb dieses Bundesverfassungsgesetzes geregelt.
Wolfgang Sobotka: Ich darf noch einmal herzlich den beiden Experten am Podium danken, ich darf Ihnen danken fürs Mitdiskutieren an einem bestimmten Ort, der Hans Kelsen sehr vertraut gewesen ist. Es ist auf der einen Seite eine gute Tradition, dass wir vieles übernommen haben, aber es ist auch notwendig, es immer wieder anzupassen. Der Mut zur Anpassung ist dann immer am größten, wenn auf der anderen Seite auch der Druck steigt, und das ist ein ehernes politisches Gesetz. Es wird an Ihrer Generation liegen, die nächsten Entwürfe einzubringen, dann, wenn Sie in der gesetzgebenden Körperschaft letzten Endes Ihre Arbeit übernehmen oder wenn Sie als Bürger Ihr Wahlrecht ausüben beziehungsweise, wenn Sie sich in den politischen Prozess einbringen, dazu darf ich Sie nur ermuntern. – Vielen herzlichen Dank! (Beifall.)