Transkript der Veranstaltung:
Buchpräsentation „Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“

Susanne Janistyn-Novák (Parlamentsvizedirektorin): Sehr geehrte Damen und Herren! Ich darf Sie alle ganz herzlich im Namen der Zweiten Präsidentin des Nationalrates Doris Bures hier im Innenhof des Palais Epstein begrüßen. Bedauerlicherweise muss ich die Abwesenheit der Präsidentin entschuldigen, Sie führt heute im Ibiza-Untersuchungsausschuss den Vorsitz und die Sitzung ist noch nicht beendet, aber sie wird sich bemühen, sobald die Sitzung beendet ist, noch nachzukommen.

Als Vizedirektorin der Parlamentsdirektion hat es mich aber sehr gefreut, dass ich den heutigen Abend eröffnen kann.

Die Veranstaltung wird gemeinsam mit dem Molden Verlag durchgeführt, und damit gleich ein herzliches Willkommen an Herrn Dr. Sachslehner vom Verlag. Ich freue mich auch, dass die Verlegerin des Styria Verlags, Frau Mag.a Stein-Hölzl, bei uns ist.

Die Buchpräsentation wird auch via Livestream übertragen. Coronabedingt können nicht so viele Zuhörer unmittelbar anwesend sein, wie es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

Im Mittelpunkt der heutigen Veranstaltung steht die kürzlich erschienene Biografie über Baldur von Schirach von Univ.-Prof. Dr. Oliver Rathkolb, den ich ganz herzlich willkommen heiße. (Beifall.)

Er hat mit seiner neuesten Publikation eine Biografie von Baldur von Schirach vorgelegt, die die Ambivalenz und den ideologischen Fanatismus Schirachs auch anhand von neuem Archivmaterial zum Gegenstand hat.

Oliver Rathkolb vorzustellen ist keine leichte Aufgabe in Anbetracht seines umfassenden wissenschaftlichen Werks. Ich kann daher nur wenige Stationen und Arbeiten vorstellen.

Als Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien und als Autor zahlreicher zeithistorisch kritischer Publikationen, die zu Klassikern geworden sind – ich erwähne nur „Die paradoxe Republik“ – ist er vielfach ausgezeichnet worden, unter anderem auch mit dem Ehrenkreuz der Republik Österreich für Wissenschaft und Kunst.

Seine Forschungsschwerpunkte befassen sich unter anderem mit österreichischer und internationaler Zeit- und Gegenwartsgeschichte auch im europäischen Kontext. Er war Mitglied des wissenschaftlichen Beirats für das Haus der europäischen Geschichte in Brüssel beim Europäischen Parlament und er ist der Vorsitzende des internationalen wissenschaftlichen Beirats für das Haus der Geschichte in Wien. Dem Parlament ist er durch seine Tätigkeit als Jurymitglied in der Margaretha-Lupac-Stiftung für Parlamentarismus und Demokratie verbunden.

Unser zweiter Gast ist der ebenso renommierte wie bekannte Dr. Philipp Blom, den ich ganz herzlich willkommen heiße. (Beifall).

Philipp Blom ist Schriftsteller, Historiker, Journalist und Übersetzer. Diese vier Berufe verbinden sich in seinen Arbeiten zu einem mehr als kreativem Ganzen. Er befasst sich in seinen Publikationen und Diskussionsbeiträgen mit den grundlegenden Fragen der Demokratie- und Gesellschaftsentwicklungen ebenso wie mit Umweltfragen.

In seinem zuletzt erschienenen Band „Das große Welttheater“, der anlässlich 100 Jahre Salzburger Festspiele erschienen ist, setzt er sich mit den enormen gesellschaftlichen Herausforderungen und Umbrüchen von heute auseinander. Er vertritt die Ansicht, dass es die Kraft der Erzählung ist, die die Menschheitsgeschichte beeinflusst, und diese Erzählung wird von der Kunst, den Künstlerinnen und Künstlern geprägt.

Beeinflussung, Manipulation, Massensuggestion, Pflichterfüllung: Das sind auch Schlagworte, die mit Baldur von Schirach verbunden sind, der als Reichsjugendführer zunächst zum engen Kreis der Vertrauten von Adolf Hitler gehörte. Als er 1940 die Funktion als Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien antrat, wählte er das historische Parlamentsgebäude als zentralen Veranstaltungsort seiner Selbstdarstellung. Eine im Jahr 2015 von der damaligen Nationalratspräsidentin Doris Bures in Auftrag gegebene Studie unter der Leitung von Univ.-Prof. Bertrand Perz konnte über 270 Veranstaltungen nachweisen. Es waren Volkssprechtage, Empfänge, Vorträge, Weihnachtsfeiern, Geburtstagsfeiern, die Überreichung von Ehrenzeichen, Schulungsappelle oder die Eröffnung des Europäischen Jugendkongresses im Jahr 1942.

Als Reichsjugendführer manipulierte und indoktrinierte er eine ganze Generation: bedingungslose Treue, Pflichterfüllung, Gehorsam, gleichförmig denken, gleichförmig marschieren. Hitlerjugend, Reichsarbeitsdienst, Kanonenfutter für den Krieg – ein geschlossener Erziehungskreislauf zum Soldaten. Eine Herrschaft der Angst, der nur wenige auszubrechen wagten. Baldur von Schirach, ein Mann, der an Opernaufführungen teilnahm, während gleichzeitig am Nordbahnhof Jüdinnen und Juden zur Vernichtung in den Konzentrationslagern abtransportiert wurden. Oliver Rathkolb und Philipp Blom werden in ihrem Gespräch diese Brüche thematisieren.

Zunächst darf ich Sie, Herr Dr. Sachslehner, bitten, zum Buchprojekt ein paar Worte zu sprechen und Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, Zuseherinnen und Zuseher wünsche ich einen inspirierenden, interessanten und spannenden Abend. (Beifall).

Johannes Sachslehner (Projektleiter, Molden Verlag): Sehr geehrte Vizedirektorin! Vielen Dank für die nette und ansprechende und schöne Einleitung und Vorstellung. Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Freunde des Verlages! Ich freue mich wirklich, dass diese Veranstaltung heute stattfinden kann. Das ist in diesen Tagen nicht selbstverständlich, und deshalb, glaube ich, ist es auch besonders wichtig, dass wir das heute machen – weil es ein wichtiges Thema ist, eine wichtige Publikation, auch für uns im Verlag.

Für mich ist es Gelegenheit, einmal in erster Linie Danke zu sagen, an das Verlagsteam, an meine Kollegen, die dieses Projekt wirklich tatkräftigst unterstützt haben, vor allem auch an meine Kolleginnen im Presse- und Marketingbereich, die diese Veranstaltung auch ermöglicht haben – das ist die Anna Reisinger, das ist die Elisabeth Katzensteiner und die Astrid Saller, Sie sitzen da irgendwo –, auch natürlich allen, die bei der Entstehung des Buches mitgeholfen haben, es war dieses Buch eine doch größere Herausforderung, das sind natürlich vor allem meine Chefin Elisabeth Stein, Sophie Wolf, die heute auch da ist, und unser Gestalter Burkhart List.

Es war tatsächlich eine Arbeit, die auch viel Freude gemacht hat, eine Herausforderung. Ich glaube, wir haben ein gutes Buch geschaffen, das tatsächlich wichtig ist. Wichtig weshalb? – Das ist auch keine Floskel. Es ist das erste Buch, das 75 Jahre nach Kriegsende zum Thema Baldur von Schirach erscheint. Also das muss man sich vorstellen. 75 Jahre lang hat es die österreichische Geschichtsforschung nicht geschafft, zum wichtigsten Vertreter des NS-Regimes in Wien und in Österreich eine große Studie vorzulegen, eine Monografie vorzulegen.

Es war also tatsächlich ein Desiderat, es ist ein Desiderat gewesen, das wir hier vor uns haben, und ich bin wirklich dankbar, dass Herr Prof. Rathkolb dann diese Aufgabe auf sich genommen hat. Das ist tatsächlich eine Herausforderung, die nicht einfach ist. Es gibt eine - - Wer sich bei Schirach auskennt und wer sich in dieser Zeit auskennt, weiß, dass es eine Unmenge von Quellen gibt, dass es eine große Literatur – sehr verstreut – gibt und dass es zahlreiche Aktenbestände gibt, die es durchzusehen gilt, Pressebestände, Pressemeldungen, also insgesamt wirklich eine Arbeit, die es in sich hat.

Ich glaube, dass wir – und Herr Prof. Rathkolb – diese Arbeit in einer ganz vorzüglichen Weise und in einer ganz ausgezeichneten Weise auch bewältigt haben und wir ein Buch vor uns haben, das ein Meilenstein ist, ein Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Österreich, das Orientierung bietet für zukünftige Forschung, das ist auch wichtig.

Bücher setzen ja nie einen Endpunkt, auch historische Bücher setzen keinen Endpunkt hinter die Forschung, sondern sie geben Anstoß, sie inspirieren, sie wollen Orientierung bieten, und das ist, glaube ich, mit diesem Buch gut, wunderbar möglich. Es ist wichtig, dass die Diskussion wieder angeregt wird zu Baldur von Schirach, weil Schirach so etwas wie der bekannte unbekannte NS-Grande in Österreich gewesen ist. Man kennt seinen Namen, man weiß aber nicht wirklich Bescheid. Viele glaubten, Bescheid zu wissen, aber dieses Buch wird Ihnen zeigen, dass sie eigentlich nicht Bescheid wussten, dass es hier vieles zu entdecken gibt, dass hier vieles versteckt ist, dass hier viele Fragen auftauchen, die es zu beantworten gilt, und ich glaube, genau darin liegt auch die Leistung des Buchs: diesen Anstoß, diesen Impuls für eine weitere Forschung, für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema zu geben.

Gestatten Sie, dass ich dazu vielleicht noch grundsätzlich einen Gedanken anhänge, einen Gedanken, der die Arbeit mit Büchern allgemein bei uns im Verlag vor allem auch betrifft. Das möchte ich mit einem Zitat von Jean Améry einbegleiten, der hat gesagt: Was geschah, geschah, aber dass es geschah, das kann uns nicht einfach egal sein. – Dem müssen wir uns näher stellen. Genau das ist das Ziel unserer Bücher, und das ist, glaube ich, mit diesem Buch über Baldur von Schirach gut gelungen: dass wir Fragen stellen, dass wir Geschichte nicht einfach betrachten als eine Faktensammlung, die abgelegt wurde und es interessiert uns weiter nicht. Geschichte ist etwas, was uns täglich herausfordern soll. So verstehe ich zumindest den Umgang mit Geschichte.

Améry bringt in dieser Passage, das ist ein Vorwort zu seinem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“, auch den Gedanken oder auch das Bild, die Metapher vom Einfrieren. Wenn etwas einfriert, wenn etwas geschlossen, abgeschlossen ist, wenn es zur Routine geworden ist, zur toten Routine, dann ist das schlecht.

Wir sind der Leidenschaft verpflichtet. Das ist etwas, was uns besonders bewegt, die Leidenschaft, hinter die Dinge zu sehen, immer Neues auch zu finden und dieser sogenannten Wahrheit, die es in der Geschichte ja nicht wirklich gibt oder in der Geschichtsschreibung nicht wirklich gibt, näher zu rücken.

Vielleicht darf ich da noch ein Bild bringen, das hängt mit diesem Einfrieren zusammen. Franz Kafka hat diesen berühmten Brief an Oskar Pollak geschrieben, wo er schreibt: Ein Buch soll wie die Axt für das gefrorene Meer in uns sein – ein berühmtes Zitat, das Sie alle kennen. Er sagt aber auch, wenn man den Brief ganz liest, schon etwas vorher: Wenn man ein Buch liest, dann sollte es so sein wie ein Faustschlag ins Gesicht, nur dann macht es auch Sinn, dieses Buch zu lesen.

Und ich wünsche mir – das ist jetzt kein leeres Lippenbekenntnis –, dass wir diesen Faustschlag ins Gesicht auch spüren, wenn wir Schirach lesen, wenn wir andere Bücher lesen, dass wir dieses Leseerlebnis, dieses besondere Leseerlebnis noch für uns einheimsen können. Das ist etwas, was mir am Herzen liegt.

Ja, soweit ein allgemeiner Gedanke zum Umgang mit historischen Büchern vor allem. Ich würde dann das Wort weiter geben an Herrn Dr. Blom und an Herrn Prof. Rathkolb.

Ich wünsche Ihnen, meine Damen und Herren, eine spannende Diskussion, vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Danke. (Beifall.)

Philipp Blom (Historiker und Journalist): Sehr geehrte Damen und Herren! Guten Abend! Es freut mich sehr, dass wir hier sind, um über dieses Buch zu sprechen. Oliver Rathkolb - - Wir sind beide noch mit unserem Mineralwasser beschäftigt, das ist wahrscheinlich sinnvoll; einen kurzen Moment, dann wird alles einfacher.

Oliver Rathkolb, Sie haben wertvolle Lebenszeit mit Baldur von Schirach verbracht. Wenn man einem Menschen eine Biografie widmet, dann kommt man ihm unwillkürlich näher. Man muss Zeit mit ihm verbringen, mit seinen Gedanken, mit seinen Gefühlen, mit seiner Biografie. Was haben Sie dabei erlebt?

Oliver Rathkolb (Autor und Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien): Huch, eine schwierige Einstiegsfrage. Schirach ist ja nicht neu für mich, ich habe mich schon in der Zeit meiner Dissertation 1980/1981 am Rande mit ihm beschäftigt, vor dem Hintergrund eben der amerikanischen Entnazifizierungspolitik im Kulturleben in Österreich, später auch immer wieder längere oder kürzere Aufsätze über ihn publiziert. Aber das wirklich Schwierige ist für mich gewesen, dass ich – ich sage das ganz offen – noch nie eine Biografie geschrieben habe, dass das Biografieschreiben leider nicht zur Tradition der österreichischen, teilweise auch der deutschen Zeitgeschichtsforschung gehört, das unterscheidet uns sehr – leider im Negativen – von den angloamerikanischen Traditionen, und dass es – Herrn Dr. Sachslehner möchte ich sehr herzlich für seine permanente Unterstützung danken – wirklich auch eine intensive Arbeit gewesen ist. Es war ein relativ kurzer Zeitraum, ich bin ein unbotmäßiger Autor, der ständig neue Kapitel liefert, und habe auch so versucht, mich allen Aspekten von Schirach zu nähern.

Gleichzeitig muss ich sagen, aus irgendwelchen Gründen ist er mir nie nahegekommen. Ich habe mich wirklich so gefühlt wie ein Beobachter in Weimar, wie die Provisorische Nationalversammlung getagt hat und in der Stadt selber diese konservative aristokratische Gesellschaft, die ja schon auch zuvor die Bauhausbewegung mit allen Mitteln bekämpft hat, begonnen hat, sich dem Nationalsozialismus zu nähern, dann auch im Kampfbund für deutsche Kultur – da ist ja sein Vater unter den Erstunterzeichnern gewesen, der Karl von Schirach – sich in den Dienst einer totalitären Bewegung gestellt hat.

Also ich habe mich eher als Beobachter gefühlt. Es gibt einen Moment, wo ich mich ertappt habe, dass ich – und das sollte eigentlich ein Historiker nicht haben, weil dann zu viel Emotion im Schreiben und im Analysieren ist – Mitleid mit Schirach gehabt habe, und zwar wie ich dann draufgekommen bin – das war ein ziemliches Tabu auch unter den Söhnen von Schirach, selbst sein Biograf Jochen von Lang hat das lange als ein Geheimnis gehütet und einmal dann in einem Interview preisgegeben –, dass er einsam, verarmt, krank, als Alkoholiker in einer heruntergekommenen Pension, die zwei ehemalige BDM-Führerinnen geführt haben, gestorben ist.

Philipp Blom: Das klingt etwas wie ein absurdes Theaterstück.

Oliver Rathkolb: Es ist ein absurdes Theaterstück, aber da habe ich mich erwischt, da habe ich dann plötzlich Mitleid gehabt, und dann habe ich mir ein Interview mit David Frost aus den späten 1960er-Jahren als Gegengift angesehen. David Frost ist einer der bekanntesten Interviewer und Journalisten im Fernsehbereich in Großbritannien gewesen, hat große Interviews auch mit Richard Nixon geführt und auch eines mit Baldur von Schirach. Wie ihm Baldur von Schirach da mehr oder weniger Adolf Hitler als einen zwar ein bisschen übersteigerten und in seinen Zielsetzungen halt zu maßlosen Menschen, aber doch als einen wichtigen deutschen Politiker geschildert hat, der zur Hochzeit dann den prämierten besten deutschen Schäferhund geschenkt hat, und wie er dem Thema der Schoah, des Holocaust ausweicht, dann ist mein Mitleid schnell wieder verschwunden.

Ich habe aber doch versucht, mich eher als Beobachter von außen zu sehen. Aber es ist nicht leicht und das beste Beispiel sind für mich die amerikanischen Gerichtspsychologen, die ihn in Nürnberg in der Zelle, während des Prozesses, fast täglich besucht haben. Ich habe von ihnen wirklich viel gelesen, viel analysiert, und man merkt, sie sind ihm wirklich auf den Leim gegangen. Also sie haben so viel Zeit mit ihm verbracht, er hat dann - - Es war eher gedacht als eine Art psychoanalytische Sitzung, um herauszubekommen: Wie ticken die Nazis, die führenden deutschen Nationalsozialisten? Und er hat den Spieß umgedreht. Er hat sie auf die Couch gelegt und sie benützt, um seine Verteidigungsstrategie in Nürnberg zu schreiben.

Philipp Blom: Ich möchte gerne auf diesen Prozess später noch einmal zurückkommen. Ich muss Ihnen auch zur Erklärung sagen: dass Herr Rathkolb da mit ausgestrecktem Finger sitzt, ist nicht Programm, sondern es ist dem todesverachtenden Kampf mit einer Büroklammer zu verdanken, wie er uns erzählt hat.

Sie schreiben etwas Überraschendes am Anfang dieses Buches, und das scheint mir eine sehr wichtige Frage: Die zentrale Frage bleibt: Inwieweit ist die meist verdrängte ideologische Vorgeschichte der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich und seiner adeligen bürgerlichen Eliten von 1914 ein wesentlicher Erklärungsansatz für die Wirkungsmacht und die lange Dauer des nationalsozialistischen Unrechtsregimes?

Sie führen uns zurück in die Geschichte, und, das scheint mir sehr wichtig, das Dritte Reich fing nicht nur 1933 an. Es wurde möglich gemacht durch Entwicklungen davor, und da war tatsächlich die Familie von Schirach, die in Weimar ansässig war, schlüsselhaft.

Oliver Rathkolb: Das ist völlig richtig. Das habe ich schon bei einer anderen Geschichte versucht, im Zusammenhang mit dem Antisemitismus in der ausgehenden Habsburgermonarchie, vor allem im universitären Bereich, nachzuweisen, also dass - - Die Eliten nach 1918 fallen ja nicht vom Himmel. Die haben studiert, die haben geheiratet, die haben Familie, Freunde, die leben. Die leben auch vor dem Ersten Weltkrieg, vor 1914. Also das, was wir dann in den 1920er-, 1930er-Jahren an rabiatem Antisemitismus an der Universität Wien erlebt haben, hat seine Wurzeln, seine Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Ich habe das dann transponiert, aber das haben auch andere Autoren schon gemacht, das war nicht so die innovative These, aber eine wichtige These: dass der Nationalsozialismus nur funktionieren konnte als totalitäres Regime, weil er auf diese Entwicklungen, vor allem dieses rassistischen Antisemitismus, auch dieser Zerstörung der liberalen aufklärerischen Ideen, schon vor 1914 aufbauen konnte.

Wenn man sich so diese bürgerlich-konservative Elite in Weimar als kleines Biotop vor dem Hintergrund von Goethe, Schiller, Nietzsche ansieht, dann merkt man sehr schnell: Die werden nicht zu Antisemiten und Antidemokraten durch den Nationalsozialismus, die werden es spätestens, die meisten, würde ich sagen, schon vor 1914, aber der Rest wird es während des Ersten Weltkrieges. Und nach der Niederlage, auch nach dem Friedensvertrag von Saint-Germain, gibt es kein Halten mehr.

Die größte Schmach, die man dieser Gruppe, die sehr einflussreich ist, die auch sehr gebildet ist, aber zum Beispiel den Teil der jüdischen Literatur aus der deutschen Literatur verdrängt – es wird auch Heine ganz offen bekämpft schon im 19. Jahrhundert – - -, die hat die größte Schmach erleben müssen nach der Niederlage und des Endes des Deutschen Kaiserreiches und des Verlustes der sozialen Bedeutung, dass gerade in der Stadt die Weimarer Nationalversammlung unter massivem Militärschutz tagt. Das ist uns ja eigentlich gar nicht so bewusst.

In dem Biotop wächst Schirach auf, und er ist für mich – das hätte ich vielleicht im Buch noch schärfer machen können –, er ist eigentlich schon Nationalsozialist, als er in den 1920er-Jahren als ganz junger Bursche Adolf Hitler im Haus seiner Eltern trifft. Alles passt: diese Führergläubigkeit, die Todessehnsucht, endlich im Krieg für Deutschland kämpfen und vielleicht auch fallen zu dürfen, das ist alles schon eigentlich vorhanden. Das wird meiner Meinung nach eigentlich viel zu wenig in der Erklärung des Nationalsozialismus berücksichtigt, vor allem dort nicht berücksichtigt, wo man sich eigentlich fragen muss: 1943, 1944, 1945: Wie ist es möglich, dass die deutsche Gesellschaft funktioniert? Die höchsten Gefallenenraten der deutschen Wehrmacht sind in den letzten drei, vier Monaten.

Verrückt, absurd, aber sie haben eine lange Geschichte, die uns tief in das 19. Jahrhundert zurückführen. Das habe ich eben versucht, an diesem Beispiel auch deutlich zu machen.

Philipp Blom: Einer der eher überraschenden Aspekte daran ist: Weimar ist offensichtlich ein sehr ambivalenter Ort gewesen, der Ort der Weimarer Republik, aber auch der Ort der Weimarer Klassik und eines völkischen Aufstandes gegen die Demokratie. Aber die Familie von Schirach hatte nicht bereits seit Jahrhunderten in Weimar gelebt, sondern das war bewusst gewählt, denn Baldur von Schirach war zum größten Teil amerikanischer Abstammung.

Oliver Rathkolb: Ja, das ist eine Geschichte, die wird in den offiziellen Biografien, mit Ausnahme der Familiengeschichte der Schirachs, im Nationalsozialismus schnell zur Seite gewischt, also dass auch schon seine Vorfahren längere Zeit in den USA gelebt haben, dass sie für die amerikanische Armee gedient haben, dann wieder zurück gekommen sind nach Preußen, und dass seine Mutter aus einer prominenten, reichen, amerikanischen Familie mit Wurzeln in einer Südstaatenfamilie mit einem prächtigen – natürlich von Sklaven erbauten – Landsitz stammt.

Dann im Konflikt mit Hitler und Goebbels wird Schirach immer so als Halbamerikaner bezeichnet. Er spricht ja auch ein sehr untypisches Deutsch. Wenn man das von der Rhetorik her angeht, ist er eigentlich kein nationalsozialistischer Kampfredner. Er ist erstens von seinem Erscheinungsbild nicht wirklich ein attraktiver Mann. Er ist viel zu dick, mit dicken Lederhosen, viel zu knappen Anzügen, aber er ist der Einpeitscher für Adolf Hitler, nicht sehr aufflammend, aber funktioniert ganz gut.

Er ist aber natürlich sehr stark auch in den USA sozialisiert. Englisch ist eigentlich seine erste Muttersprache. Er verbringt auch längere Zeit in den USA. Letzten Endes sozusagen sieht er sich als Deutscher. Was aber einen großen Unterschied zum ganzen Rest der nationalsozialistischen Führungselite ausmacht, ist: Er ist der Einzige, der erkennt, in dem Moment, wo die USA den Krieg gegen Deutschland führen, ist der Krieg für Deutschland verloren. Also da merkt man schon seine Kenntnisse. Er liest ja auch sehr viele amerikanische Zeitungen. Es gibt die berühmte Szene, wo Henriette von Schirach versucht, Hitler ein amerikanisches Journal unter die Nase zu halten, wo beschrieben wird, wie schnell die Amerikaner mit neuen Produktionsmethoden große Transportschiffe bauen können. Die deutsche Marine kann U-Boote losschicken, vernichten, was sie wollen – sie schaffen es nicht, die Stärke dieser Transportmaschinerie wirklich zu brechen.

Er versucht auch mehrfach, Hitler zu erläutern, dass wenn die USA in den Krieg eintreten, er dann verloren ist. In der Hinsicht sollte er recht behalten. Das ist seine amerikanische Abstammung, wobei man auch sagen muss, dass er natürlich damit spielt.

Wie er dann seine Selbstanklage im Eröffnungsstatement beim Nürnberger Prozess präsentiert, ist er unglaublich geschickt unterwegs. Ich glaube, das hängt auch mit seinem Anwalt, einem bekannten, vielleicht den bekanntesten Münchner Strafverteidiger, Sauter, zusammen. Plötzlich sagt er: Na ja, natürlich war ich Antisemit, aber ich war Antisemit, weil ich Henry Ford gelesen habe, also die anderen deutschen Antisemiten auch ein bisschen, aber die sind nicht wichtig. Ich bin geprägt von Henry Ford. – Natürlich zucken die amerikanischen und auch die britischen Richter kurz zusammen. Auch der Vorsitzende versucht, ihn zu unterbrechen. Er lässt sich da nicht stören. Dann setzt er fort: Na ja, Hitlerjugend – aber bitte, sie kommen ja alle aus der Pfandfinderbewegung! – Hervorragend, also damit fängt er sozusagen schon die Westalliierten in kurzer Zeit ein.

Die Sowjets, muss ich auch sagen, haben einen mediokren Ankläger und die Amerikaner haben einen noch Schwächeren, einen Politsekretär, amerikanischer Justizminister, der noch nie in seinem Leben eine Anklage vertreten hat. Also insofern ist er dann sehr erfolgreich und kehrt ständig den Amerikaner hier auch hervor und dass er eben auch Hitler – was auch stimmt – gewarnt hat vor dem Krieg mit den USA und vieles andere mehr. Aber letzten Endes, glaube ich, hat er sich doch - -, und vielleicht hängt das auch mit dieser ambivalenten Identität zwischen zwei Nationen zusammen, dass man dann vielleicht versucht, sich von der einen Identität zu verabschieden und umso stärker und umso radikaler Deutscher zu sein.

Philipp Blom: Das hat mich sehr neugierig gemacht in dem Buch, die psychologische Dimension von von Schirach. Sein Vater war Theaterintendant und er hat dem Theater auch nie widerstehen können. Von Schirach selbst, als er Gauleiter in Wien wurde, hat er sich offensichtlich neben den Judendeportationen hauptsächlich um das Kulturleben gekümmert. Was ich mich gefragt habe, was mich interessiert hat: Wie war sein Verhältnis zu seinem Vater?

Oliver Rathkolb: Das ist eine schwierige Frage, da bin ich leider an Covid-19 gescheitert, weil ich ein ausführliches psychologisches Gutachten im Holocaust Memorial Museum gefunden habe, nur mit dem Lockdown ist das Museum noch immer geschlossen, also die Archivare dürfen nicht in die Bestände.

Was ich aber dazwischen herausbekommen habe, ist: Also wenn man nimmt - - Ich habe mir ja nicht nur die Memoiren von Schirach und seiner Frau Henriette angeschaut, sondern auch die Transkripte der Gespräche mit Jochen von Lang. Was schon auffällt, ist, dass der Vater fast kaum vorkommt; hin und wieder eben Intendant, aber die wirkliche emotionale Nähe, die ist zur Mutter. Die beschreibt er auch ganz anders.

Dann habe ich mir die Fotos angeschaut, die Privatfotos bei Heinrich Hoffmann: immer nur die Mutter. Es gibt kein einziges – und das sagt etwas aus! –, es gibt kein einziges Foto von Karl von Schirach und Baldur von Schirach, was sehr ungewöhnlich ist. Immerhin, er war auch dann wieder Intendant und alles, und einmal nur beiläufig, wie der gescheiterte militärische Aufstand gewesen ist, befindet sich Baldur von Schirach gerade auf seinem Schloss Aspenstein, wo er übrigens oft gewesen ist, in der Nähe von München, und fährt dann ganz aufgeregt mit seinem Sportwagen nach Wien. Dann sitzt plötzlich der Papi auch daneben, und das ist es. Dann ist die Geschichte schon wieder - -

Also ich habe schon das Gefühl, er hat auf der einen Seite den Vater bewundert, also den Lebensstil, er war ja auch bei Hofe in Berlin, er war Kammerherr. Also wenn man den Tagesablauf der Schirachs Revue passieren lässt, das war schon so ein bisschen was, nicht hochadeliges, aber gehobene Aristokratie mit einem bestimmten Tagesablauf. Das hat er in sich aufgesogen.

Man sieht das, als er aus Spandau entlassen wird, sitzen Albert Speer und er beisammen und sagen: Na, was machst du jetzt als Erstes, wenn du hinauskommst? Da sagt Speer: Ich kaufe mir endlich einen blauen Anzug. Baldur von Schirach ist ganz entsetzt und tut stundenlang über verschiedene Anzugsformen, Frack, Bademantel, Morgenmantel, Schuhe von Kniesche, Maßhemden und so weiter - - Speer ist völlig weg, aber das gehört zu dem Stil.

Es ist auch interessant, dass seine Söhne, die ja den Vater eigentlich nur durch wenige Besuche und Korrespondenz kennen, ihm sofort in München nach der Haft ein Schloss mieten. Man muss dem Vater das geben, was er möchte, aber letzten Endes ist er auf der Suche nach einem Vater – meine These, ich bin kein Psychologe, also ein vulgär-psychologisches Argument –, und er ist - -, und das ist sehr typisch für fast die gesamte Generation, die nicht im Weltkrieg gekämpft hat, aber ihre Väter haben gekämpft: Sie wollen noch einmal kämpfen, sie wollen das, was ihre Väter und Großväter erlebt haben, selbst erleben. Das ist auch einer der Gründe, warum er sich dann an die Westfront meldet, was er nicht unbedingt hätte machen müssen. Aber er will dieses Erlebnis haben und er findet den Ersatzvater und man sieht das in seinen Gedichten, in seinen Liedertexten.

Also diese Loyalität zu Hitler und dieses permanente Treueschwören auf Adolf Hitler bis zum Tod ist rückblickend unerträglich, in der Wirkungsmacht perfekt. Er hat eigentlich hier seinen Vater gefunden. Er probiert – und meiner Meinung nach nur aus strategischen Gründen – dann in seinem Schlussstatement in Nürnberg, das er handschriftlich vorformuliert hat, nein, in seinem Einleitungsstatement – Entschuldigung! –, in seinem Einleitungsstatement einen Vatermord. Also er gehört mit Speer zu den einzigen Angeklagten, die sich wirklich ganz massiv von Adolf Hitler distanzieren, aber gleichzeitig auch signalisieren: Also mit Kriegsverbrechen habe ich nichts zu tun, das ist die Gestapo, SD.

Philipp Blom: Ich habe einem Mann gedient, der zum millionenfachen Mörder wurde – damit hatte er selbst offensichtlich nichts zu tun.

Er hat eine sehr steile Karriere gemacht in den verschiedenen Jugendorganisationen, besonders in der HJ. Er hat die HJ großgemacht. Er hat, wie wir schon gehört haben, Jugendliche massiv indoktriniert. Er wird irgendwann zu wichtig, schreiben Sie. Es knirscht zu sehr und deswegen wird er wegbefördert; eine bewährte Taktik, auch heute noch. Er wird zum Gauleiter von Wien gemacht, was ihn eigentlich weniger einflussreich und weniger mächtig macht, aber natürlich eine scheinbare Beförderung ist. Das bringt uns in medias res: Was hat Baldur von Schirach für Wien bedeutet?

Oliver Rathkolb: Das ist jetzt eine - - Ich begrüße sehr herzlich die Frau Präsidentin! Danke sehr herzlich, dass du noch gekommen bist.

Was hat Baldur von Schirach für Wien bedeutet? – Eine leichte und gleichzeitig eine extrem schwierige Frage.

Erstens einmal, und das ist eine paradoxe Geschichte, hat Adolf Hitler Schirach nach Wien geschickt, um endlich die österreichischen Nazis mit den reichsdeutschen Nazis zu versöhnen. Das ist eine auch absurde Geschichte, dass Hitler am Berghof durch eine Freundin seiner Geliebten Eva Braun ständig informiert wurde, dass die Wiener Nazis unzufrieden sind: Alle Positionen haben die Reichsdeutschen, die Reichsdeutschen arisieren, wir fallen da durch den Rost. – Dieses ständige Gejammer wird also dann am Abend oder beim Mittagstisch im Berghof Hitler immer serviert.

Als dann klar ist, dass Schirach nicht Nachfolger von Rust als Reichserziehungsminister wird – da ist ihm der Zweite Weltkrieg dazwischengekommen, es war nämlich knapp davor –, entscheidet er, Schirach nach Wien zu schicken. Er gibt ihm eigentlich den Auftrag, für den er dann Schirach massiv kritisiert: Du kriegst ein großes Kulturbudget und du musst die Wiener Nazis wieder enger ans Reich holen.

Philipp Blom: War das nicht ein bisschen ein vergifteter Kelch? Denn wir alle wissen von Hitlers Ambivalenz gegenüber Wien. Hier war er der obdachlose junge Loser, der keine Chancen hatte, der nichts war, der gedemütigt war. Seine Stadt war Linz, er wollte Linz zur Kulturhauptstadt machen. Der Gauleiter von Wien hatte da wahrscheinlich von vornherein ein großes Problem: Wenn er nicht erfolgreich ist, dann ist es eine Katastrophe, und wenn er erfolgreich ist, dann ist es eine größere.

Oliver Rathkolb: So ist es, also auf Englisch würde man sagen: mission impossible. Hitler war klar, er muss hier für Ruhe sorgen, nämlich: Es geht ja nicht um die Wiener, sondern es geht um die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen in Wien.

Dieser Aufgabe hat er sich schnell gestellt. Interessant ist, er hatte natürlich ein Mastermind, über den man viel zu wenig weiß. Das ist ein Bochumer Dramaturg, kommt eher aus einer progressiven Schule in Bochum, ein Theaterfachmann, aber auch frühes NSDAP-Mitglied. Walter Thomas ist dann als Generalkulturreferent derjenige, der die Strategiepläne in Wien auslegt. Schirach ist der perfekte Promoter, wenn man so will: Verkäufer. Der inszeniert sich, der stellt sich im Burgtheater hin, hält die berühmte Rede Wiener Kultur und hat mit einem Schlag scheinbar die ganzen Probleme und Konflikte gelöst, weil er den österreichischen Nationalsozialisten, aber auch vielen, die nicht Nationalsozialisten sind, plötzlich wieder Bedeutung gibt.

Ihr seid die Hochkultur, ihr seid die Philharmoniker, ihr seid die Staatsoper, das Burgtheater, Grillparzer! Also er holt auch die alten Klassiker wieder scheinbar aus der Versenkung, benennt sie nicht als Österreicher oder, wie das Dollfuß getan hat, als Kulturdeutsche, sondern benennt sie als Wiener, und mit dem Trick gibt er plötzlich jenen, die sich als unterdrückt sehen hier im NS-Regime, wieder eine Bedeutung und bekommt wirklich auch Loyalität.

Es ist kein Zufall, dass, wenn wir wirklich ernsthaft die Widerstandsaktivitäten mit Ausnahme der Gruppe um Szokoll und einigen Versuchen ansehen, auch im Bereich vom kommunistischen Widerstand, spielt der sich in Österreich ganz woanders ab, in Kärnten mit den Partisanen und anderes, nicht in Wien. Er hält auch die Stadt wirklich ruhig. Das ist sozusagen ein geschicktes Mittel gewesen.

Aber wie Sie zu Recht sagen, je erfolgreicher er in Wien war, umso mehr toben Goebbels und Hitler in Berlin und beginnen ständig, auch gegen ihn zu agitieren, jede Rede von ihm. Also als er zum großen Jubiläum der Wiener Philharmoniker die Festrede hält, wofür er dann den Ehrenring bekommt, lesen die in Berlin plötzlich: Jössas, da erzählt er, dass die Wiener besser sind als die Berliner Philharmoniker. – Das ist eine ganz kindische Wien-Berlin-Geschichte, die aber politisch eine Bedeutung hat.

Letzten Endes wird er in Wien nur nicht abgelöst, weil eben der Zweite Weltkrieg tobt, weil er die Bevölkerung eigentlich in der Hand hat. Das muss man auch sagen. Die Parteiarbeit übernimmt Scharitzer, übrigens hier, gerade gegenüber, wie wir auch vorher gehört haben, im alten Parlamentsgebäude, sehr erfolgreich, sehr effizient. Schirach zieht sich auf Repräsentation zurück und kippt dann aber gegen Kriegsende: Plötzlich wird er der totale Verteidiger Wiens und gibt alle möglichen Proklamationen heraus, der berühmte Schirach-Bunker am Gallitzinberg. Also das sind auch sehr merkwürdige Wendungen, aber letzten Endes stellt er sich ja dann diesem Kampf nicht und flüchtet in den Westen.

Philipp Blom: Es ist doch eigentlich erstaunlich, dass Schirach in Wien überhaupt erfolgreich sein könnte, denn nach 13 Jahren in dieser schönen Stadt denke ich mir, das Schlimmste, das man dieser Stadt antun kann, ist ein Piefke mit aristokratischen Allüren. Trotzdem hat er es geschafft, hier doch wirklich Unterstützung zu finden.

Oliver Rathkolb: Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass vor allem auch Walter Thomas sofort kapiert hat, er muss die österreichische Note auch in Personalbesetzungen wieder durchklingen lassen. Das beste Beispiel ist die Wiener Staatsoper: Goebbels hat Strohm dekretiert, einen deutschen Opernfachmann. Den haben sie in Wien filetiert. Der ist so fertig, da gibt es eine berühmte – das habe ich da nicht verwendet, sondern woanders – Klageschrift, wo er sich über die Wiener Intrigen und diese furchtbaren Arbeitsverhältnisse beklagt, und er erleidet wirklich einen Nervenzusammenbruch.

Also da wird der – unter Anführungszeichen – „Piefke“ so gemobbt, dass er geht, und dann ist klar: Wer ist der Nachfolger? – Karl Böhm, ideologisch total loyal, deutschnational, wirklich auch sehr NS-affin, nicht Parteimitglied, und damit hat er schon die Wiener wieder dabei. Er ist auch sehr geschickt im Netzwerken, auch seine Frau, und ich glaube, das, was ihm am meisten geholfen hat: Er holt nach Wien die kulturelle Größe, also dieses Hofieren von Richard Strauss, der sich dann wieder inszeniert hier in Wien, oder Gerhart Hauptmann im Burgtheater. Plötzlich ist das Burgtheater scheinbar die wichtigste Bühne des Deutschen Reiches, was absurd ist, weil sich wesentlich mehr in Berlin abspielt, aber im Eigenverständnis funktioniert das sehr gut.

Ich glaube, was ihm wirklich geholfen hat, ist dieses Gefühl - - Und da steckt auch übrigens viel Geld dahinter, wenn Sie sich anschauen die Budgets fürs Künstlerhaus, für Ausstellungen. Wir sind mitten im Zweiten Weltkrieg – Morden, Brennen, der Holocaust –, und hier geht bis zur Schließung der Theater im August 1944 ein Kulturleben los, das es in dieser Intensität, mit so viel Finanzeinsatz eigentlich nie zuvor gegeben hat. Er ist sozusagen derjenige, der den Wienern wieder die Größe gibt und gleichzeitig für die totale Ablenkung auch vor dem Kriegshintergrund sorgt.

Philipp Blom: Der Regent des Berliner Musiklebens war zuerst Wilhelm Furtwängler, der galt aber als ideologisch unzuverlässig, er hat nicht deutsch genug programmiert, hat jüdische Musiker in seinem Orchester vor der Deportation bewahrt. Dann wurde ein berühmter Zeitungsartikel mit dem schönen Titel lanciert, 1942 war das, glaube ich: das „Wunder Karajan“. Das Wunder Karajan blieb Deutschland und Österreich noch eine Zeit lang erhalten, was mich zu der Frage bringt: Wie viel von Schirachs kulturellen Prioritäten und Prioritätensetzungen hat den Krieg überlebt?

Oliver Rathkolb: Mehr als uns lieb ist. Wenn wir uns anschauen, ich will jetzt nicht wieder das Musiktheater herholen, wo man das genauso auch fürs Sprechtheater sagen könnte, da gibt es tolle Studien von der Evelyn Schreiner, was also den Inszenierungsstil betrifft. Man darf ja nicht vergessen, dass sich im Nationalsozialismus, wo ja auch zunehmend dann nur mehr Klassiker aufgeführt werden inklusive Shakespeare, auch der Inszenierungsstil ändert, der Sprechstil der Schauspielerinnen und Schauspieler, und das setzt sich nach 1945 fort.

Man sieht das sehr deutlich am berühmten Wiener Mozartstil. Der wird entwickelt von Caspar Neher, Oskar Fritz Schuh und dem immer grantelnden Karl Böhm in der Zeit vor 1944 und kommt eins zu eins mit der Wiedereröffnung der Staatsoper, zuerst in der Volksoper und dann im Theater an der Wien zurück und bleibt sozusagen das zentrale Atout im internationalen Opernbusiness, ist aber sozusagen dieser Versuch, ein bisschen eine Art Moderne im Nationalsozialismus zu entwickeln, wobei man Schuh und Neher, glaube ich, auch jede ideologische Nähe aberkennen muss. Die haben schon die notwendige Distanz, aber trotzdem, es ist eine Kontinuität, aber auch in dieser Struktur, also diese fast überbordende Bedeutung der Hochkulturinstitutionen, der Museen, die Reorganisation des Kunsthistorischen Museums und mein Lieblingskapitel, die Etablierung der Sammlung alter Musikinstrumente. Das ist ein Erbe aus der NS-Zeit, das dann einfach in die Zweite Republik weitergeschrieben wird, und man sieht das auch teilweise in der Bürokratie und natürlich auch an den Positionen.

Der Direktor der Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper 1955 ist derselbe Direktor wie bei der Schließung der Theater, Karl Böhm, beziehungsweise beim Brand der Staatsoper, und das ist kein Einzelfall. Es war nur knapp, dass Clemens Krauss beispielsweise, der in den Dreißigerjahren Wien verlassen hat, nach Berlin gegangen ist, von Hitler hofiert wurde und umgekehrt, dann nach München geschickt wurde, der dann die Salzburger Festspiele für die Nationalsozialisten gemanagt hat, der im beschlagnahmten Schloss von Max Reinhardt, Leopoldskron, Hof gehalten hat – Ihr Mann hat ja ein tolles Buch auch über die Salzburger Festspiele geschrieben, Andreas Novák, und er hat es da sehr schön auch beschrieben, diesen Ungeist –, und Clemens Krauss ist der Dirigent, der auf Befehl der sowjetischen Kulturadministration das erste Konzert der Wiener Philharmoniker wieder dirigiert. Also da gibt es eine Fülle von Kontinuitäten.

Der einzige Ausnahmefaktor, Sie haben das auch genannt, ist Karajan. Der bleibt sozusagen da in der Gegenintrige, wo Furtwängler viel mitgeholfen hat, irgendwie stecken und pendelt dann zwischen Berlin, Italien, Mailand und Sankt Florian und kommt nicht wirklich nach Salzburg oder nach Wien, aber er holt das dann in atemberaubendem Tempo als Autorennfahrer schnell wieder nach.

Philipp Blom: Vor dem Hintergrund all dieser kulturellen Aktivitäten steht der Satz von Baldur von Schirach: Mein zentraler Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte ist die Deportation der Juden.

Oliver Rathkolb: Völlig richtig. Das ist auch ein Satz, den sein Enkel Ferdinand von Schirach immer wieder erwähnt. Der Satz geht übrigens noch tiefer. Ich darf ein bisschen die Hintergrundgeschichte für diese Rede erzählen, weil sie, glaube ich, wichtig ist und dann auch zeigt, wie weit eigentlich die Nationalsozialisten bereit waren, in Wien zu gehen.

Hintergrund ist der, dass Reinhard Heydrich, der stellvertretende Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, in der zerschlagenen Tschechoslowakei von tschechischen Agenten erschossen wird und Schirach vorher schon in Prag gewesen ist. Sie wollten eine große ökonomische Union, also wenn Sie es so wollen: Cisleithanien soll wiedererstehen, Prag und Wien werden jetzt Mitteleuropa ökonomisch aufmischen, eine Riesenkonferenz in Hradschin mit dem Wirtschaftsminister. Also da gab es große ökonomische Pläne, und plötzlich stirbt Heydrich bei einem Attentat. Schirach ist so empört, dass er ein Telegramm an Adolf Hitler schickt und ihm empfiehlt, sofort die wesentlichen Kulturstätten Londons bombardieren und in Schutt und Asche legen zu lassen, was selbst Hitler zu viel ist und er dann nicht ausführt, aber man sieht schon, wie weit er geht. Dann rastet er völlig aus und sagt nicht nur bei der Rede, dass er Wien judenfrei gemacht habe, sondern dass er jetzt – und das ist sein eigener noch zusätzlicher Beitrag – - -: Jetzt mache ich Wien tschechenfrei.

Und tatsächlich, und das ist seine Antwort auf das Attentat gegen Heydrich, die Wiener Gestapo und der Sicherheitsdienst beginnen, Karteien über Wiener Tschechen anzulegen – wer ist eindeutschungsfähig, wer wird deportiert? –, und letzten Endes sollen sie dasselbe Schicksal erleiden wie die Juden. Das Projekt ist sehr weit gediegen, weil es auch für die Gestapo eine Beschäftigung war, die mussten nicht an die Front, nicht zur Wehrmacht einrücken, und der frühere Finanzminister Ferdinand Lacina, der aus einer tschechischen Familie kommt, hat mir einmal erzählt, er kann sich noch als kleiner Bub erinnern, wie er mit seiner Mutter auf den Morzinplatz gehen muss, wo sozusagen evaluiert wird: Ist der kleine Bub eindeutschungsfähig oder nicht?

Da ist sozusagen ein riesiges Programm dahinter, das einen Aspekt, den wir meistens im Nationalsozialismus übersehen, diesen Hass auch auf alles, was als slawisch stigmatisiert wird, und das hängt natürlich auch wieder dann - - Und da erhält er ja auch Unterstützung von Hitler, der ja dieses sogenannte Völkergemisch in Wien hasst und mit allen Mitteln bekämpfen will, und dazu gehören die Wiener Juden genauso dann letzten Endes wie die Wiener Tschechen.

Philipp Blom: Beim Nürnberger Prozess ist Schirach sehr vorsichtig, zu sagen, dass er nie direkt etwas davon gewusst hat, was mit den Juden und Jüdinnen passierte, und er kann sich davon fast ganz distanzieren. Wie hat er das schaffen können?

Oliver Rathkolb: Wie jeder, und wir erleben ja das laufend momentan auch in Österreich: Wer einen guten Anwalt hat, dem geht es dann schon ein bisschen besser vor Gericht. Er hatte, wie ich vorher gesagt hatte, einen Starverteidiger, Sauter, der hat ihn geschickt gebrieft. Schirach selber ist da auch sehr clever und versucht einmal auf die Fragen der Staatsanwälte, der Ankläger, die auch zum Beispiel diese Rede: Ich habe Wien judenfrei gemacht, tschechenfrei - - Das ist auch bekannt, das hat der Wiener Bürgermeister Körner nach Nürnberg schicken lassen, als es gefunden wurde, und er hat dann mehr oder weniger gesagt: Nein, das ist eine Propagandarede.

Dann hält man ihm plötzlich Berichte von Heydrich vor. Heydrich hatte schon zu Beginn der Vernichtung der Juden im Osten durch sogenannte Sonderaktionen laufend eine Art Wochenbericht eingefordert, wo Orte stehen, Todeszahlen, Art der Hinrichtung, und das wird auch nach Wien geschickt – also auch jemand im Büro, im sogenannten Zentralbüro von Schirach ist im Verteiler. Schirach nimmt dann dieses Dokument, das also ein starkes Indiz der beginnenden Vernichtung, Massenvernichtung von Juden ist, und sagt: Na, wo ist mein Name? Wo ist meine Unterschrift? Ah, der Sekretär hat nie was gesagt.

Und so geht es weiter, und dann ist ein Argument, er hat nicht einmal etwas von der Schoah gewusst und hat das dann erst 1944 durch einen Freund, einen prominenten Schriftsteller erfahren, der internationale Zeitungen gelesen hat, was absurd ist, weil Schirach natürlich auch internationale Presse bekommen hat, auch seine Frau übrigens.

Das, was ich gefunden habe – ist übrigens ein Bestand, der früher im Parlament war, das sogenannte NS-Gaupresse-Archiv, das wir im Institut für Zeitgeschichte digitalisiert haben –, war eine Rede, die zwar in Fußnoten in der Literatur auftaucht, die aber nie im Originaltranskript bekannt war. Schirach hat den Gauleiter des Warthegaus, Greiser, nach Wien eingeladen, der hat eine große Rede hier quer über den Ring im alten Parlamentsgebäude, damals Gauhaus, gehalten und die Rede ist wirklich perfide, in mehrfacher Hinsicht. Das war das Dokument, wo mir wirklich schlecht geworden ist, vor dem hat mir gegraut. Ich werde Ihnen auch gleich erklären, warum, ist auch im Buch auch teilweise abgedruckt, denn der Gauleiter stellt sich hin und sagt: Ja, ihr schickt mir die Juden aus Wien, ich nehme mir – ich weiß es nicht, ich bin schlecht in Zahlen, es steht im Buch – 40 000 sogenannte Arbeitsjuden, die sind fleißig, arbeiten für die Wehrmacht et cetera, und der Rest macht seinen Frieden mit Gott. Und dann bringt er noch Zahlenbeispiele, wie die jüdische Gesellschaft in den Ghettos weniger wird. Also man sieht sehr deutlich - -

Und dazwischen, und das ist das wirklich Grausliche, johlender Applaus der österreichischen Nazis, alle wichtigen politischen Führer sind bei dieser Rede anwesend. Er hat kein Manuskript, deswegen lässt Schirach jemanden im Stenogramm mitschreiben. Also der Zwischenapplaus, auch dieses hämische Lachen, wenn es um das Antisemitische geht, und auch wie dann der klare Code gegeben wird, die werden umgebracht – großer Jubel, Begeisterung. Ich muss sagen, nach dem Dokument kann mir keiner mehr erzählen, dass die Spitze der Wiener NSDAP, SA, SS nicht gewusst hat, was mit den deportierten Juden und Jüdinnen aus Wien im Osten passiert. Dieses Dokument war – unter Anführungszeichen – „leider“ nicht bekannt, denn dann hätte auch die Debatte eine andere Wendung bekommen in Nürnberg.

Er windet sich dann heraus – irgendwann 1944 so am Rande erfahren! –, und dann kommt natürlich diese berühmte Szene, die ich noch immer nicht wirklich auflösen kann, dass seine Frau Henriette, die ja eine Art Patenkind von Adolf Hitler war aufgrund der engen Nähe und Freundschaft ihres Vaters mit Hitler, in den Niederlanden, wo sie häufig war, um übrigens Kunstraubgüter billig einzukaufen und teuer zu verkaufen, plötzlich in der Nacht Geschrei hört und Zeugin der Deportation von niederländischen Juden wird, wo der österreichische Reichsstatthalter Seyß-Inquart ein brutales Regime führt mit seinen Wiener Horden, er hat ja viele Schergen auch aus Wien mitgenommen in die Niederlande. Sie ist empört, das geht nicht, bespricht sich dann übrigens auch mit ihrem Kunsthehler, von dem sie geraubtes jüdisches Vermögen kauft, und wendet sich dann am Berghof an Adolf Hitler unter vier Augen und erzählt ihm die Szene. Er wird dann ganz irritiert, eiskalt und bricht das Gespräch ab, ist auch teilweise sehr aggressiv, das will er nicht hören, und das wird natürlich dann als Indiz verwendet, dass Schirach, dass seine Frau in dem Fall, sich gegen die Deportation ausgesprochen hat. Aber, ich glaube, soweit ich das deute, was sie wirklich gestört hat, ist dieses Geschrei, diese brutale Vorgehensweise.

Philipp Blom: Die Ruhestörung.

Oliver Rathkolb: Die „Ruhestörung“ – unter Anführungszeichen. Und das Perfide ist, und das, muss ich sagen, hat ja Ferdinand von Schirach vor Kurzem aufarbeiten lassen in Ansätzen, ist, Schirach und seine Frau sind sehr erfolgreiche Kunsträuber, und zwar nur teilweise für sich selber, denn der Kunstgeschmack ist nicht wirklich sehr ausgeprägt, sondern um Geschäfte zu machen. Deswegen die häufigen Reisen in die Niederlande, die Bekanntschaft mit Seyß-Inquart, es gibt dort einen großen Kunsträuber und Kunsthändler, der ihnen billig Kunstwerke, Porträts anbietet, die sie aber dann sehr schnell wieder verkaufen, und bei einer dieser Reisen kommt es zu diesem Zwischenfall.

Was sicherlich stimmt, ist, dass ab dieser Szene die Schirachs nicht mehr auf den Berghof eingeladen werden, was auch teilweise mit den ständigen Intrigen von Goebbels gegen Schirach zusammenhängt. Aber letzten Endes: Den totalen Bruch gibt es nicht. Er bleibt Reichsleiter, er bleibt Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien bis Kriegsende.

Philipp Blom: Von Schirach wird 20 Jahre nach Kriegsende aus dem Gefängnis entlassen. Er wurde nicht zum Tode verurteilt, sein Staranwalt war offensichtlich sehr erfolgreich, er auch. Er glaubte, er könnte wieder ganz groß durchstarten, mit Memoiren, und Millionen verdienen. Das klappt nicht. Er endet, wie Sie gesagt haben, als einsamer Alkoholiker in einer abgewohnten Pension.

Was mich beschäftigt und, ich glaube, viele Menschen beschäftigt: Wir sind in einer Zeit, wo solches Gedankengut leider nicht mehr bloß historisch ist. Hat das dazu beigetragen, dass Sie sich jetzt gerade dazu entschlossen haben, diese Biografie zu schreiben, in der so viele Slogans, Gedanken, Worte vorkommen, die man heute wieder, zum Beispiel bei einer Wienwahl, aber auch sonst im politischen Leben, nicht nur in Österreich, sondern in ganz Europa und über Europa hinaus, zum Beispiel in den Vereinigten Staaten, hört?

Oliver Rathkolb: Jetzt bin ich ganz ehrlich: nein. Sie haben völlig recht, die Codes sind eindeutig. Das hängt damit zusammen, dass ich mich schon lange mit diesem Phänomen beschäftige. Wir haben schon – im Team gemeinsam mit Sora, aber auch mit anderen Instituten – Umfragen zum autoritären Potenzial in Österreich, aber inzwischen auch in Frankreich, Deutschland, Italien, Tschechien, Ungarn, Polen gemacht, und das, was wirklich erschreckend ist, und insofern haben Sie dann wieder recht, obwohl ich nicht deswegen das Schirach-Buch geschrieben habe: Das American Jewish Committee hat diese Autoritarismusforschung – also ab welchem Zeitpunkt ist die parlamentarische Demokratie in Gefahr? – um 1943, 1944 in Auftrag gegeben. Bekannt ist die Autoritarismusstudie einer Gruppe um Adorno, der Frankfurter Schule, auch mit amerikanischen Experten, Psychologen dann in Berkeley.

Die Sorge war und auch die theoretische Überlegung war, man muss aus dem deutschen Beispiel lernen: Eine hoch industrialisierte Gesellschaft, hoch gebildet vom Bildungsniveau her, ist imstande, zur totalen Vernichtung von Menschen in Europa anzutreten, und hat ganz Europa mit der Schoah und dem Zweiten Weltkrieg überzogen. Und die große Befürchtung auch vor dem hohen Grad von Antisemitismus in den USA damals war, dass sich so etwas auch in den USA wiederholen könnte.

Und darf ich nur eines noch dazu sagen? Das, was mich dann wirklich irritiert hat, und dann bin ich wieder bei Schirach, ist: Es gibt eine Studie, die leider niemand zitiert, obwohl sie online verfügbar ist beim American Jewish Committee, von Leo Löwenthal, also auch einem aus Frankfurt stammenden Sozialwissenschaftler, der zum Unterschied von den Empirikern der Adorno-Gruppe, die ja Meinungsumfragen machen, nichts anderes macht als die deutsche Erfahrung, die Analyse: Wie wird die Demokratie zerstört? Er nimmt dieses Modell und appliziert das auf eine mögliche Zerstörung der Demokratie in Amerika und schreibt ein Buch, das auf Deutsch übersetzt heißt: „Falsche Propheten“.

Als ich das das erste Mal gelesen habe, habe ich geglaubt, das ist die Wahlkampfbroschüre von Donald Trump. Wenn Sie das Buch lesen, sehen Sie, wie es möglich ist, eine an sich funktionierende parlamentarische Demokratie durch bestimmte Agitprop-Methoden, Feindbilderstrategien zu destabilisieren. Das ist dasselbe, was auch das NS-Regime gemacht hat, und da bin ich dann wieder bei Schirach. Insofern ist diese Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus – und Sie haben ein sehr schönes Zitat gebracht, Herr Dr. Sachslehner – nicht eine Beschäftigung mit der Vergangenheit, sondern eigentlich beschäftigen wir uns mit der Gegenwart und mit der Zukunft.

Philipp Blom: Das ist die Frage, die jeder Historiker fürchtet. Es gab vor Kurzem – und zwar vor zwei Tagen wurde die ungefähr veröffentlicht – noch eine Studie über Autoritarismus, und die ging um junge Menschen heute und kam zu dem Schluss, dass viel weniger junge Menschen als angenommen heute noch glauben, dass Demokratie die beste Staatsform ist, dass immer mehr junge Menschen für Autoritarismus empfänglich werden. Die Frage, die jeder Historiker fürchtet, ist natürlich die nach der Vergleichbarkeit.

Wenn Sie sich die Zerrüttung von Weimar/Deutschland ansehen, inwiefern ist das vergleichbar mit dem, was wir heute erleben, und mit dem, was zum Beispiel viele jüdische Veteranen des Ersten Weltkrieges gesagt haben: Na, was sollen sie schon machen, uns umbringen? Inwiefern ist das derselbe Reflex, den wir heute haben, wenn wir denken: Das mit dem Populismus ist zwar alles unerfreulich, aber was kann unseren Demokratien schon passieren?

Oliver Rathkolb: Ich glaube, es gibt einen großen Unterschied, und das haben auch eine Meinungsumfrage, die wir Ende 2019, aber vor Covid, gemacht haben, in Deutschland, Frankreich, Italien, Polen, Tschechien, Ungarn und Österreich auch gezeigt: Die Unterschiede des autoritären Potenzials in diesen Ländern hängt auch mit der sozialen Sicherheit zusammen.

Bildung alleine ist kein Erklärungsmodell, bessere Bildung hilft tendenziell, wenn sie kritische Bildung ist, aber generell bleibt eine parlamentarische Demokratie, wenn sie sozial abgefedert und stabil ist, in sich gefestigt. Wir sehen das deutlich in Deutschland trotz der furchtbaren Vorfälle, trotz der AfD im Parlament, im Bundestag: Von den Umfragen her ist die deutsche Gesellschaft verglichen mit der italienischen, verglichen mit der polnischen, verglichen mit der tschechischen, verglichen mit der ungarischen Gesellschaft stabil.

Was ganz interessant ist in Österreich, wo es ja eine Zeit lang so eine Führersehnsucht gegeben hat, einen starken Mann zu wählen, der auf Parlament und Wahlen nicht Rücksicht nehmen muss: Das ist interessanterweise in den letzten ein, zwei Jahren zu unser aller Überraschung, das zeigt das aktuelle Coronapanel der Universität Wien, zurückgegangen. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass - - Wenn Sie sich anschauen, wie das Gesundheitssystem in Italien kollabiert ist, wie das Gesundheitssystem in vielen Teilen der USA nicht kollabiert, sondern de facto für bestimmte Gesellschaftsschichten, und zwar für die Mehrheit, nicht existent ist – das sind Gesellschaften, die sind in Gefahr.

Das, was wir aus diesem Vergleich mit der Weimarer Republik nehmen können, ist eben der große Unterschied der Entwicklung nach 1945, also den Versuch, die faschistische Vergangenheit zu verhindern, indem ich eine sozial ausgeglichenere Gesellschaft in Europa schaffe. Das haben bis zu einem gewissen Grad mit anderen Mitteln auch die kommunistischen Staaten versucht, und die große Herausforderung, vor der wir jetzt auch in der Europäischen Union stehen, ist: Wie weit sind wir imstande, dieses gemeinsame solidarische Band zu halten? Denn meiner Meinung nach: Wenn das solidarische Band zerbricht, dann zerbricht nicht nur die Europäische Union, dann zerbricht meiner Meinung nach auch unter Umständen in einigen Ländern das parlamentarische, demokratische System.

Philipp Blom: Das ist ja schon zerbrochen in Ländern, die an dieses direkt angrenzen.

Oliver Rathkolb: Ja, aber deswegen, weil, wenn Sie sich genau anschauen: Mit was solidarisiert das Kaczyński-Regime? – Mit Sozialmaßnahmen. Es ist so eine kleine Umverteilungspolitik, also manchmal glaubt man, man ist in den Siebzigerjahren, dasselbe in Ungarn. Die, wenn Sie so wollen, populistischen Statthalter erkennen die Wirkungsmacht sozialer Maßnahmen, und das sollten Sie auch nicht vergessen. Das hat übrigens auch der Nationalsozialismus aus dem Ersten Weltkrieg gelernt.

Die Stabilität der deutschen Gesellschaft und das geringe Ausmaß an Widerstand – es gab ja keine wirkliche Revolution wie gegen Ende des Ersten Weltkrieges in vielen Teilen Deutschlands – hängen damit zusammen, dass die deutsche Wehrmacht ganz Europa ausgeplündert hat und alle Ressourcen in das Kerngebiet Deutschlands transferiert hat durch sogenannte Besatzungssteuern. Das war eine wirklich profunde These des Götz Aly, die auch stimmt, weil die auch wirklich analysiert haben: Warum kommt es zu einer Destabilisierung an der sogenannten Heimatfront 1917/1918 im Deutschen Reich? Und das hängt mit sozusagen der sozialen Kohäsion zusammen.

Das Problem, vor dem wir stehen, ist, dass nicht nur die Demokraten die Bedeutung von einem solidarischen Sozialnetzwerk erkennen, sondern auch totalitäre Regime und Populisten, und diese - -

Philipp Blom: Das haben die Nazis vorgeturnt.

Oliver Rathkolb: Das haben die Nazis leider unter eben brutaler Ausbeutung großer Teile Europas inklusive Sklaven und Zwangsarbeit - - Und deswegen, glaube ich, wer die parlamentarische Demokratie sichern will, der braucht ein offensives, auch soziales, gemeinsames, europäisches Konzept, und da bin ich, so merkwürdig das jetzt klingt, vorsichtig optimistisch, vielleicht auch vor dem Hintergrund der Covid-Pandemie, dass es durchaus auch jetzt ganz andere Töne in Brüssel gibt, nicht nur im Europäischen Parlament, auch in der Europäischen Kommission. Wenn ich mir die Debatten über ein soziales Europa vor fünf Jahren anschaue und heute, merkt man, da ist schon etwas passiert. Ob das wirklich zum Versuch einer Art Neuerfindung Europas führen wird, wird die Zukunft weisen, aber da sind die Historiker fehl am Platz.

Philipp Blom: Oliver Rathkolb, vielleicht haben wir die Gelegenheit in einigen Jahren, darüber zu sprechen, was daraus geworden ist. Für heute Abend danke ich Ihnen herzlich für dieses Gespräch.

Oliver Rathkolb: Vielen Dank für Ihre spannenden Fragen. Danke schön. (Beifall.)

Doris Bures (Zweite Präsidentin des Nationalrates): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vielleicht ein paar kurze Worte noch: Zuerst möchte ich mich entschuldigen, dass ich zu spät komme, aber wir haben eines der wichtigsten Kontrollinstrumente des Parlaments, nämlich einen Untersuchungsausschuss, den ich heute leiten musste. Ich bin sehr froh, dass ich einen Teil eures Gesprächs noch hören durfte, ich werde das in der Mediathek auch noch nachhören und mir das gesamte Gespräch anhören, aber es hat mir gezeigt, lieber Herr Prof. Oliver Rathkolb, dass es richtig war, diese Buchpräsentation hier im Parlament vorzunehmen. Es hat auch nicht lange Überlegungen gebraucht, als wir auf diese Idee gekommen sind, weil es nicht nur zeigt, wie wichtig es ist, uns natürlich auch heute, aber vor allem auch unter dem historischen Hintergrund mit unserer Zeitgeschichte auseinanderzusetzen.

Ich habe im Jahr 2015 als Präsidentin des Nationalrates eine Studie in Auftrag gegeben zur Inbesitznahme des Parlaments, zur Nutzungsgeschichte des Parlamentsgebäudes in den Jahren 1933 bis 1945. Baldur von Schirach hat hier auch eine zentrale Rolle gespielt und daher, glaube ich, ist es so wichtig gewesen, dieses Buch heute hier zu präsentieren und dieses Gespräch auch zu führen, und dafür möchte ich Danke sagen.

Ich möchte mich bei Ihnen, Herr Philipp Blom, ganz herzlich bedanken, dass Sie so durch dieses Gespräch geführt haben und auch diesen historischen Zusammenhang hergestellt haben. Ich glaube, es wird alle, die das jetzt auch gehört haben, anregen, weiter darüber nachzudenken und vor allem weiter darüber zu diskutieren und weiter darüber zu reden.

Ich bedanke mich auch beim Verlag dafür. Ich bedanke mich bei Ihnen, Frau Vizeparlamentsdirektorin, die mich vertreten hat, und bei Ihnen allen und auch jenen, die via Livestream dabei sind, die in diesen schwierigen, herausfordernden Zeiten heute hierhergekommen sind. Ich bin an Ihren Lippen gehangen, wie so oft, Herr Professor. – Vielen herzlichen Dank. (Beifall.)