Transkript
der Veranstaltung:
Literaturfestival „Österreich liest. Treffpunkt Bibliothek“
Hans Kelsen – ein Leben für das Recht und die Demokratie
Harald Dossi (Parlamentsdirektor): Sehr geehrte Damen und Herren! Ich darf Sie hier im Palais Epstein des österreichischen Parlaments begrüßen und freue mich, dass ich Sie zum heurigen Beitrag der Parlamentsbibliothek zum Literaturfestival „Österreich liest“ begrüßen kann, das ja heuer bereits zum 15. Mal stattfindet und an dem sich seit mehreren Jahren auch die Parlamentsdirektion und die Parlamentsbibliothek beteiligen.
Wir machen das heute das erste Mal auf diese Art und Weise, aus Gründen, die ich nicht näher erläutern muss, gibt uns aber auch eine zusätzliche Möglichkeit, Sie auf eine ganz besondere Art und Weise zu erreichen, gibt auch der Parlamentsbibliothek eine Bühne, zu zeigen, dass über das Fachpublikum hinaus, über die Abgeordneten, die Mandatare und Mandatarinnen hinaus die Parlamentsbibliothek einen guten Beitrag leisten kann.
Besuchen Sie uns bitte bei Gelegenheit! Sie werden sehen, wir sitzen hier auf einem Bestand von sehr gediegener staatsrechtlicher, politikwissenschaftlicher, wirtschaftswissenschaftlicher Literatur, die seit rund 150 Jahren von unseren Bibliothekaren und Bibliothekarinnen und Archivaren und Archivarinnen mit Fleiß und mit Umsicht zusammengetragen wurde.
Zum heutigen Tag haben wir uns auch aus naheliegenden Gründen, nämlich dem 100-jährigen Jubiläum der Beschlussfassung des Bundes-Verfassungsgesetzes, entschlossen, dazu ein Fachgespräch zu organisieren und anzubieten. Ich freue mich, dass wir für dieses Fachgespräch einerseits Herrn Prof. Thomas Olechowski gewinnen konnten, der als Professor am Institut für Verfassungsrecht und Rechtsgeschichte und gleichzeitig auch Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Instituts allseits bekannt ist und umso bekannter, weil er heuer die erste wirklich umfassende Biografie zum Leben und zum Werk Hans Kelsens verfasst hat. Herzlich willkommen, Herr Professor und danke, dass Sie sich zur Verfügung gestellt haben.
Der Gesprächspartner von Prof. Olechowski wird heute Herr Dr. Christoph Konrath sein, der hier in der Parlamentsdirektion die Abteilung zur parlamentswissenschaftlichen Grundsatzarbeit leitet, in vielfältiger Weise den parlamentarischen Betrieb und auch die Parlamentsdirektion unterstützt, in enger Verzahnung mit der Wissenschaft, und eines dieser Projekte ist eben das heutige Fachgespräch, das sich Hans Kelsen widmen wird, der Fragestellung, inwieweit die politischen Ereignisse, die politischen Turbulenzen am Ende der Monarchie, am Beginn der ersten Republik das wissenschaftliche Arbeiten von Hans Kelsen geprägt hat und auf der anderen Seite natürlich auch naheliegenderweise die Fragestellung, inwieweit Hans Kelsen als Wissenschaftler auch im Bereich der Demokratievermittlung, der politischen Bildung eine Rolle gespielt hat. Ich glaube, wir können uns alle auf ein interessantes Fachgespräch freuen und ich möchte gleich an die beiden Herren übergeben und wünsche auch Ihnen ein interessantes Gespräch. Vielen Dank.
Christoph Konrath (Leiter der Abteilung Parlamentswissenschaftliche Grundsatzarbeit in der Parlamentsdirektion): Herr Prof. Olechowski, im Moment hören wir sehr viel über die Vereinigten Staaten, die Präsidentenwahlen stehen bevor und es geht darum, eine neue Richterin vielleicht noch für den Supreme Court zu bestellen. Dabei kommt man immer wieder zurück auf den Beginn der Verfassung der Vereinigten Staaten, die ist schon sehr alt, und viele Leute kennen dort und sagen sofort auf die Namen, die an der Verfassungsgebung beteiligt waren.
Wenn wir auf Österreich schauen, dann kennt man kaum jemanden, der 1920 daran beteiligt war, und der einzige Name, der vielleicht kommt, aber vielleicht auch erst seit einiger Zeit, ist Hans Kelsen. Wer war Hans Kelsen? Ist er der Vater unserer Bundesverfassung?
Thomas Olechowski (Universitätsprofessor am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien): Ja, es stimmt, die österreichische Verfassungsentstehung ist viel weniger bekannt als die amerikanische, die wird nicht so zelebriert. Hans Kelsen ist der einzige Name, der übriggeblieben ist, der manchmal auch in Lehrbüchern erwähnt wird.
Er war natürlich nicht der Einzige, der mitgearbeitet hat. Viele Politiker haben mitgewirkt, auf sozialdemokratischer Seite Karl Renner und Otto Bauer, auf christlich-sozialer Seite Michael Mayr und Ignaz Seipel, aber auch viele wissenschaftliche Mitarbeiter des parlamentarischen Dienstes, der Staatskanzlei, die mitgearbeitet haben, all diese haben ihren Anteil gehabt.
Dennoch, Kelsen ist derjenige, der die Verfassung am meisten geprägt hat. Kelsen ist derjenige, der die ersten Entwürfe erstellt hat, auf denen dann alle Arbeiten aufgebaut haben, und der auch danach diese weiteren Arbeiten immer begleitet hat, bis hin zur Beschlussfassung am 1. Oktober 1920.
Er war kein Politiker. Er hat seine Arbeit bewusst unpolitisch angesehen. Er ist der juristische Experte gewesen, auf den alle Politiker von allen Parteien zurückgekommen sind und gesagt haben, wie könnte man das am besten formulieren, wie sollte das gestaltet werden.
Daher bevorzuge ich eher die Bezeichnung Architekt der Bundesverfassung, der quasi den Wünschen seiner Bauherren entgegenkommt, indem er sagt, so könnte man ein Haus gestalten, aber wenn Sie es anders wollen, dann bitte gerne, mit Bundespräsident, ohne Bundespräsident, wie es eben die Politiker wünschen, aber diese Aufgabe, dass er, dass er eben diese vagen politischen Wünsche in ganz konkrete Normtexte gebracht hat, das ist vor allem sein Verdienst, und deshalb prägt, ist die Bundesverfassung noch heute geprägt eben vom Geist Hans Kelsens.
Christoph Konrath: Sie sind der Erste, der jetzt eine wirklich umfassende Biografie von Hans Kelsen geschrieben hat. Als die Bundesverfassung beraten und beschlossen wurde, war er gerade 39 Jahre alt. Wie kommt es, dass man in diesem Alter schon so eine wichtige Funktion übernimmt und, was ja noch dazukommt, schon auch international so bekannt ist wie Hans Kelsen in diesem Zeitpunkt, in einer Zeit, die gewiss nicht einfach war und ja zunächst vom Ersten Weltkrieg überschattet war?
Thomas Olechowski: Mit einem Wort: Glück. Das ist immer ein ganz wichtiger Faktor. Kelsen hat es nicht leicht gehabt, vor allem am Anfang seiner Karriere.
Er war jüdischer Herkunft. Er hat eine für damalige Zeiten ganz typische Karriere gemacht, wie es im Wiener Kleinbürgertum üblich war. Seine Eltern sind nach Wien gekommen, haben versucht, sich zu etablieren und gesagt, der älteste Sohn, der soll eine akademische Karriere machen.
Er hat dann Jus studiert, auf Wunsch eigentlich seiner Eltern, ihm selber hat das am Anfang nicht gefallen, und dann hat er sich eben versucht, eine akademische Karriere an der Universität zu machen, und da war immer auch seine jüdische Herkunft, die ihm ein Hindernis war, die es ihm nicht leicht gemacht hat, also sein Lehrer Bernatzik hat gesagt, der soll doch lieber Bankbeamter werden oder Rechtsanwalt, das wäre doch vielleicht besser für ihn.
Er hat sich nicht beirren lassen und sein Glück war eben der Erste Weltkrieg, wenn ich das so sagen darf, der Kriegsminister. Durch einen Zufall kommt er in persönlichen Kontakt mit dem Kriegsminister, er ist selber damals ein kleiner Beamter im Kriegsministerium, und der erkennt das Genie von Kelsen, macht ihn zu seinem persönlichen Berater, und damit steigt er plötzlich auf in den Kreis der Mächtigen.
Das ist das eine. das Zweite, dass Kelsen schon vor dem Krieg enge Kontakte gehabt hat zu den Sozialdemokraten, zu den führenden Köpfen des Austromarxismus, Karl Renner, Otto Bauer, Max Adler, und dass Renner also Kelsen schon seit über zehn Jahren gekannt hat, als er ihn 1918, relativ schnell nach Amtsübernahme, machte er ihn zu seinem persönlichen Berater.
Das geht also nahtlos über, die Beratung für den Kriegsminister, die Beratung für den Staatskanzler Renner. So kommt er dann hinein. Er hat also mit den Sozialdemokraten immer sympathisiert. Er war niemals Parteimitglied, aber er hat ähnliche politische Vorstellungen gehabt wie Karl Renner, und das war natürlich wichtig.
Christoph Konrath: Auf diese politischen Vorstellungen werden wir ein bisschen später noch zurückkommen. Vielleicht noch ganz kurz zum Werdegang von Hans Kelsen. Ich finde in Ihrer Biografie sehr interessant, was Sie über seine Schulzeit herausgefunden haben, und das klingt ja alles andere als nach einem Genie.
Thomas Olechowski: Ja, also er war ein mittelmäßiger Schüler, so wie Albert Einstein, aber bitte dennoch nicht zur Nachahmung empfohlen, dass man dann unbedingt ein Genie wird, wenn man schlechte Schulnoten bringt. Er war auch kein schlechter Schüler, er war einfach wirklich völlig unauffällig.
Begonnen hat er in der Evangelischen Volksschule am Karlsplatz, also das war schon einmal eine bessere Ausbildung, die sich ja die Eltern eben erhofft haben, und da berichtet dann ein Freund von ihm, bemerkenswerterweise, er selber hat nie darüber geredet, dass er in der vierten Klasse Volksschule keinen Vorzug gehabt hat, und daher hat er Schulgeld zahlen müssen, das relativ hoch war.
Das haben sich die Eltern nicht leisten können, haben ihn aus der Schule herausgenommen und die vierte Klasse Volksschule hat er in der öffentlichen Schule absolvieren müssen, das hat er immer als demütigend empfunden, der Zehnjährige, und hat das eben nicht groß an die Glocke gehängt.
Dann aber haben sich die Eltern aufgerafft, dass sie ihn in das Akademische Gymnasium bringen. Das Akademische Gymnasium, damals wie heute am Beethovenplatz, das das älteste Gymnasium von Wien ist und eine ganz besondere Elitenschule eigentlich damals war, wo eine ganze Reihe von berühmten Abgängern von Franz Grillparzer über Nestroy, Thomas Masaryk, die alle im Akademischen Gymnasium waren, und hier hat er dann die acht Jahre absolviert und im Sommer 1900 maturiert, auch da vollkommen durchschnittlich.
Ein Schulkollege von ihm war Ludwig von Mises, ein ganz berühmter Wirtschaftswissenschaftler, der lauter fantastische Noten gebracht hat, aber dazu hat es Kelsen nicht gebracht.
Christoph Konrath: Was auch noch in dieser Phase interessant ist, und Sie haben es ja schon erwähnt, es war auch immer ein bisschen Glück dabei. Sie beschreiben, wie schwierig es eigentlich war, sich in dieser Zeit akademisch zu etablieren, und wie viel Geduld man dafür brauchte und auch eigenen Aufwand außerhalb der Universität. Können Sie und das ein bisschen noch erklären oder vielleicht auch mit heute vergleichen? Würden es Hans Kelsen heute schaffen, als Wissenschaftler?
Thomas Olechowski: Es ist immer schwierig, und die Geduld braucht man wohl immer, und es ist sicherlich oft auch Glück auch dabei, dass man an der richtigen Stelle am richtigen Ort ist. Kelsen hat, wie gesagt, finanziell nicht unbedingt die besten Voraussetzungen mitgebracht. Der väterliche Betrieb ist mal besser, mal schlechter gelaufen.
1905, also ungefähr zur Zeit, als er sein Studium abschließt, erkrankt sein Vater schwer, wird arbeitsunfähig und seine Firma, eine kleine Lampenfabrik, muss dann zwei Jahre später zumachen. Das heißt, er hat sich nur schwer über Wasser halten können. Er hat Nachhilfestunden gegeben. In der Theresianischen Akademie hat er dann unterrichtet, also verschiedene Jobs, wie man heute sagen würde, hat er annehmen müssen und dann auch bemerkt, wenn er dauernd hier arbeitet, er wird niemals Zeit haben, um sein großes Buch zu schreiben.
Er hat während des Studiums schon diesen Entschluss gefasst, ich will mich für Rechtsphilosophie habilitieren. Habilitieren heißt die Lehrbefugnis erhalten, und dafür braucht man ein wichtiges Buch, das man schreiben muss. Das ist auch heute eigentlich Voraussetzung, um ein Dozent zu werden, an der Universität Wien die Habilitation mit einer Habilitationsschrift.
Sein Buch hat er einfach kühn genannt „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“, quasi er schreibt über alles, was wichtig ist, und hat sich wirklich am Anfang vorgenommen, er will einfach die gesamte Staatsrechtslehre völlig umkrempeln, und hat dabei bemerkt, er kann das nicht, wenn er nicht irgendwo ein Stipendium bekommt, hat sich um Stipendien bemüht.
Das ist heute genau so, dass man sich bewerben muss und dann eben abgelehnt wird, und dann hat er gesagt, offenbar war er damals der einzige Bewerber und hat dann eben ein großes Stipendium bekommen. Das hat ihm dann die Arbeit erleichtert. Er ist nach Heidelberg gefahren zu einem ganz berühmten Professor damals, Georg Jellinek, hat ihn gehört, und seine Schriften waren in vielen Teilen eine Auseinandersetzung mit diesem Georg Jellinek.
Christoph Konrath: Sie haben jetzt gesagt Umkrempeln. Nach 1920 beginnt Hans Kelsen wirklich, stark wahrgenommen zu werden und krempelt sehr vieles um von dem, was man bisher so als Fixannahmen hatte über Recht und Staat. Was hat er da gemacht? Wie ist ihm das gelungen? Was war sein Weg dahin?
Thomas Olechowski: Sein Weg war vor allem eine ganz neue Methode, eine damals revolutionäre Methode, die transzendentale Methode, wie er sie genannt hat, wo er vollkommen beiseitegeschoben hat tradierte Lehrmeinungen, also alles, was man bisher sich gedacht hat über den Staat, über das Wesen des Rechtsstaates, hat er gesagt, fangen wir doch mal von vorn an, analysieren wir einfach das Recht, wie es ist, und versuchen wir, das Recht zu trennen von allem, was rundherum ist, von aller Psychologie und von aller Politik, versuchen wir, das Recht rein zu betrachten.
Daher reine Rechtslehre ist dann diese Lehre, die er gemacht hat. Zum Beispiel, ein ganz einfaches Beispiel, wenn ich in die Straßenbahn einsteige, dann heißt das theoretisch, ich schließe einen Werkvertrag ab mit dem Straßenbahnunternehmen. Das Straßenbahnunternehmen soll mich befördern, auch wenn ich das eigentlich gar nicht will, einfach, die Lehrmeinung ist einfach, wenn ich einsteige, habe ich damit quasi zum Ausdruck gebracht, ich will befördert werden.
Und dieses Wollen, hat Kelsen gesagt, das ist ja nicht psychologisches Wollen, auch wenn er sagt, ich will nicht befördert werden, ja, aber die Rechtsordnung suggeriert mir das, ja, er sagt, das Wollen im juristischen Sinn ist nicht ein Wollen im psychologischen Sinn, also da sieht man, wie Recht und Psychologie immer durcheinandergemischt wird, ja, und was man will.
Auch der Vorsatz im Strafrecht, das ist jetzt nicht der psychologische Vorsatz, ja, sondern das ist eine eigene juristische Kategorie. Da hat er versucht, eben das zu trennen, und das hat einfach plötzlich vielen eingeleuchtet, ja, eigentlich muss man das Recht so angehen, und plötzlich hat man viele ganz übliche Sachen, was ist ein Recht, was ist eine Person, Grundbegriffe der Rechtswissenschaft hat man plötzlich begonnen, ganz anders anzuschauen.
Christoph Konrath: Hat ein solcher Zugang etwas mit Wien zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu tun? Hat das mit Österreich zu tun?
Thomas Olechowski: Ganz sicher. Es gibt ein berühmtes Zitat von Kelsen, wo er sagt, dass dieser Vielvölkerstaat, und Wien ist ja der Schmelztiegel der Völker gewesen damals wie heute, wo es so viele Nationen, so viele Religionen, so viel Kulturen gibt.
Das erweist es als völlig unmöglich, den Staat als irgendetwas Natürliches, Vorgegebenes zu sehen. Der Staat als Nation oder Staat als Religionsgemeinschaft. Das ist für damals, im Jahr 1900 war das so das etablierte Motto für Italien, für Deutschland, das sind Nationalstaaten. Jede Nation braucht einen Staat.
Die Habsburgermonarchie hat das nicht gehabt. Die Habsburgermonarchie, in der leben Deutsche, Magyaren, Tschechen, Polen zusammen, katholisch, evangelisch, es gibt nichts gemeinsam. Was ist das Gemeinsame? Das Gemeinsame ist nur das Recht, die Rechtsordnung, die den Staat zusammenhält, und drum ist er eben auf eine seiner berühmtesten Thesen gekommen, der Staat ist nichts anderes als die Rechtsordnung selbst, und da sagt er auch definitiv, das ist ja wahrscheinlich auch befördert worden durch den Staat der Habsburgermonarchie, der Staat, der ihm am nächsten lag, wie er sagte.
Christoph Konrath: Wir hat man das denn damals aufgefasst, diese Ideen? Hat man gesagt, das ist es jetzt, das haben wir eigentlich so was haben wir vermisst, oder ist er auf Widerstand gestoßen?
Thomas Olechowski: Er hat eine ganze Reihe von ganz energischen Gegnern gehabt, vor allem natürlich Nationalisten, später natürlich auch Nationalsozialisten, aber sehr viele aus vor allem konservativen Milieu, die sich gewehrt haben gegen solche Vorstellungen, gesagt haben, das ist nihilistisch, das ist quasi, das zersetzt quasi unsere Hochachtung vor dem Staat, wenn man den Staat so dekonstruiert, und da ist er von Beginn an angefeindet worden, für seine Thesen, und das ist dann in einem gegangen, ein Kampf gegen seine Lehre, ein Kampf gegen seine jüdische Herkunft, auch ein Kampf gegen sozialdemokratische Ideen, das ist fast nicht zu unterscheiden eigentlich, woher diese Gegner kommen, die kämpfen quasi an allen Fronten gegen Kelsen.
Christoph Konrath: Sie haben aber vorhin Wörter verwendet wie transzendental Sie haben gesprochen, dass er Konzepte des Rechts erschüttert, hinterfragt hat. Ist das nicht alles etwas sehr Kompliziertes? Hat das, wie kann das eigentlich so eine Breitenwirkung entfalten? Wenn ich mich jetzt recht erinnere, gibt es in Ihrem Buch sogar eine Karikatur des Hans Kelsen. Ich könnte mir nicht vorstellen, dass heute ein Universitätsprofessor in Österreich so zum Gegenstand einer Karikatur wird, dass man den so breit kennt.
Thomas Olechowski: Das stimmt. Seine große Habilitationsschrift, die ich vorhin erwähnt habe, die Hauptprobleme, sind am Anfang auf gar kein Echo gestoßen. Wer liest schon ein 1 000 Seiten starkes Buch, ja? So genial es auch sein mag, am Anfang haben viele nicht begriffen, was es ist.
Erst dann, als Kelsen dann ganz radikale Schlussfolgerungen gezogen hat, als Kelsen dann ganz konkret als Verfassungsrichter gewirkt hat, hat man gesehen, welche Folgen es hat, und jetzt darf ich wieder, ich habe bereits den Vergleich mit Einstein gemacht, ich darf es wieder bringen, 1905, als Einstein seine spezielle Relativitätstheorie liefert und dann die allgemeine Relativitätstheorie nachschickt, hat auch kaum jemand gedacht, was das für ein revolutionärer Impuls ist.
Erst nach und nach, spätestens dann mit der Atombombe, hat man gesehen, wozu die Relativitätslehre imstande ist, wozu, welche praktischen Folgen das hat, also Kelsen ist nicht schon erst von mir, sondern schon von anderen mit dem Einstein der Relativitätslehre verglichen worden, der einfach unser tradiertes Bild der Physik völlig auf den Haufen wirft und später dann kommen dann diese ganzen radikalen Folgen.
Christoph Konrath: Hans Kelsen ist ja dann international sehr berühmt geworden. Sie haben jetzt gesagt, hier in Wien, auch im deutschen Sprachraum gab es diese große Kritik, dass er das, was man sehr lange gepflegt hatte, was wichtig war, erschüttert hat.
International kommt Kelsen später und heute auch immer wieder als einer vor, der nur das Recht sehen will, und nichts anderes. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat man ihm vorgehalten, dass man mit seinem Ansatz ja alles machen kann, dass auch die Nationalsozialisten an die Macht kommen konnten, dass es nirgendwo diese Werte gibt, die das Recht verteidigen soll, die Menschenrechte. Wie sehen Sie das, nachdem Sie sich so intensiv mit seinem Leben befasst haben?
Thomas Olechowski: Das ist eines der größten Missverständnisse bei Kelsen. Diese Trennung des Rechts von Politik, die Trennung des Rechts von der Moral bedeutet ja nicht, dass man sich nicht mit Politik oder mit Moral befassen soll. Man muss nur immer wissen, worüber rede ich? Rede ich jetzt über Recht oder rede ich über Politik oder rede ich über Moral oder Psychologie?
Also, er zielt auf Methodenreinheit ab, aber nicht dass man jetzt nicht mehr über Moral reden kann, dass man nicht über moralische Werte reden kann. Kelsen hat persönlich ganz hohe moralische Werte gehabt, er war ein überzeugter Anhänger der Demokratie. Er war ein Vorkämpfer für den Pazifismus, wenn ich das so formulieren darf, also da war er ganz stark.
Tatsächlich, wie Sie richtig sagen, hat man Kelsen vor allem später nur mehr sehr selektiv wahrgenommen. Man hat quasi nur diese Bereiche aus der Rechtslehre herausgenommen, die man bequem verwenden konnte, und seine ganzen demokratietheoretischen Schriften sind bis in die Achtzigerjahre hinein eigentlich fast völlig unbekannt geblieben oder in Vergessenheit geraten und er ist dann wiederentdeckt worden.
Mittlerweile sind neue Generationen von Wissenschaftlern da, die das Gesamtwerk von Kelsen beleuchten. Man merkt, man kann seine Rechtslehre nur gemeinsam mit der Demokratielehre verstehen, aber diese selektive Wahrnehmung hat die österreichische Rechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wirklich geprägt.
Christoph Konrath: Wie kam es dazu? Hat man den Kelsen da gebraucht als jemanden, den man so international herzeigen konnte, weil selbst in Österreich ja nicht so viel los war in den Fünfzigerjahren?
Thomas Olechowski: Wie soll man sagen? Das hängt sicherlich auch zusammen, dass auch an juristischen Fakultäten keine Politologie mehr gelehrt wird. Zu Zeiten von Kelsen hat es noch rechts- und staatswissenschaftliche Fakultäten gegeben. das ist 1975 getrennt worden und das hat sicherlich dazu beigetragen, dass an juristischen Fakultäten kaum noch Staatswissenschaften, oder heute würde man sagen Politologie, gelehrt werden.
Also das ist ein gewisser Trend damals gewesen, weil die Zeit damals das begünstigt hat, dass man sich auch bewusst nicht darum kümmern wollte, auch diese Vorstellung, Recht könnte unpolitisch sein, Recht ist niemals unpolitisch. Das hat auch Kelsen nie so behauptet. Recht hat immer einen politischen Impetus, bestimmte Werthaltungen, die durch das Recht verwirklicht werden.
Das hat er ganz klar erkannt. Es ist eben bequem, wenn man nur einen Teil herausnimmt, das, was man braucht, und das andere dann verwirft.
Christoph Konrath: Gehen wir vielleicht noch einmal zurück in die Zeit, als die Bundesverfassung geschrieben wurde. Ich denke, was hier auch interessant ist und was Sie in Ihrem Buch sehr schön beschreiben, ist ja, dass Hans Kelsen nicht jetzt nur ein Theoretiker war, sondern dass der ganz offenbar ganz gut mit vielen Leuten reden konnte, dass er auch schwierige Dinge sehr gut erklären konnte, und dass er ja selbst auch in Zeitungen geschrieben hat oder Bücher geschrieben hat, Sie haben jetzt seine Bücher über Demokratie angesprochen, die auch heute noch sehr gut zu lesen sind und wo man nicht jetzt die großen Vorkenntnisse braucht.
Wie entwickelt sich das? Ist das Talent?
Thomas Olechowski: Das ist Talent, ja. Kelsen war ein begnadeter Redner. Wir haben nur ganz wenige Tonaufzeichnungen von ihm. Man kann das nur erahnen, wie toll er auf das Publikum gewirkt haben mag. Er hat in der Volksbildung gearbeitet, also im Volksheim am Ludo-Hartmann-Platz und auch an anderen Orten, wo er Kurse gegeben hat, auch den einfachen Arbeiterinnen und Arbeitern über Staatslehre erzählt hat, und da gibt es einen sehr schönen Beleg, wo eine Telefonistin – also damals hat man ja beim Telefon eine Verbindung anrufen müssen, den Beruf gibt es ja fast nicht mehr –, die Telefonistin Hilda Schärf, die während des Krieges einen Kurs bei Herrn Kelsen besucht, die ihrem Ehemann schreibt, dass dieser Kelsen ein ganz großartiger Mann, der ist noch ganz unbekannt, und der erklärt die einfachsten, die schwierigsten Sachen erklärt er auf ganz einfache Art und Weise. Sie freut sich schon auf den nächsten Besuch bei diesem Herrn Kelsen.
Und der Ehemann von dieser Hilda Schärf, das war ein gewisser Adolf Schärf, der damals eben im Krieg war, und 50 Jahre später war er Bundespräsident der Republik Österreich und hat noch diesen Brief seiner verstorbenen Frau ausgegraben und Kelsen dann den Brief wieder zurückgegeben und ihm gesagt, im Nachhinein noch vielen Dank für das, was Sie meiner Frau gemacht haben.
Christoph Konrath: Das heißt aber auch, dass Hans Kelsen sich bemüht hat, das, was ihm wichtig war, das, was es gebraucht hat für eine Demokratie, zu vermitteln, zu erklären. Können Sie uns vielleicht ganz kurz erklären, wie Hans Kelsen über die Demokratie gedacht hat?
Thomas Olechowski: Kelsen war ein Realist. Er hat nicht im Elfenbeinturm gearbeitet. Das haben Sie schon herausgehoben. Er hat die Praxis der Demokratie durchaus mit Interesse mitverfolgt und mitgesehen. Man muss sich vorstellen, im Jahr 1920, als unsere Bundesverfassung entsteht, da blicken alle nach Russland. In Russland war 1917 die Oktoberrevolution. Lenin baut die Sowjetunion auf, ein Staat nach völlig neuen Vorstellungen, der am Anfang auch durchaus einige demokratische Elemente enthält.
Das Rätesystem, also das Wort Sowjet ist ja das russische Wort für Rat, das ist ein Alternativmodell für unseren westlichen Parlamentarismus. Kelsen hat das mit großem Interesse verfolgt und gesagt, das ist eigentlich eine wahnsinnig demokratische Idee, dass quasi nicht nur im Staat, sondern in jedem Betrieb, in jedem Dorf, überall werden Räte gewählt und bringen so den Willen des Volkes zum Ausdruck, und da hat er gleich gesagt, das kann ja nicht funktionieren, das wird ja in einer Katastrophe enden, und recht hat er gehabt, hat in einer Katastrophe geendet und die Sowjetunion hat sich aber dann gewandelt hin zur Diktatur.
Also Kelsen hat von Anfang an immer die Realität mitverfolgt, hat auch was die österreichische Verfassung betrifft, am Anfang große Skepsis gehabt, ist ein Bundespräsident wirklich geeignet, ist Gewaltenteilung wirklich mit Demokratie vereinbar, wenn alles Recht vom Volk ausgeht, was soll dann geteilt werden, ist so eine Frage gewesen, und dann, neun Jahre später, 1929, schreibt er dann wieder über die Demokratie und sagt, na ja, offenbar hat sich’s bewährt, also er hat immer Theorie und Praxis miteinander verbunden. Das zeichnet seine Demokratielehre aus, dass sie sehr praxisbezogen ist.
Christoph Konrath: Er ist auch dann zu einem der größten Verteidiger der Demokratie in Österreich, in Deutschland durchaus wohl weiter ausstrahlend auf Europa geworden, das hat man lange gar nicht so wahrgenommen, und da nimmt er doch auch sehr, sehr klar Stellung für die Demokratie.
Thomas Olechowski: Ja. Die Zwanzigerjahre sind kein guter Boden für die Demokratie. Wirtschaftskrisen, Arbeitslosigkeit, Inflation, all das führt zu Aufschwung von radikalen Bewegungen, linksradikal und dann auch natürlich vor allem rechtsradikal, Beseitigung der Quatschbuden wird überall gefordert, eine wahre Demokratie soll geschaffen werden, was immer man sich drunter vorstellen mag, und Kelsen hat sich von Anfang an dagegengestellt.
Kelsen hat gesagt, es ist wahr, das Parlament ist eine veränderte Demokratie, also es ist nicht dasselbe, wenn das Volk direkt Gesetze beschließen würde, das Parlament verändert das, das ist eine Folge der Arbeitsteilung, hat er ganz nüchtern gesagt. Der einfache Bürger kann nicht über alle Gesetze Bescheid wissen. Er muss das Menschen anvertrauen, denen er vertraut, daher auch seine ganze Betonung des Wahlrechts, das war ihm ganz wichtig, aber zugleich hat er gesagt, Parlamentarismus ist die einzig mögliche Form, wie Demokratie verwirklicht werden kann, in der Realität, und das hat er dann verteidigt gegen Ideen eines Ständeparlamentes, wie es dann eben auch in Österreich Wirklichkeit geworden ist.
Das hat er gegen die Parteiendiktaturen, gegen links und gegen rechts gemacht, und 1932, also in der Zeit, als die NSDAP in Deutschland schon Parlamentswahlen gewinnt und die Nazis schon kurz vor der völligen Machtübernahme sind, das war am 18. Jänner, am 30. Jänner 1933, pardon, da übernimmt der Hitler die Macht in Deutschland und da endet eben die Demokratie in Deutschland, und Kelsen, am Vorabend dieser Ereignisse schreibt dann eine Schrift, die heißt auch Verteidigung der Demokratie, wo er warnt vor dieser Entwicklung, und er sagt, die, die jetzt am meisten nach Beseitigung der Demokratie rufen, die sägen an ihrem eigenen Ast, die wissen eigentlich gar nicht, was sie tun, aber er hat auch sehr pessimistisch einbekannt, die Demokratie kann sich nicht wehren gegen solche antidemokratischen Sachen.
Er war noch ganz von der Überzeugung geprägt, wenn die Menschen einfach in Wahlen antidemokratische Parteien wählen, dann wird es einfach nicht mehr gehen, also man kann dann ab einem gewissen Punkt einfach nicht mehr demokratisch regieren und die Demokratie kann von ihrem Wesen sich nicht wehren, man kann dann nur hoffen, dass es eines Tages mal wieder anders werden wird, also er war kein Befürworter von dem, was wir heute als wehrhafte Demokratie bezeichnen würden.
Christoph Konrath: Er hat sich aber auch sehr starkgemacht für eine andere Einrichtung in der Demokratie, neben dem Parlament, für den Verfassungsgerichtshof. Was viele nicht wissen, ist, dass ja in Österreich 1919 schon das erste Gericht weltweit geschaffen wurde, das man als Verfassungsgerichtshof bezeichnet hat, und 1920 ein ganz neues Modell von Verfassungsgerichtsbarkeit, so wie sie uns heute selbstverständlich ist, hier entwickelt wurde.
Hans Kelsen war auch selbst Mitglied des Verfassungsgerichtshofes und hat später einmal in einer Auseinandersetzung teilgenommen, die heute vielleicht wenige kennen, aber wo noch das Schlagwort bekannt ist, wer soll der Hüter der Verfassung sein? Können Sie uns ein bisschen etwas über den Verfassungsgerichtshof und Hans Kelsen als Verfassungsrichter erzählen?
Thomas Olechowski: Der Verfassungsgerichtshof ist heute so selbstverständlich, dass man das gar nicht verstehen kann, die großen Einwände, die gemacht werden, wie gerade auch von Demokraten Einwände gemacht wurden gegen eine Verfassungsgerichtsbarkeit.
Der Verfassungsgerichtshof kontrolliert das Parlament. Er kontrolliert die Volksvertretung. Wenn das Parlament ein Gesetz beschließt, das verfassungswidrig ist, wird es vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben, und das ist für die damaligen Verhältnisse eine Sensation gewesen, die sehr kritisch beleuchtet worden ist. Woher nimmt der Verfassungsgerichtshof die demokratische Legitimation, um dem Parlament entgegenzutreten?
Hier hat Hand Kelsen, und da komme ich jetzt eben zurück auf die reine Rechtslehre, die so theoretisch auch sein mag, aber sie liefert die Begründung dafür, warum man sehr wohl ein Gericht schaffen kann, das natürlich nicht alles beseitigen kann, aber dort, wo ein Gesetz verfassungswidrig ist, dort, wo es diesen Rahmen der Verfassung sprengt, dort kann es aufhebend wirken, und das ist eine große Macht.
Da war Österreich wirklich einzigartig in seiner Art und das ist aber später dann, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg, vielfach nachgeahmt worden. Heute haben wir in fast allen europäischen Staaten eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die auf Kelsens Ideen, auf dem Modell des österreichischen Verfassungsgerichtshofs basiert.
Die Frage, die Sie gestellt haben, wer soll der Hüter der Verfassung sein, das ist eine Schrift von Hans Kelsen, wo er sich gegen einen damals besonders einflussreichen deutschen Staatsrechtlehrer Carl Schmitt wehrt. Carl Schmitt, wo man dazusagen muss, der ein Vordenker auch der Nationalsozialsten war, später auch NSDAP-Mitglied wurde, der sich ganz vehement dagegengestellt hat, dass ein Gericht das machen kann, und Carl Schmitt hat nur gesagt, eigentlich der Präsident, der Reichspräsident, der deutsche, der ist der Hüter der Verfassung, und Kelsen hat gesagt, das ist absurd.
Gerade der Präsident, und in Deutschland war er auch damals sehr mächtig, der Präsident, der muss kontrolliert werden vom Verfassungsgerichtshof, also jeder, der Macht hat, muss kontrolliert werden. Es kann nicht einer der Mächtigen selber diese Kontrolle ausüben. Das ist eine ganz berühmte Debatte, die sich Anfang der Dreißigerjahre, 1930/31, zuträgt zwischen Carl Schmitt und Hans Kelsen, die bis heute nachwirkt.
Christoph Konrath: All das, was wir jetzt gehört haben, über seine Ideen, über die Verteidigung der Demokratie, über den Verfassungsgerichtshof, das bleibt ja nicht ohne Auswirkungen auch auf sein persönliches Leben, und 1930 verlässt Hans Kelsen Wien. Wie kommt es dazu und wie geht das weiter?
Thomas Olechowski: Das hängt mit seiner Tätigkeit als Verfassungsrichter zusammen. Es war damals in Österreich ein riesengroßer politischer Streit, auch hier, das kann man sich heute schwer vorstellen, es hat das staatliche Recht die Frage, ob man sich scheiden lassen kann und ob man nach der Scheidung wieder heiraten kann, abhängig gemacht vom Religionsbekenntnis, und damals waren 80 Prozent der Bevölkerung katholisch und all die konnten sich nicht scheiden lassen, konnten daher nicht ein zweites Mal heiraten.
Jetzt hat es eine Gesetzeslücke gegeben und bestimmte Behörden haben ermöglicht, man kann doch noch zu Lebzeiten des Ehepartners die zweite Ehe eingehen, ein riesiger Streit, und wie immer, wie das in Österreich so ist, wenn die Politiker sich nicht einigen können, es war eine Pattsituation zwischen Rot und Schwarz, und wenn sich die Politiker nicht einigen können, bleibt es am Verfassungsgerichtshof hängen.
Der hat es ausbaden müssen und Kelsen war ein exponierter Richter, der sich dafür bekannt hat, es soll eine zweite Eheschließung möglich sein. Er hat sich auch öffentlich dazu bekannt, dass er dahintersteckt, hinter diesen Judikaten des Verfassungsgerichtshofs, und dafür ist er ganz persönlich angefeindet worden, also er ist in den Zeitungen beschimpft worden, wirklich Beschimpfung, also eine Schlagzeile lautet: Die Türken haben die Vielweiberei abgeschafft – der österreichische Verfassungsgerichtshof führt sie wieder ein!, also damals eine, also aus heutiger Sicht rassistisch und chauvinistisch, aber das war, dieser Slogan, ja, an seiner Hauswand Plakate angehängt, wo er als Haremshälter beschimpft wird, also wirkliche persönliche Anfeindung, die er da ertragen hat müssen, und das hat auch dazu geführt, zu einer großen Reform des Verfassungsgerichtshofs, wo er dann seine Stelle als Verfassungsrichter verloren hat, er war ursprünglich auf Lebenszeit bestellt, hat aber dann die Stelle verloren.
Das und dann auch diese ganzen antisemitischen Anfeindungen auch an der eigenen Universität von Fachkollegen, all das hat dazu geführt, dass er gesagt hat, jetzt reicht’s ihm, jetzt geht er nach Köln. In Köln hat er ein wunderbares Angebot bekommen von Konrad Adenauer. Konrad Adenauer, der spätere Bundeskanzler, war damals Bürgermeister von Köln, und hat Kelsen nach Köln holen wollen als Professor zu einem fantastischen Gehalt und da hat er dann einfach Ja gesagt, und das war vielleicht nicht so beabsichtigt, für immer ein Abschied.
Er ist zunächst mal, also in der NS-Zeit natürlich überhaupt nicht, später dann in den Fünfzigerjahren ist er dann für kurze Vortragsreisen nach Österreich gekommen, aber er ist nie wieder Professor in Österreich geworden, hat sich nie wieder dauerhaft in Österreich niedergelassen.
Christoph Konrath: Was ist denn nach 1933 passiert? Konnte er da in Köln bleiben?
Thomas Olechowski: Natürlich nicht, also da ist er wirklich vom Regen in die Traufe gekommen. 1933 übernimmt Hitler die Macht und Kelsen gehört zu den allerersten Professoren, die ihren Lehrstuhl verlieren aufgrund seiner jüdischen Herkunft, und dann, muss man sagen, geht es drunter und drüber zu. Er ist ja damals schon über 50 Jahre alt. Er rechnet eigentlich schon fix, dass er in ein paar Jahren in Pension gehen wird, und nun steht er vorm Nichts.
Seine ganzen Ersparnisse bleiben in Deutschland zurück, seine Pensionsansprüche werden von den Nazis ignoriert, er flieht nach Genf, kann dort lehren, in Genf, an einem Forschungsinstitut, versucht in Prag noch, in Prag gibt es ja noch eine deutsche Universität, zu lehren, dort wird er von den Studenten, bekommt er Morddrohungen, braucht Polizeischutz, es gibt Berichte, wie zwei Kriminalbeamte in seinem Hörsaal sitzen müssen, um aufzupassen, und 1940 dann, schon im Weltkrieg, als auch die deutschen Frankreich überfallen und man rechnen muss, es wird auch die Schweiz demnächst von Hitler überfallen, flieht er dann nach Amerika.
Er muss sich völlig neue eine Existenz schaffen. Es war schon nach Genf eine Umstellung, dass er auf Französisch plötzlich unterrichten muss, das ging noch. Englisch hat er überhaupt nicht können, das hat er erlernen müssen, und kommt mit fast 60 Jahren nach Amerika, muss dort völlig von vorn beginnen, bekommt nicht sofort einen Lehrstuhl, er ist sehr enttäuscht.
Er ist berühmt, aber gleichzeitig, es kommen Hunderte Emigranten nach Amerika, alle wollen einen Lehrstuhl, alle wollen unterrichten, und seine Lehre ist so irrelevant, sagen die Amerikaner, dieses theoretische Gefasel von reiner Rechtslehre, das brauchen wir doch gar nicht, und nur mit viel, viel Glück kann er sich dort als nützlich etablieren, also Usability, und 1945 wird er dann Professor in Berkeley, in Kalifornien, kann dort auch dann bis zu seiner Pensionierung mit 70 Jahren 1952 kann er dann dort unterrichten, also ein völliger Umbruch in seiner Entwicklung.
Christoph Konrath: Ich habe das in Ihrem Buch wahnsinnig interessant gefunden, wie Hans Kelsen nach Amerika kommt und wie viel er dort arbeitet und schreibt. Sie haben ja auch gesagt, er ist schon 60 Jahre alt, er hat Englisch eigentlich erst vor Kurzem richtig gelernt und beginnt dort, wahnsinnig viel zu arbeiten, um sich noch einmal etablieren zu können.
Thomas Olechowski: Er ist gezwungen dazu. Es ist dieser unglaubliche Überlebenswille, der ihn auszeichnet. Er muss zeigen, er ist nützlich, er kann etwas leisten für die Amerikaner, es ist ihm klar, dass ihnen reine Rechtslehre viel zu theoretisch ist.
Die großen Themen sind damals der Zweite Weltkrieg, die Bestrafung der NS-Verbrecher, die Gründung einer umfassenden Gemeinschaft, also der UNO, das ist damals schon in Vorbereitung, und zu all diesen Themen arbeitet er.
Er wird auch da mit viel Glück, aber auch mit viel Bemühen, er bemüht sich auch darum, Berater für die US-Regierung, Berater für das Militär, und macht ganz konkrete Vorschläge, wie man auch bei den Nürnberger Prozessen, wie man das juristisch vorbereiten kann, wie diese UNO ausschauen sollte, und macht sich überall eben nützlich, möchte ich mal sagen, gibt Kriegskurse an der Universität Berkeley, wo quasi schnell, schnell müssen dort die Soldaten, die Offiziere ausgebildet werden, in deutschem Staatsrecht, über den Nationalsozialismus muss er plötzlich dort unterrichten, was ist Nationalsozialismus? Darüber wissen wir auch relativ wenig, was er dort gemacht hat. Es hat ihm auch keine Freude gemacht, darüber zu unterrichten, aber überall hat er sich bemüht, hier tätig zu werden.
Es entstehen eine Fülle von neuen Publikationen. Er wird plötzlich Völkerrechtler. Er ist der Erste, der die UNO-Charta kritisch kommentiert, das dickste Buch überhaupt von ihm ist der Kommentar zur UNO-Charta.
Christoph Konrath: Es war jetzt auch viel vom Antisemitismus die Rede, vom Nationalsozialismus, Kelsen auch als Verteidiger der Demokratie, hat er sich nach 1945 auch in einer Weise dazu geäußert, die dem entspricht, was er in den 1920er Jahren in Österreich geschrieben hat? Hat er zum Antisemitismus Stellung genommen?
Thomas Olechowski: Zum Antisemitismus hat er eigentlich nie explizit Stellung genommen. Kelsen war, das darf man nicht vergessen, kein religiöser Jude. Sein Vater war Freimaurer. Er ist also sicherlich nicht religiös erzogen worden. Er hat sich dann später aus pragmatischen Gründen taufen lassen. Es war, das ist einfach Tatsache, für Juden so gut wie unmöglich gewesen, in der Habsburgermonarchie schon, eine Stellung beim Staat zu bekommen, wenn sie an der jüdischen Religion festhalten.
Das war damals ganz üblich, dass ein Jusstudent kurz vor den letzten Prüfungen sich taufen lässt, und das hat auch Kelsen gemacht. Es war also keine religiöse Frage. Er hat auch sonst eigentlich kein großes Aufhebens davon gemacht, von seiner jüdischen Herkunft. Er ist nur immer wieder daran erinnert worden.
Wichtig, er hat seine Rechtslehre nicht um ein Jota geändert. Es gibt viele andere Juristen, die die Erfahrung mit den Nationalsozialisten zum Anlass genommen haben, dass sie sich ändern, berühmter Fall Gustav Radbruch. Gustav Radbruch, ein Rechtsphilosoph, Justizminister in der Weimarer Republik, der selber von den Nazis drangsaliert worden ist und der dann nach 1945 plötzlich Überlegungen macht, ein Recht, das von der Gerechtigkeit völlig getrennt ist, das sich nicht mehr bemüht, gerecht zu sein, ist kein Recht mehr.
Das ist diese berühmte Formel von Radbruch gewesen, die die Nachkriegszeit geprägt hat, also so etwas hat Kelsen nicht gemacht. Er hat das weit gemacht, es gibt so eine erschreckend kalte Passage in seinem Buch „Reine Rechtslehre“, wo er sagt, dass man in ein Gefängnis geworfen wird oder so, das muss nicht eine Folge einer Handlung sein. Man kann auch zum Beispiel wegen seiner Rasse in ein Konzentrationslager gesperrt werden. Das ist juristisch möglich, was natürlich nicht heißt, dass er das gutheißt in irgendeiner Weise, aber er sagt, rechtlich ist das alles möglich, das ist ein Beweis eben für seine Trennung von Recht und Moral. Er hat sich nicht veranlasst gefühlt, das als falsch zu befinden.
Er hat auch keine Vorwürfe gemacht. Er hat sich versöhnt mit ehemaligen Gefolgsleuten, die sich zu sehr den Nationalsozialisten angenähert haben. Er hat gesagt, er war ja selber auch kein Held damals, er ist geflohen, und er war dazu gezwungen, er macht niemandem einen Vorwurf, der in Österreich geblieben ist und sich versucht zu arrangieren.
Also er war immer auf Versöhnung ausgerichtet und war nicht einer, der mit dem Finger nachher irgendwohin gezeigt hat.
Christoph Konrath: Aber dennoch ist er nicht nach Österreich zurückgekommen. Sie haben zuvor gesagt, er war ein paarmal zu Vortragsreisen da, aber eine Einladung, wirklich zu kommen, hier wieder Professor zu werden, die gab es nicht?
Thomas Olechowski: Das muss man aus zwei Seiten sehen. Mal die österreichische Seite, Kelsen ist 1930 von Österreich weggegangen, also ein sehr früher Zeitpunkt, noch lange vor Dollfuß, noch lange vor den Nazis, natürlich gedrängt irgendwie durch antisemitische Anfeindungen, aber doch freiwillig, er ist auch kein Geflohener aus Österreich gewesen.
Sein Lehrstuhl in Wien hat dann gerade sein treuester Gefolgsmann bekommen, Adolf Merkl, der 1938 von den Nazis entfernt wurde, und 1945 wurde Merkl wieder zurückgeholt an die Universität, als der von den Nazis Vertriebene, das heißt, für Kelsen war auch kein Platz mehr da. Er hätte seinen eigenen Gefolgsmann verdrängen müssen.
Das ist einmal die österreichische Sicht. Es ist eigentlich kein Anlass, Kelsen zurückzuholen. Auf der anderen Seite, im Jahre 1945 ist Kelsen schon 64 Jahre alt, ist also schon kurz vor seiner Pensionierung, hat sich jetzt endlich in Amerika etabliert, seine Töchter, die eine lebt in den USA, die andere lebt in Israel, seine sonstigen Verwandten über den Erdball verstreut, von England bis Australien, seine Freunde überall. Er hat auch keinen Anlass mehr, nach Wien zu kommen. Es erinnert ihn nichts mehr eigentlich in Wien.
In Wien natürlich kommt noch dazu die geteilte Stadt, von den Besatzungsmächten. Das erste Mal kommt er im Jahre 1953 nach Wien, da sieht er ja auch schon, da ist ja noch Wien von den Alliierten besetzt, da sieht er die Schwierigkeiten dort, also es war weit und breit kein Anlass für ihn, nach Wien zu kommen, also er wollte nicht, aber auch die Österreicher wollten auch ihn nicht, das muss man auch sagen.
Christoph Konrath: Wer hat sich dann noch an ihn erinnert oder ab wann hat das eigentlich wieder eingesetzt, dass man sich mit Hans Kelsen beschäftigt hat in Österreich?
Thomas Olechowski: Also es gab natürlich schon wichtige Schüler von Kelsen, das ist Adolf Merkl, den ich genannt habe, und Alfred Verdross, Merkl ein vor allem im Verwaltungsrecht ein Professor und Verdross einer der bedeutendsten Völkerrechtler überhaupt des 20. Jahrhunderts, die durchaus eigene Wege gegangen sind, aber die doch Kelsen die Treue gehalten haben und die Einladungen ausgesprochen haben, ihm eine Honorarprofessur, also das Wort Honorarprofessur muss man eigentlich, ein Ehrentitel eigentlich, und dann auch ein Ehrendoktorat verschafft haben, er wird Mitglied der Akademie der Wissenschaften, auch das eigentlich ehrend, also es hat an Ehrungen, Auszeichnungen nicht gefehlt, das waren vor allem Merkl und Verdross, die das für ihren Meister, wie sie ihn genannt haben, bewirkt haben.
Diese beiden sind dann aber in Pension gegangen und da war ein Bruch da, ein gewisser, dass da jetzt quasi die reine Rechtslehre versinkt. In den Sechziger-, Siebzigerjahren ist ein Umbruch zu bemerken. Merkl hat noch in letzter Sekunde einen Schüler selber zur Habilitation geführt, also dass dieser Schüler selber wieder lehrt, der ist Professor geworden, der Robert Walter, und mit ihm beginnt eine zweite Wiener Schule, eine zweite Schule der reinen Rechtslehre, Robert Walter, dann jahrzehntelang, zuerst in Graz, dann an der heutigen Wirtschaftsuniversität Wien, schließlich an der Universität Wien, unterrichtet selber, hat einen Kreis von Schülern geschaffen, er hat auch das Hans-Kelsen-Institut gegründet und dafür gesorgt, dass die reine Rechtslehre heute ein fixer Bestandteil der österreichischen Rechtslandschaft ist.
Christoph Konrath: Hans Kelsen ist dann auch in den USA gestorben. Er ist sehr alt geworden. Sie haben jetzt gerade schon seine Töchter erwähnt. Wollen Sie uns noch kurz ein bisschen auch etwas über sein Familienleben erzählen? Was haben Sie dazu herausgefunden?
Thomas Olechowski: Kelsen war ein ausgesprochener Familienmensch. Das ist besonders im Kontrast dazu, dass er eben als Haremshälter und wegen Vielweiberei und so weiter beschimpft wurde, seine eigene Ehe hat 60 Jahre gehalten, und wie das damals vielleicht nicht so unüblich war, seine Frau, die immer im Hintergrund gestanden hat und doch irrsinnig viel für ihn gemacht hat, das weiß man wirklich, dass sie nicht nur den Haushalt geführt hat und alles rundherum, sondern auch ganz konkret, sie hat für ihn alle seine Manuskripte mit Schreibmaschine abgeschrieben, sie hat manchmal Texte übersetzt, in andere Sprachen.
Ich bin sicher, dass man mit ihr eine mindestens so gute Diskussion über reine Rechtslehre hätte auch führen können. Das war damals nicht üblich, dass die Ehefrauen hier so im Vordergrund stehen, aber wie sehr er von seiner Frau abhängig war, das erkennt man daran am besten, dass er seine Frau nur wenige Wochen überlebt hat.
Sie ist im Jänner 1973 gestorben, er im April 1973, also er war völlig von ihr eigentlich abhängig, er hat mit ihr seine Stütze verloren.
Und es ist vielleicht bemerkenswert, dass Kelsen sowohl im Jahre 1933, als Hitler die Macht übernimmt, und im Jahre 1939, als der Zweite Weltkrieg ausbricht, er befindet sich immer selber im sicheren Ausland, und seine Familie ist in Gefahr, und jedes Mal geht er in die Höhle des Löwen zurück und sagt, er will seine Familie da rausholen, obwohl er eigentlich persönlich in Sicherheit wäre, also daran sieht man diese Gefahr, und er will auch nach Amerika nicht emigrieren, bevor nicht seine Töchter selber fliehen können aus Europa.
Das wird im klar, als seine Töchter, sie sind 1914 und 1915 geboren, also sind bei Kriegsausbruch entsprechend 24, 25 Jahre alt, volljährig, er kann sie nicht mitnehmen nach Amerika. Als Professor kann er ein Visum bekommen nach Amerika, aber da kann er sie nicht mitnehmen, und versucht, sie unterzubringen, also die eine wird verheiratet und folgt dem Ehemann nach Amerika, die andere bekommt ein Stipendium, damit sie in Jerusalem studieren kann, und erst nachdem beide in Sicherheit sind, macht er die Reise nach Amerika.
Es leben von Kelsen noch eine Enkeltochter und ein Enkelsohn, der Enkelsohn in New York, die Enkeltochter auf Hawaii lebend, die noch beide das Erbe ihres Großvaters fortsetzen, er hat mittlerweile auch einen Urenkel und einen Ururenkel schon, die ich kennenlernen durfte, und insofern wird auch die Familie Kelsen fortgeführt.
Christoph Konrath: Sie haben vorhin einmal gesagt, wer liest schon ein 1 000-Seiten-Buch, und haben sich auf das erste große Werk von Hans Kelsen bezogen. Ihr Buch hat auch fast 1 000 Seiten, und ich glaube, wir können es sehr empfehlen zum Lesen, weil schon aus unserem Gespräch werden Sie bemerkt haben, dass das Leben von Hans Kelsen alles andere als trocken war, dass es alles andere als ein Leben zwischen Büchern war, und diese Geschichte, die kann man jetzt wirklich in ausgezeichneter und sehr interessanter Weise in Ihrem Buch nachlesen, und wenn es heute heißt, Österreich liest, dann wollen wir auch gerne diese Leseempfehlung am Schluss abgeben. Vielen Dank für das interessante Gespräch, vielen Dank für alles, was Sie uns über Hans Kelsen erzählt haben, aber auch dafür, wie anschaulich Sie sein Denken und sein Engagement erklärt haben. Danke.
Thomas Olechowski: Ich danke.