5. Mai 2023

Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Stenographisches Protokoll

 

 

 

verfasst von der Abteilung 1.4/2.4 – Stenographische Protokolle

 

Freitag, 5. Mai 2023

11 Uhr bis 12.43 Uhr

Bundesversammlungssaal des Parlaments

 


Beginn der Gedenkveranstaltung: 11 Uhr

Die Veranstaltung beginnt mit der musikalischen Darbietung des Stückes „Habet Mishamayim“, dargebracht von Shmuel Barzilai, Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, und dem Friedrich-Weinreb-Quartett. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer: Schau herab vom Himmel und erkenne! Deine Kinder werden geschlagen, sie werden geprügelt, man zerstört sie. Räche diese Bluttaten an deinen Kindern! Zeig ihnen, dass du nicht mehr schweigen wirst! – Das ist der Text, der Inhalt des Liedes „Habet Mishamayim“, das Shmuel Barzilai gerade zu den Klängen des Friedrich-Weinreb-Quartetts für Sie gesungen hat.

Meine Damen und Herren, damit darf ich Sie ganz herzlich zum Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begrüßen.

Eine besondere Ehre ist es, Überlebende des Holocaust und des NS-Terrors sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen heute in unserer Mitte begrüßen zu können.

Es ist mir eine Freude, die Gastgeber der heutigen Veranstaltung – den Präsidenten des Nationalrates Mag. Wolfgang Sobotka und den Präsidenten des Bundesrates Günter Kovacs – hier im Bundesversammlungssaal begrüßen zu dürfen. Außerdem heiße ich Vizekanzler Mag. Werner Kogler sowie alle anwesenden Mitglieder der Bundesregierung und die Staatssekretärinnen und Staatssekretäre ganz herzlich willkommen.

Ein besonderer Gruß ergeht an die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Corps.

Ganz herzlich willkommen heißen darf ich auch die Zweite Präsidentin des Nationalrates Doris Bures, den Dritten Präsidenten des Nationalrates Ing. Norbert Hofer, die anwesenden Klubobleute und Fraktionsvorsitzenden an der Spitze der Abgeordneten zum Nationalrat und der Mitglieder des Bundesrates, die Volksanwaltschaft sowie die Vizepräsidentin des Bundesrates Doris Hahn und den Vizepräsidenten des Bundesrates Mag. Harald Himmer. Es freut mich auch, dass zahlreiche ehemalige Mitglieder der Bundesregierung der Einladung gefolgt sind.

Besonders begrüßen darf ich auch die Vertreter der Kirchen und Religionsgemeinschaften, und ich darf stellvertretend den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch ganz herzlich willkommen heißen.

Auch die Vertreterinnen und Vertreter der Gedenkinitiativen, der Opferverbände und Lagergemeinschaften sowie Erinnerungsinitiativen begrüße ich sehr, sehr herzlich an diesem heutigen Tag.

Ein besonderer Gruß geht auch an die Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Mag.a Hannah Lessing und die Generalsekretärin des Zukunftsfonds der Republik Österreich Mag.a Anita Dumfahrt.

Ebenfalls freue ich mich über die zahlreich anwesenden Schülerinnen und Schüler.

Im Besonderen möchte ich auch die Beitragenden zur heutigen Gedenkveranstaltung begrüßen: für die musikalische Begleitung den Oberkantor der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Mag. Shmuel Barzilai in Begleitung des Friedrich-Weinreb-Quartetts – Sie haben es soeben gehört – sowie das Vokalensemble Momentum Vocal Music unter der Leitung von Simon Erasimus.

Als Diskutantinnen und Diskutanten heiße ich die Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen DDr.in Barbara Glück, die Zeithistorikern Dr.in Linda Erker, den Leiter des Fotoarchivs der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem Jonathan Matthews sowie den deutsch-französischen Philosophen und Juristen DDr. Michel Friedman ganz herzlich willkommen.

Den Abschluss der heutigen Gedenkveranstaltung bildet eine Lesung, die von Marlene Wöckinger, Dr.in Stephanie Kaiser und Julius Sevcik durchgeführt wird, die ich ebenfalls recht herzlich begrüßen darf.

Auch Sie, sehr geehrte Damen und Herren vor den Fernsehgeräten, begrüße ich zur heutigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus sehr herzlich.

Jetzt darf ich den Präsidenten des Nationalrates Mag. Wolfgang Sobotka um seine Eröffnungsworte bitten. (Beifall.)

Eröffnungsworte des Präsidenten des Nationalrates der Republik Österreich

Mag. Wolfgang Sobotka: Wann begann die Ermordung von Menschen? Begann sie an den Toren der Gaskammern von Auschwitz oder dann, als die Lokomotivführer die Transporte in den Konzentrationslagern abgeliefert und sich nie gewundert haben, dass sie leer zurückfuhren? Oder begann die Ermordung mit der Wannseekonferenz, als die Bürokraten die Endlösung beschlossen haben? Oder begann sie, als 1938 die Synagogen brannten oder als die Rassengesetze beschlossen wurden und Richter und Justizbeamte Ehen annullierten, Professoren aus den Universitäten verbannten, Nachbarn denunziert wurden, jüdische Geschäfte geschändet und geplündert wurden und Millionen Menschen stumm, blind und taub wurden? Schauen wir tatenlos zu oder handeln wir und löschen wir die Brände? Handeln wir zivilisiert oder barbarisch? Sind wir moralische Menschen, die als Christen auf Unrecht reagieren, oder tun wir nur als ob?

Mit diesen Fragen hat Michel Friedman vor genau 25 Jahren im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung Maturanten am Theresianum konfrontiert. Seine Worte haben so prägenden Eindruck gemacht, dass mir einer der damaligen Zuhörer im Vorfeld dieser Veranstaltung davon erzählte.

Sehr geehrter Bundesratspräsident! Sehr geehrter Herr Vizekanzler! Werte Präsidentenkollegen! Werte Damen und Herren der Bundesregierung! Geschätzte Damen und Herren Abgeordnete! Insbesondere unsere Zeitzeugen, die unserer Gedenkveranstaltung heute noch beiwohnen: Ihnen gilt mein besonderer Gruß!

Ein geflügeltes Wort der Gedenkrhetorik lautet: Wehret den Anfängen! – Wiederum Michel Friedman, den wir heute noch hören werden, hat klar formuliert: Die wehrt man am Ausgangspunkt der Gewalt ab, damit es eben nicht zum Endpunkt dieser Gewalt kommt. – Ja, wenn man am Ende der Rampe von Birkenau steht, wird einem bewusst, dass genau diese Gleise zurück in unsere Städte führen, zurück in die Gassen und Straßen unserer Städte und Dörfer, zurück in die Kapillaren unserer Gesellschaft und damit zurück zu den Orten, an denen in Wahrheit das Töten begann.

Soll unser Gedenken nicht zum leeren Ritual verkommen, dann muss sich Gedenken, begründet in einem klaren Bewusstsein des Geschehenen, mit dem aktuellen, mit dem gegenwärtigen Geschehen konfrontieren. Gedenken verlangt nach unmittelbarer Relevanz – Relevanz im Hier und im Jetzt. Doch man muss ehrlich sein: Es fällt immer leichter, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Oskar Deutsch hat einmal sehr pointiert dazu gemeint und den Finger auf diese Wunde gelegt: Gegen die im KZ ermordeten Juden hat heute fast niemand mehr etwas, aber - -! – und daran schließen sich viele Fragezeichen.

Unser heutiger unbequemer Anspruch ist, aus dem Gedenken an vergangenes Unrecht, an verklungene Gewalt und verwehtes Leid klare gemeinsame Eckpfeiler für unser gegenwärtiges gesellschaftliches, politisches und staatspolitisches Handeln zu bauen. Ein solcher Eckpfeiler, der heute wohl unbestritten als gemeinsames Selbstverständnis hier im Hohen Haus gelten kann, ist das unmissverständliche Bekenntnis zum jüdischen Staat, zu seinem Existenzrecht und seiner Selbstverteidigung. Dieser Eckpfeiler wurde ein wesentlicher Teil unserer Staatsraison.

Ein weiterer Eckpfeiler, den wir in Reflexion über unsere Geschichte formulieren, ist die gestärkte Wertschätzung gegenüber der jüdischen Gemeinde in Österreich. Er zeigt sich in einem intensiven, oftmals auch kontroversen, aber sehr offenem Dialog mit ihr. Das 2021 von diesem Haus beschlossene Österreichisch-Jüdische Kulturerbegesetz zur Absicherung jüdischen Gemeindelebens ist ein manifester Ausdruck dieser Wertschätzung.

Ein dritter Eckpfeiler ist das Bemühen um die zumindest teilweise Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit. Die Restitutionen und Entschädigungen waren am Anfang zwar schleppend und kamen spät, sind aber heute als eine gemeinsame Verpflichtung selbstverständlich geworden. Die Novelle zum Staatsbürgerschaftsgesetz aus dem März 2022 ermöglicht heute den Nachkommen der vom NS-Regime Verfolgten auch die Erlangung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Es ist zutiefst berührend, dass innerhalb eines halben Jahres bereits mehr als 20 000 Nachkommen von Holocaustopfern von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben.

Ich bin zutiefst dankbar, dass es gelungen ist, diese beiden wichtigen Gesetze im österreichischen Parlament einstimmig zu beschließen.

Der vierte Eckpfeiler – und das ist wohl die herausforderndste Aufgabe – ist eine mit Sicherheit verbesserungswürdige Pflege unserer politischen und demokratischen Kultur auf allen Ebenen, denn spätestens seit Covid ist offenkundig, dass der politische Diskurs deutlich aggressiver geworden ist, er polarisiert und agiert teilweise dysfunktional. Oft müssen wir uns fragen, ob wir nicht zusehends die Fähigkeit verlieren, unsere Zukunft zu verhandeln, Konsens herzustellen und auch im Kompromiss an sich schon einen Wert zu erkennen.

Eine zentrale und absolut kritikwürdige Rolle spielen da sicherlich die anonymen sozialen Medien und Plattformen, indem sie Polarisierung und Verschwörungstheorien, Fakenews und die Dämonisierung von Minderheiten befeuern. Ich hätte nie gedacht, dass es 2022 möglich ist, auf der Documenta in Kassel unter dem Prätext der künstlerischen Freiheit Bilder auszustellen, die der Nazizeitschrift „Der Stürmer“ entnommen zu sein schienen.

Eine intensive Diskussion wurde vorher gestaltet und hat sich im Nachhinein abgespielt. In dieser Frage sehen wir letzten Endes auch: Wie steht es mit dem Antisemitismus heute? Die Ergebnisse unserer letzten Studie zeigen doch ein sehr deutliches, besorgniserregendes Bild: Mehr als 10 Prozent der Befragten sind manifest antisemitisch, und 30 Prozent haben immer noch einen latenten Antisemitismus als ihr Meinungsbild.

Das zentrale Ergebnis, das wir daraus gewinnen können, ist, dass der Bildungsgrad, der Glaube an Verschwörungsmythen, das Wissen über den Holocaust und über Jüdinnen und Juden, die Migrationsgeschichte – das alles – einen ganz entscheidenden Beitrag dafür leisten, wie sich die Einstellung der Menschen zum Antisemitismus zeigt.

Der Hass und der Antisemitismus im Internet – das hat Monika Schwarz-Friesel deutlich gezeigt – nahmen in den letzten Jahren überproportional zu. Seit Chat-GPT maturiert hat und sich China zur Anwendung von künstlicher Intelligenz auch in Übereinstimmung mit seinen ideologischen Grundhaltungen bekannt hat, sind uns die dramatischen Herausforderungen, die der digitale Raum für die repräsentative parlamentarische Demokratie bringt, mehr als bewusst.

Es bedarf daher einer engagierten und effektiven Strategie der digitalen Selbstverteidigung unserer Demokratien, um gegen diese manipulativen und intransparenten Plattformen und Kampagnen vorzugehen. Wir sehen uns durchaus einer neuen Pandemie der Desinformation und der Manipulation ausgesetzt. Bis dato gibt es dagegen keine Immunisierung, und so sehe ich eigentlich nur zwei Zugänge, um sich gegen dieses Gift der Desinformation und der Manipulation zu wehren und zu immunisieren: Bildung und Regulierung.

Ich habe bereits im Rahmen der Konferenz der europäischen Parlamentspräsidentinnen und -präsidenten in Prag betont, dass ich davon überzeugt bin, dass es tiefgreifende und radikale Maßnahmen braucht: ja, radikale Maßnahmen, die letztlich auf ein Registrierungs- und Zulassungsverfahren für Algorithmen, künstliche Intelligenz und anonyme Social-Media-Plattformen hinauslaufen müssen.

Wir als staatliche Entitäten müssen über den Marktzugang dieser Algorithmen und Plattformen entscheiden können. Wir brauchen schnellstens europäische und nationale Zulassungsbehörden. So möchte ich heute für Österreich auch anregen, dass wir uns im Parlament im Rahmen einer parlamentarischen Veranstaltung eben zu diesen Themen der künstlichen Intelligenz intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzen. Wir haben hier noch große Aufgaben vor uns, und da lässt uns die Zeit wenig Spielraum.

Es muss uns allerdings bewusst sein, dass das gesellschaftliche Problem der Fragmentierung und Polarisierung, mit dem wir konfrontiert sind, viel vielschichtiger ist und sich nicht einfach wegregulieren lässt. Wir müssen den Menschen Orientierung ermöglichen und sie mit jenen Fertigkeiten ausstatten, die notwendig sind, um Verantwortung übernehmen zu können. Dazu benötigen wir Bildung, Bildung und nochmals Bildung.

Wir müssen den Fokus auf Demokratiebildung in Verbindung mit digitaler Bildung legen. Die digitalen Kompetenzen der kommenden Generationen werden entscheidend dafür sein, die technologischen Möglichkeiten für und nicht gegen die Demokratie einsetzen zu können.

Natürlich spielen die sozialen Plattformen eine kritische Rolle in der Verbreitung und Amplifizierung von Fakenews und Verschwörungstheorien. Wir würden uns allerdings selbst belügen, wenn wir nicht sehen, welchen Beitrag die Politik selbst dazu auch leistet und welche Verantwortung sie zu tragen hat.

Anlässlich der Neueröffnung unseres Hauses habe ich an dieser Stelle gesagt, dass der Wert einer Demokratie auch darin begründet ist, was sich die Menschen, die sie gestalten, gegenseitig wert sind. Es ist immer leichter, dem politischen Mitwerber pauschal den Anstand abzusprechen; ungleich schwerer ist es, sich mit diesen Ideen auseinanderzusetzen und in Diskurs zu gehen. Als Politiker haben wir eine Vorbildwirkung für die politische Kultur in unserem Land. Wenn wir uns gegenseitig nicht respektieren, dann können wir auch nicht erwarten, dass wir respektiert werden.

Bei aller Leidenschaft: Das Fundament dieses Hauses, das Fundament unserer Demokratie muss der gegenseitige Respekt sein und bleiben, denn: Wehret den Anfängen!, beginnt auch hier. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.

Auch Bundesratspräsident Günter Kovacs hat ein paar einleitende Worte für Sie vorbereitet.

Eröffnungsworte des Präsidenten des Bundesrates der Republik Österreich

Günter Kovacs: Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf Sie recht herzlich bei dieser Gedenkveranstaltung willkommen heißen. Eine besondere Freude und Ehre ist es mir, all jene begrüßen zu dürfen, die heute an dieser Veranstaltung mitwirken. Ich danke Ihnen sehr dafür, dass Sie gekommen sind.

Inzwischen ist es schon 25 Jahre her, dass diese Gedenkveranstaltung hier im Parlament, dem zentralen Ort unserer Demokratie, zum ersten Mal stattgefunden hat. Alljährlich gedenken wir am 5. Mai, dem Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, der Opfer des Nationalsozialismus.

Von Beginn an war dieses Gedenken auch mit einer Botschaft für die Gegenwart verbunden, nämlich mit einer klaren Ablehnung von Gewalt und Rassismus. Diese Botschaft für die Gegenwart muss auch Bezug nehmen auf einen Krieg, wie wir ihn in Europa kaum mehr für möglich gehalten haben. Seit mehr als einem Jahr sehen wir die Bilder vom Krieg in der Ukraine, von Zerstörung, von Mord, Flucht und Vertreibung, von Kriegsverbrechen und vom menschlichen Leid, das der russische Angriffskrieg mit sich bringt. Das ist heute wieder die schreckliche und traurige Realität in einem Teil Europas. Wenn wir also heute dieses Gedenken gegen Gewalt begehen, dann müssen wir den Blick auch auf diesen Krieg, auf die Gewalt und auf die Opfer dieses Krieges richten und alles Erdenkliche dafür tun, dass es in Europa wieder Frieden und Sicherheit gibt, dass Menschen in Europa wieder in Freiheit leben können.

Meine Damen und Herren, wir gedenken heute der Opfer des Nationalsozialismus, all jener, die vom NS-Regime und seinen Tätern ermordet wurden, aber auch jener, die überlebt haben und in dieser Zeit Unrecht und unermessliches Leid erfahren haben. Im Mittelpunkt dieses diesjährigen Gedenktages steht die Erinnerung an die Menschen, die im KZ Gusen ermordet worden sind. Bis zu seiner Befreiung im Mai 1945 wurden im KZ Gusen 71 000 Gefangene, verschleppt aus allen Teilen Europas, inhaftiert. Mehr als die Hälfte von ihnen überlebte die Haft nicht. Sie alle wurden Opfer der dort herrschenden unmenschlichen, mörderischen Bedingungen. Im Gedenken verneigen wir uns vor diesen Opfern.

Für das Gedenken unerlässlich sind auch Orte der Erinnerung. „Groß ist die Kraft der Erinnerung, die Orten innewohnt“ – um Cicero zu zitieren. Für die Zukunft des Gedenkens ist es daher ein wichtiger Schritt, dass der dort bestehende Gedenkort erweitert werden soll. Der KZ-Gedenkstätte Mauthausen ist für den Beteiligungsprozess, den sie dafür ins Leben gerufen hat, zu danken.

Für die Zukunft des Gedenkens braucht es Orte, Gedenk- und Erinnerungsstätten, es braucht Gedenktage, es braucht Orte, aber auch das Gedenken selbst, und vor allem braucht es auch Menschen, Persönlichkeiten, die sich unermüdlich dafür einsetzen, dass die Opfer der NS-Zeit nicht in Vergessenheit geraten. Viele dieser Persönlichkeiten sind heute hier bei dieser Gedenkveranstaltung auch anwesend. Ich möchte ihnen von ganzem Herzen für ihren Einsatz, für ihre enormen Verdienste um das Gedenken danken.

Meine Damen und Herren, wir gedenken und erinnern, damit das Wissen um diese Zeit auch heutigen Generationen vermittelt wird. Wir gedenken und erinnern, damit sich die Geschichte nicht wiederholen kann. Von George Santayana stammt der bekannte Satz: Wer die Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen. – Daher ist es wichtig, dieses Wissen weiterzutragen, auch an jüngere Generationen. Aus diesem Wissen entsteht aber auch eine große Verantwortung, und diese Verantwortung ist, die richtigen und die notwendigen Lehren aus unserer Geschichte zu ziehen. Erinnern muss auch das richtige Handeln zur Folge haben.

Dazu gehört, dass wir konsequent gegen Antisemitismus und gegen Rassismus jeglicher Art ankämpfen. Dazu gehört, dass wir uns gegen Gewalt und Hass in unserer Gesellschaft und in der politischen Auseinandersetzung einsetzen. Wir müssen den Anfängen wehren und wachsam sein, wenn es Angriffe auf die Demokratie, auf unsere Werte gibt. Wir müssen die Demokratie verteidigen, denn ohne Demokratie kann es keine Freiheit geben. Und auf dem Boden dieser Demokratie ist auch die Auseinandersetzung für ein menschliches Miteinander, für ein geistig-politisches Klima, das von Toleranz, Offenheit und Respekt getragen ist, zu führen.

Dies gilt es auch zu vermitteln, und ich denke, dass das Parlament der richtige – aber nicht der einzige – Ort dafür ist. Ich denke, dass der heutige Tag der richtige – aber nicht der einzige – Tag dafür ist. Wo auch immer, wann auch immer – es ist unsere Aufgabe und Verantwortung, dem Vermächtnis der Opfer immer gerecht zu werden.

Meine Damen und Herren, der Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel, der den Holocaust überlebt hat, sagte: „Erinnere dich und halte das Gedenken lebendig.“ – Dieser Botschaft folgen wir heute, am 5. Mai, mit der Absage an Gewalt und Rassismus, mit dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. – Danke für die Aufmerksamkeit. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Bundesratspräsident Günter Kovacs.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, freuen Sie sich mit mir auf den nächsten Programmpunkt, auf die Interpretation von Felix Mendelssohn Bartholdys „Ruhetal“, Opus 59, Nummer 5, performt durch das Vokalensemble Momentum Vocal Music. (Beifall.)

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Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Ruhetal“ von Felix Mendelssohn Bartholdy, dargebracht vom Vokalensemble Momentum Vocal Music. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank für diese wunderbare Musik.

Meine Damen und Herren, wenn man sich Konzentrationslager in Österreich in Erinnerung ruft, kommt meist das KZ Mauthausen ins Gedächtnis, aber es gab zahlreiche Außenlager – Dutzende – und Zweigstellen, auch Zwillingslager in ganz Österreich sowie eben auch das KZ Gusen, errichtet im Dezember 1939. Bis zur Befreiung im Mai 1945 wurden dort mehr als 71 000 Gefangene inhaftiert, und – der Bundesratspräsident hat es bereits angesprochen – mehr als die Hälfte hat das nicht überlebt.

Es gibt seit den Sechzigerjahren dort eine Gedenkstätte, und seit Ende der Neunzigerjahre liegt die Verantwortung für diese Gedenkstätte bei der Republik Österreich. Vergangenes Jahr hat die Republik dann noch bedeutende Grundstücke auf dem Areal des ehemaligen KZ Gusen aufgekauft. Die bestehende Gedenkstätte soll jetzt erweitert werden. Dazu gibt es einen sogenannten Beteiligungsprozess. Viele werden darin eingebunden, denn es geht um nicht weniger als um die Zukunft des Gedenkens.

Sehen Sie jetzt eine kurze Filmdokumentation: „Gusen weiterdenken“.

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Es folgt die Einspielung des Films „Gusen weiterdenken“:

Dušan Stefančič (ehemaliger Häftling des KZ Gusen und Ehrenpräsident des Comité International de Mauthausen): Konzentrationslager sind immer eine Sache der Vergangenheit, die man nicht vergessen darf. Das soll immer eine  wie soll ich sagen? – Mahnung sein: Das ist geschehen und das darf nie mehr wieder geschehen! – Deswegen meine ich, dass etwas von den Lagern, wie Gusen, und den Gebieten, wo die Lager waren, bleiben muss, das von dieser Vergangenheit spricht und erzählt, dass da wirklich etwas Schmerzhaftes und Trauriges geschehen ist.

Prof. Guy Dockendorf (Präsident Comité International de Mauthausen): Gusen ist ja neben Mauthausen sicher das größte und wichtigste KZ in Österreich gewesen, und jedes dieser KZs oder Arbeitslager, Vernichtungslager, Konzentrationslager hat eine eigene Bedeutung, aber alle zusammen sind natürlich auch heute noch ein Aufschrei gegen den Naziterror.

Dr. Christian Dürr (KZ-Gedenkstätte Mauthausen): Lange Zeit ist Gusen ja immer als Außenlager des KZ Mauthausen wahrgenommen worden. Das ist historisch gesehen eben nicht ganz richtig. Man spricht jetzt mehr von einem Zweiglager, von einem Zwillingslager. Das Ganze hat den Grund, dass schon ganz zu Beginn, schon kurz nach dem Anschluss, die gesamte Region Mauthausen als auch Gusen bis hin nach Sankt Georgen ein Interessengebiet der SS war und dass es möglicherweise auch schon von ganz früh an Planungen gegeben hat, hier in Gusen ein Lager zu errichten.

Das Zweite, was wichtig ist zu erwähnen, ist, dass speziell in diesen frühen Jahren – 1940/41/42 – Gusen innerhalb dieses Systems tatsächlich ein Ort der Vernichtung war. Wenn man sich zum Beispiel die Sterberaten oder die Todeszahlen in dieser Zeit ansieht, dann sieht man zum Beispiel für das Jahr 1941, dass die in Gusen vier- bis fünf Mal so hoch waren als im Hauptlager Mauthausen.

Was – drittens – an Gusen auch noch speziell ist, ist, dass sich dieses Lager ab dem Jahr 1943 zu einem riesigen, wirklich sehr, sehr großen und wahnsinnig wichtigen Industriekomplex entwickelt hat, mit der Ansiedelung der Steyr-Daimler-Puch AG und Messerschmitt und später dann auch mit dem Bau der unterirdischen Stollenanlage Bergkristall in Sankt Georgen, die eine der größten unterirdischen Rüstungsfabriken im Deutschen Reich war.

Gusen ist am 5. Mai 1945 von der US-Armee befreit worden, ist allerdings – wie die gesamte Region Mühlviertel nördlich der Donau – dann ab August 1945 Besatzungszone der Sowjets geworden. Zur selben Zeit sind die Reste des Lagers innerhalb relativ kurzer Zeit verschwunden. Im Jahr 1955, nach dem Staatsvertrag, ziehen die Sowjets ab und übergeben das gesamte ehemalige Lagergelände der Republik Österreich. Die Republik Österreich hat kein Interesse – das muss man auch ganz deutlich sagen – dort eine Gedenkstätte zu errichten.

Nachrichtensprecher: Es waren harte, entbehrungsreiche Jahre, aber nie hat das österreichische Volk, nie hat die österreichische Regierung aufgehört, mit allen Kräften dem einen, allen gemeinsamen Ziel entgegenzustreben: jetzt ist es erreicht!

Dipl.-Ing. DDDr. h.c. Leopold Figl: Österreich ist frei!

DDr. Barbara Glück (Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen): Nach 1945 war es der allgemeine Konsens – also nicht nur der regionale, politische und auch gesellschaftliche –, dass wir in Österreich einen Ort des Gedenkens brauchen und dass dieser auch genügt, nämlich Mauthausen, und dass sich dort das nationale Gedenken konzentrieren sollte.

Dr. Christian Dürr: Und so entsteht eben hier ab Ende der Fünfzigerjahre eine Siedlung, die auch heute noch besteht, die sozusagen wirklich buchstäblich auf den Fundamenten dieses ehemaligen Lagers errichtet worden ist.

Mag. Andrea Wahl (Bewusstseinsregion Mauthausen – Gusen – St. Georgen): Man hat diese grauenhafte Geschichte verdrängt, vergessen, verschüttet, und es sind wahrlich viele, die aus anderen Regionen, auch aus dem Mühlviertel in die Gemeinden Langenstein oder Sankt Georgen gezogen sind, die das tatsächlich nicht gewusst haben und dann beim Errichten von Häusern auf Überreste gestoßen sind. Gewusst habe es natürlich alle, die in dieser Region, direkt im Ort gelebt haben. Man konnte sich dieser Geschichte nicht entziehen.

DDr. Barbara Glück: Wenn man den Bogen noch weiter spannen möchte, so ist das ja auch immer – ich sage so – ein Spiegelbild dessen, wie Österreich generell mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte umgegangen ist – oder bis in die 1980er-Jahre nicht umgegangen ist.

Prof. Guy Dockendorf: Es war auch das Comité International de Mauthausen, das 1960 damit begonnen hat, privates Geld bei einzelnen Nationen zu sammeln, um in Gusen gegen den Willen der damaligen Regierenden erstens das Krematorium zu retten und zweitens das Memorial zu errichten. Dieses Memorial wurde errichtet, 1965 eingeweiht, und es wurde dann – 32 Jahre später – vom Internationalen Mauthausen-Komitee an die Republik Österreich zu treuen Händen übergeben.

Mag. Andrea Wahl: Es haben dann auch viele zu erzählen begonnen, die eigentlich jahrzehntelang nichts erzählen konnten. Wenn ein Thema enttabuisiert wird, öffentlich wird, dann wird es auch für viele Private leichter, über diese Dinge zu reden.

Christian Aufreiter (Bürgermeister der Gemeinde Langenstein): Einen wunderschönen Vormittag! Schön, dass Sie alle gekommen sind. Es ist mittlerweile der vierte Beteiligungsprozess mit Anrainern, mit den Diplomaten, mit der Bevölkerung. Unser Ziel, glaube ich, muss sein, dass jeder, der von dort weggeht, die Zivilcourage hat, dass er, wenn irgendwo etwas passiert, dann nicht wegschaut, sondern eingreift. Wenn uns das gelingt, dann haben wir das Richtige geschafft.

Dr. Christian Dürr: Ich glaube, dass das zumindest jetzt einmal ganz sicher in Österreich zum allerersten Mal passiert, dass da alle diese Interessen zusammengebracht werden, um etwas Neues gemeinsam zu gestalten, und ich glaube auch, dass es in Europa nur sehr wenige vergleichbare Projekte gibt.

Vermittler: This is one of the areas, the Republic of Austria bought, there are also two more areas. I think some people of you also were here in May? – Yeah, okay than be surprised. (Besucherin: Ach so, da ist schon viel passiert!) – Ja.

Prof. Guy Dockendorf : Der Name sagt es, glaube ich: Beteiligungsprozess. So, wie wir es erklärt bekommen haben, finden wir es erstens gut, dass sämtliche Parteien – die Anrainer, die nationalen Opferverbände in Österreich, die internationalen Opferverbände und auch die internationalen Botschafter –, dass alle diese Menschen gehört werden, informiert werden, zusammenarbeiten und dann an Ideen für ein neues Konzept für eine würdige Gedenkstätte Gusen arbeiten.

DDr. Barbara Glück: Es geht darum, dass wir einen Ort schaffen, der hier im Ort im Alltag, im Bewusstsein der Menschen, die hier leben, integriert werden kann, dass sie das nicht als Fremdkörper sehen, sondern dass das ein Teil von ihnen ist, an dem sie auch mitgewirkt haben, und vielleicht entsteht hier in Gusen – das wünsche ich mir für uns alle – eine Gedenkstätte, wie wir sie noch nie gesehen haben.

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Mag. Rebekka Salzer: Ja, das war eine kurze Filmdokumentation.

Moderiertes Gespräch

Mag. Rebekka Salzer: Wir gehen jetzt gleich in die Diskussion über die Zukunft des Gedenkens in Gusen, aber auch generell über die Gedenkkultur, wie die in den neuen, nachfolgenden Generationen aussehen sollte, ein.

Frau Dr. Glück, „eine Gedenkstätte, wie wir sie noch nie gesehen haben“, haben Sie sich jetzt gerade in dem Beitrag gewünscht. Sie sind die Direktorin der Gedenkstätte Gusen. Jetzt gibt es diesen Beteiligungsprozess – man will alle ins Boot holen –: Was ist denn dabei die größte Herausforderung?

DDr. Barbara Glück: Überlebender Stanisław Zalewski hat uns gestern am Appellplatz in Gusen gesagt, er wünscht sich für diesen Ort, dass die Menschen freiwillig hinkommen, dass es einerseits ein Ort ist, der in der lokalen Bevölkerung in den Alltag integriert ist, aber dass andererseits Menschen hinkommen und auch aus der Geschichte etwas lernen können. Das ist etwas, das gerade in diesem Beteiligungsprozess ausdiskutiert und sozusagen ausverhandelt wird: dass Menschen aus unterschiedlichsten Richtungen, aus denen sie in diesen Prozess einsteigen, aufeinander zugehen und miteinander reden.

Es ist momentan eine sehr gute Gesprächsbasis entstanden, es sind sehr viele Werte entstanden, die ausdiskutiert worden sind, die nun das Fundament dieser Gedenkstätte sein können. Die größte Herausforderung wird sein, dass wir diese nicht nur einmal schaffen, sondern dass wir diese in Gusen bewahren können, weil wir mit diesen Werten auch arbeiten können.

Dazu braucht es ganz, ganz viele – nicht nur uns, die wir an der Gedenkstätte sind, sondern alle, die gestern in Gusen waren und die immer wieder kommen. Wenn man es so sagen will, dann haben wir nicht einen Gedenktag, sondern dann haben wir 365 Gedenktage im Jahr, weil wir jeden Tag vermitteln und wir jeden Tag in diesem Sinn gedenken. Das ist diese große Herausforderung: dass das weiter wächst.

Mag. Rebekka Salzer: Was waren oder sind denn da die verschiedenen Positionen oder die Anliegen der verschiedenen Beteiligten?

DDr. Barbara Glück: Wir haben das auch gestern noch einmal miteinander diskutieren und besprechen können, weil wir auch alle vor Ort waren. Ich glaube, das, wovor jeder vielleicht auch ein bisschen Angst gehabt hat, war: Was könnte denn der andere von diesem Ort erwarten?, egal aus welcher Richtung – ob das Menschen sind, die aus verschiedenen Ländern kommen, aus verschiedenen Opfernationen, die ein Anrecht darauf haben, dass sie hier an diesem Ort ihrer Opfer gedenken können, oder unsere neuen Nachbarn, die ihre Häuser unmittelbar an unseren Grundstücken haben –, also dass dort etwas hingebaut wird, mit dem sie nicht einverstanden sind, dass man einfach nicht miteinander redet.

Man ist jetzt, seit dieser Beteiligungsprozess läuft, seit Sommer letzten Jahres, in Gesprächen draufgekommen, dass man eigentlich – ich will nicht sagen, das Gleiche will – in die gleiche Richtung gehen möchte und dass man gehen möchte und dass man das gemeinsam machen möchte. Das Schwierige am Anfang war, dass man nicht miteinander geredet hat.

Auch der Bürgermeister von Langenstein sitzt heute hier und weiß, wie schwierig es ganz am Anfang war: Da ist man aus dem Ort weggefahren, wenn die Gedenkfeiern waren, man hat überhaupt nicht miteinander gesprochen. – Jetzt ist es selbstverständlich, dass man auf den Appellplatz kommt und dass man sich gemeinsam austauscht und – im Wort Gedenken steckt ja das Wort Denken –, dass man gemeinsam darüber nachdenkt, wie wir uns diesen Ort vorstellen – und das ist bereits Gedenken.

Mag. Rebekka Salzer: Frau Dr. Erker, Sie sind Historikerin und haben viel Erfahrung mit Erinnerungs- und Gedenkpolitik. Die Republik hat im vergangenen Jahr große Teile des Areals gekauft. Warum denn erst jetzt? War das ein längerer gesellschaftlicher Prozess? Warum hat das so lange gedauert?

Dr. Linda Erker: Ich denke, die Geschichte der Konfrontation Österreichs mit den eigenen Verbrechen und mit dem Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus ist paradigmatisch nun in Gusen zu sehen. Wir haben ganz kurz den Ausspruch aus der Mitte der 1950er-Jahre gesehen: „Österreich ist frei!“ – 1950 war eine Zeit, da hat sich niemand dafür interessiert, der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken, da war das Gedenken an die Gefallenen, die ehemaligen Wehrmachtssoldaten im Zentrum. Diese Art der Heldenverehrung und des Gefallenengedenkens hat sich so weit durchgezogen, dass es sehr lange gedauert hat, bis überhaupt der Fokus auf die Geschichte der Verfolgung, der Verfolgten und das Erinnern und Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gelenkt wurde.

Sehen wir uns die Geschichte des heutigen ehemaligen Lagers Gusen an: Wer hat denn beispielsweise in den Fünfzigerjahren mit einem Gedenkstein und dem Krematorium die inoffizielle Gedenkstätte dort begründet? – Es war nicht die Republik Österreich, sondern es waren ehemalige Häftlinge. Das bedeutet, Opfer mussten für sich selber einstehen, Geld sammeln und dort etwas errichten, damit ihr Leiden und das Leiden ihrer Kollegen und Kolleginnen nicht vergessen wurde. Das passt leider sehr gut in die Geschichte Österreichs in der Konfrontation mit den eigenen NS-Verbrechen. Das zog sich, bis 1965 dann tatsächlich die erste Gedenkstätte in Gusen eröffnet wurde, wieder finanziert von – in dem Fall vor allem italienischen – Häftlingen. Diese Art der Frage: Wer ist denn verantwortlich für das gemeinsame Gedenken?, wurde sehr lange an Opferverbände und an Betroffene, also an Opfer ausgelagert.

Ich denke, Österreich hat sich viel zu lange nicht damit konfrontiert, als Tätergesellschaft nicht nur finanziell, sondern vor allem auch in der Verantwortung Respekt zu zollen und in Orten wie Gusen – aber auch die anderen Außenlager seien vielleicht erwähnt, von denen es ja über 40 gibt – vor Ort Verantwortung zu übernehmen. So würde ich das einmal resümieren.

Vielleicht kommen wir noch zur Frage, wie die Zukunft des Erinnerns aussehen soll. – Ich denke, es gilt, hier im Hohen Haus sehr konkrete Vorschläge zu machen und nicht auf einer Ebene des: Nie wieder!, zu bleiben, sondern zu erörtern: Was bedeutet das im Respekt der Geschichte, was alles nicht stattgefunden hat?

Mag. Rebekka Salzer: Aber kann man zum Beispiel sagen, dass beispielsweise die Gedenkstätte Gusen in Polen bekannter war als in Österreich?

Dr. Linda Erker: Das kann ich nicht beurteilen, ich denke aber, dass sich ehemalige polnische Häftlinge maßgeblich daran beteiligt haben, dass Gusen auch in Österreich ein Begriff ist. Sie sind als Zeitzeugen und Zeitzeuginnen gekommen und haben in Gusen versucht, eine Öffentlichkeit zu schaffen, aber sie haben die Aufmerksamkeit, die sie hätten haben sollen, ganz lang nicht erhalten.

Ja, wenn Geld im Ausland gesammelt werden muss, damit in Österreich etwas stattfindet, dann ist etwas schiefgegangen. Internationalität ist etwas außerordentlich Tolles, aber nur dann, wenn auch die nationale Ebene sagt: Ja, das ist unsere Geschichte!, und man eben nicht nur von außen einmahnen lässt, was da fehlt, sondern selbst Initiative ergreift und Hand anlegt – also ich denke, nicht nur von außen die Mahnungen hereinzulassen, sondern eben sofort zu beginnen, weiter etwas zu ändern.

Mag. Rebekka Salzer: Michel Friedman, Sie sind Jurist, Philosoph, Publizist, Autor, Moderator und jüdischer Abstammung. Sie kennen all diese Initiativen und Gedenkstätten. Was ist denn für Sie das Wichtigste am Gedenken? Gibt es etwas, das Ihnen aus Ihrer Sicht an diesen Gedenkstätten fehlt – auch weil Sie jüdischer Abstammung sind?

Prof. DDr. Michel Friedman: Dazu kommt, dass meine gesamte Familie – außer meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter seligen Angedenkens, weil sie auf Schindlers Liste waren – umgebracht wurde. Erlauben Sie mir deswegen – bevor ich dann noch darauf zurückkomme – eine sehr schüchterne Bemerkung! Ich habe mir lange überlegt, ob ich die Einladung annehme, und ich will Ihnen auch begründen, warum.

Ich habe ein großes Unbehagen. Auf der einen Seite – deswegen habe ich zugesagt – gibt es Millionen, auch Österreicher und Österreicherinnen, auf jeden Fall die jüngeren, die sich auf dem Weg gemacht haben, sich nicht nur der Geschichte zu stellen, sondern sich damit auch engagiert der Demokratie zu stellen. Die Demokratie, wie wir sie nach dem Dritten Reich definiert hatten, lebt auch von den Menschenrechten, vom Verbot der Diskriminierung, von der Würde des Menschen. Der Schriftsteller George Tabori hat gesagt: Jeder ist jemand. – Ich finde das eine wunderbare Übersetzung einer juristischen Sprache in eine kulturelle: Jeder ist jemand. – Das ist die eine Seite.

Die andere Seite ist, dass in diesem Parlament – demokratisch gewählt, was die Partei aber noch nicht zu einer demokratischen Partei macht – eben die Würde des Menschen nicht von allen Menschen hier respektiert wird, dass Menschen von dieser Partei hier diskriminiert werden und dass diese Partei sagt, dass einige niemand sind, jedenfalls Menschen zweiter und dritter Klasse. Ich muss diesen Wermutstropfen in dieser sehr ehrwürdigen Besprechung einsetzen, weil wir ja die Zeugen unserer Zeit sind und weil wir Gott sei Dank nicht am Endpunkt sind – aber ich zitiere Ihre Worte: Wehret den Anfängen!

Vor 20 Jahren hatte ich die Ehre, als Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses am Heldenplatz zu sprechen. Eine halbe Million Österreicher und Österreicherinnen versammelten sich, um zu verhindern, dass diese Partei des Hasses gekoschert wird durch die Partei, die auch hier sitzt und zweimal mit dieser Partei koaliert hat, nämlich die ÖVP. (Beifall.)

Wenn wir also ernsthaft reden von: Wehret den Anfängen!, wenn wir darüber reden – und das nehme ich auf –, dass in einem Parlament der Respekt zwischen allen Meinungen zu herrschen hat, dann frage ich mich als Philosoph: Ist Hass eine Meinung oder ist er ausschließlich Gewalt?, und: Was mache ich denn mit Abgeordneten, die das zwar für sich beanspruchen, aber gleichzeitig den Respekt anderen Menschen nicht zubilligen? – Das sind Fragen, die man sich, glaube ich, außerhalb von Machtpolitik – und das gilt für alle demokratischen Parteien in diesem Haus – stellen muss, wenn man eine solche Veranstaltung macht und glaubwürdig sein will, denn man hört uns ja zu.

Moral und Doppelmoral sind zwar Zwillingsphänomene, aber wir müssen aufpassen, wenn wir über Erinnerung reden – jetzt bin ich bei Ihnen –, dass wir uns, wenn wir die Erinnerung als Zeugen unserer Zeit nehmen, auch gegenseitig anschauen. Wahlkämpfe, die eindeutig mit rassistischen Narrativen gespielt werden, in denen die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, Wahlkämpfe, in denen Menschen gegeneinander aufgehetzt werden, sind nicht nur die Realität unserer Zeit mit einer Partei, die dafür nicht nur gewählt und damit belohnt wird, sondern das Problem, von dem wir reden.

Sie sprachen von 10 Prozent manifestem und 30 Prozent latentem Judenhass. Das gilt für viele Gruppen, die, wo eben das Diskriminierungsverbot die Zivilisation der Gegenwart erzählt, betroffen werden durch den Hass. Wenn ich Erinnerungskultur also ernst nehme, dann erwarte ich, dass dieses Haus glaubwürdiger ist, als es ist. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Jetzt habe ich eine kurze Zwischenfrage, Herr Friedman: Das war jetzt eine sehr explizite Meinungsäußerung. Sie haben gesagt, Sie fühlen ein gewisses Unbehagen, wenn Sie hier sind. Warum haben Sie dann entschieden, hierherzukommen?

Prof. DDr. Michel Friedman: Ich will das noch einmal sagen: Millionen haben sich auf den Weg gemacht, und natürlich gibt es auch politische Entscheidungen, die auch damit zu tun haben, dass man so eine Gedenkstätte heute möglich macht, aber Friede, Freude, Eierkuchen herrscht deswegen noch lange nicht – noch lange nicht, auch in diesem Land nicht. Und um Ihnen, die Sie Antidemokraten sind, das ins Gesicht zu sagen, ist es mir als Demokrat und Parlamentarier die höchste Ehre, das in diesem Parlament zu machen. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Gut, das war eine explizite Meinungsäußerung, eine eindeutige Botschaft – ich habe es schon gesagt –; aber haben Sie noch andere Botschaften, auch zu diesen Initiativen zum Beispiel, die wir da jetzt gerade besprochen haben?

Prof. DDR.: Michel Friedman: Bitte?

Mag. Rebekka Salzer: Beteiligungsprozess in Gusen: ob das sinnvoll ist, ob Sie zu diesen Initiativen noch Ezzes haben?

Prof. Dr. Dr. Michel Friedman: Ja – also ich will es nochmals sagen –, das ist die Motivation. Vielleicht muss man noch einen Gedanken aussprechen: Der Antisemitismus ist ein Phänomen, das sich in der ganzen Welt breitgemacht hat, und das muss man auch sagen, aber die Deutschen haben Auschwitz erfunden, und dann kamen sie in einige Länder, wo sie mit mehr Herzlichkeit begrüßt wurden, und in anderen mit weniger. Dieses Land gehört zu jenen, die sie mit mehr Herzlichkeit begrüßt haben.

Wo sind denn die vielen Nachbarn aufgestanden – jetzt komme ich zu: Wehret den Anfängen! –, die gesehen haben, dass man jüdische Nachbarn abholt, oder die Lehrer und Lehrerinnen, die gesehen haben, dass man die jüdischen Kinder abgeholt hat, wenn sie sie nicht selbst denunziert haben? Die Beteiligung von vielen Menschen, die Verstrickung schon am Anfang, nicht nur was die Vorliebe für Hitler betrifft, sondern auch dieser Judenhass, der auch hier traditionell existierte und dann explodierte, machte also bei nicht wenigen Menschen barbarische Beteiligungen und Aktionen möglich, die nach dem Krieg mit einer weißen Tapete und Legenden kollektiv verdeckt wurden. Natürlich mussten die Repräsentanten auch von Regierungen und Parlamenten darauf achtgeben – und ein Teil von ihnen gehörte übrigens dazu.

Im Jahr 2023 ist die Situation in diesem Land aber eine deutlich andere – es gibt eine jüngere Generation, aber auch eine große politische Bewegung, die ich ausdrücklich begrüße und stärke –, und deswegen können wir auch mehr an die Wahrheit, an den Grundschmerz gehen: Was haben die Großeltern, Urgroßeltern getan? Warum haben sie mit ihren Kindern nicht gesprochen? Die können wiederum mit den Enkelkindern nicht reden, und deswegen auch da jetzt vielleicht eine etwas radikale These: Es gibt keine Erinnerungskultur dort, wo – wie wissenschaftlich in einem Grundstandardwerk Aleida Assmann gesagt hat – kein kommunikatives Gedächtnis stattfindet. – Das ist nämlich eigentlich das, was wir Erinnerungskultur nennen: Die Großeltern erzählen es den Kindern, die Kinder den Enkelkindern, und irgendwann wird es das kollektive gesellschaftliche Gedächtnis.

Nur: Wenn ich mir die Gedächtniserzählungen in Deutschland, aber auch hier anhöre, dann bin ich froh, dass das hoffentlich nicht das kollektive kulturelle Gedächtnis werden wird, und ich glaube, dass es die vierte Generation ist, die die große Chance hat, jetzt zu sagen: Vielleicht müssen wir die erste sein, die anfängt, die zu stärken – die Jugend –, die sich auf diesen Weg macht und damit bewusst Demokraten sein will! – Das ist unsere Aufgabe. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank.

Jonathan Matthews, Sie leiten das Film- und Fotoarchiv der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Die gibt es seit 1953, glaube ich, aber eigentlich schon in den 1940er-Jahren. Was hat sich denn jetzt vom Gedenken her in den letzten Jahrzehnten verändert? Wie ist der Veränderungsprozess vonstattengegangen?

Jonathan Matthews, MA: Ja, aus israelischer Perspektive – wenn ich es in diesem Rahmen vorstellen kann – sind wir jetzt bei einem Generationswechsel von den Zeitzeugen, wobei die Geschichte von sozialen Agenten übertragen wird, zu einer sozialen und historischen Erinnerung, in der Gedenkstätten wie Yad Vashem oder in Österreich Mauthausen und Gusen dafür verantwortlich sind, die Geschichte weiterzuerzählen.

Als Yad Vashem im Jahr 1953 gegründet wurde, war einer von vier Israelis ein Holocaustüberlebender. Das heißt, ich komme zwar nicht aus einer Familie, die eine Holocaustgeschichte in der Familie selbst hat – meine Großeltern waren im Krieg in Israel, während der britischen Mandatszeit –, aber ich habe mich mit den Überlebenden selbst getroffen, zum Beispiel meine in Lwów geborene Hebräischlehrerin in der ersten Klasse der Grundschule, die ihre Geschichte erzählt hat, als ich ein sechs-, sieben-, achtjähriges Kind war, dass sie während des Krieges in Leoben mit einem versteckten christlichen Ausweis gelebt hat, bevor sie denunziert wurde und nach Auschwitz geschickt wurde.

Die hat erzählt von Familien, von Verwandten, von ihrer Freundschaft zu Mascha, ihrer beste Freundin – vom Standort einer Person. Bald werden wir die Zeitzeugen in Israel nicht mehr haben. Es gibt in Israel immer noch fast 51 000 Zeitzeugen, aber die sind jetzt um die 90 Jahre alt. Man hat also das Gefühl, dass wir etwas verlieren.

Die Aufgabe in den letzten Jahren, vor allem von Yad Vashem seit 30 oder 20 Jahren, ist zum Beispiel, privates Material zu sammeln, Material von Leuten, die da waren, die etwas von der jüdischen Welt vor dem Krieg zeigen können. Das ist die Lücke, die wir vor 20, 30 Jahren auch hatten: dass es um Zahlen ging, um Grausamkeiten, um Erfahrungen von Lagern und KZs, aber nicht um die Personen. Jetzt sind wir dabei.

Mag. Rebekka Salzer: Ich glaube, es gibt bei Ihnen 550 000 Fotos, 3 500 Filme, etliche Biografien: Wie bereitet man dieses ganze Material so für die Besucher auf, dass es auch wirklich bei den Besuchern ankommt, dass sie auch alles sehen können?

Jonathan Matthews, MA: Ja, Yad Vashem ist ein großes Museum, aber natürlich kann es nicht 550 000 Fotos zeigen – das wäre eine lange Führung durch das Museum –, deshalb müssen wir das Material auch digitalisieren und durch die Onlinearchive zugänglich machen.

Bis heute wurden 70 Prozent des Materials digitalisiert, es fehlen aber noch immer 30 Prozent. Da kommen aber auch moralische Fragen auf: Was machen wir zum Beispiel mit Fotografien, die wir vielleicht nicht im Internet zeigen sollen, weil es um die Ehre und Würde des Menschen, der auf diesem Foto dargestellt wird, geht. In der Vergangenheit war es einfacher, diese Fotos zu zeigen, als heute. Das ist eine moralische Frage, die wir gerade in Yad Vashem diskutieren.

Zweitens: Wir bekommen im Durchschnitt jedes Jahr 10 000 neue Fotos. Da stellt sich natürlich auch die Frage, wie man so viel Material registrieren kann, wie man die Menschen, die auf den Fotos sind, identifizieren kann. Das ist ein schwieriges Problem. Vor 20 Jahren haben wir das Glück gehabt, dass wir Zeitzeugen finden konnten und wir ihnen Fragen stellen konnten: Wer ist das auf dem Foto? – Das ist meine Mutter, das ist mein Vater, das sind meine Geschwister.

Jetzt kommen die Fotos hauptsächlich von Kindern von Holocaustüberlebenden; der Holocaustüberlebende ist mittlerweile gestorben, die Kinder haben nichts mit den Fotos zu tun und sie kennen auch niemanden auf den Fotos. Wie finden wir neue Methoden, die Menschen zu identifizieren und ihre Gesichter zurückzubringen?

Mag. Rebekka Salzer: Frau Dr. Glück, Herr Matthews hat es gerade angesprochen: Die Zeitzeugen sind bald nicht mehr da. Wie kann man denn den jungen Menschen die Geschichte näherbringen und ihnen dazu etwas sagen – das ist ein Satz, den Sie sehr oft sagen –: Was hat das eigentlich mit mir zu tun?

DDr. Barbara Glück: Mir gehen momentan auch noch sehr viele Gedanken durch den Kopf, auch aufgrund meiner Vorredner. Das wissen wir ja auch nicht erst seit gestern, dass Gedenken höchst politisch, gesellschaftspolitisch ist, und dass es immer wieder darum geht, dass wir unsere heutige Thematik, unsere heutigen Gedanken und das, was heute in unserer Demokratie vermeintlich falsch läuft, nicht falsch läuft, was am Thema ist, in die heutige Veranstaltung, an unsere Orte mitbringen.

Weil wir auch davon gesprochen haben, dass nicht nur Gusen, sondern unsere Arbeit als Ganzes wahrscheinlich ein Beteiligungsprozess ist, darf ich alle Damen und Herren, die heute hier sind, einladen, bei diesem Beteiligungsprozess dabei zu sein. Kommen Sie einfach alle zu uns! Kommen Sie einmal an die Gedenkstätte Mauthausen! Kommen Sie zu uns nach Gusen und seien Sie ein Teil dieses Beteiligungsprozesses! Kommen Sie zu uns und nicht nur wir zu Ihnen! Ich weiß, dass viele von Ihnen auch an unsere Orte kommen und treue Begleiter der Gedenkarbeit sind, aber werden Sie alle ein Teil unseres Beteiligungsprozesses. Geben Sie uns einmal die Chance, dass Sie zu uns kommen und wir uns mit Ihnen unterhalten und gemeinsam mit Ihnen darüber nachdenken, was uns wichtig ist.

Auch Sie, Herr Friedman, kommen Sie zu uns!

Prof. DDr. Michel Friedman: Ich bin bestimmt bald bei Ihnen.

DDr. Barbara Glück: Das weiß ich, das haben wir uns schon vorher ausgemacht. Das ist mir aber wirklich wichtig, zu sagen, weil – Linda, das hast du vorhin gesagt – Sie nach der Bedeutung gefragt haben, ob Gusen in Polen eine größere Bedeutung hatte als in Österreich: Was, glaube ich, oft unerwähnt bleibt, ist das unermüdliche Engagement der lokalen Gedenkinitiativen – zum Beispiel vom Gedenkdienstkomitee; Martha Gammer ist heute auch da –, die über Jahrzehnte hinweg an diesem Ort Gedenkarbeit geleistet haben - -

Mag. Rebekka Salzer: Aber das sind ja dann die Opfer.

DDr. Barbara Glück: Nein, das sind nicht die Opfer. Das ist eine lokale Initiative, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, dass wir darüber Bescheid wissen, was in Gusen passiert ist, dass Menschen kommen können.

Noch etwas – das möchte ich noch kurz sagen –: Auch die Bewusstseinsregion, die, die diese Region für sich selber – nicht, weil sie müssen, sondern für sich selber! – als Menschenrechtsregion ausgerufen haben: Ich glaube, dass das ein sehr wichtiges Symbol ist.

Und weil Sie gesagt haben, dass wir die vierte Generation stärken sollen: Jetzt bin ich die dritte, daher bitte ich auch, meine Generation zu stärken, die wir an diesen Orten arbeiten, aber wir machen es für unsere Kinder und für unsere Enkelkinder! (Beifall.)

Prof. DDr. Michel Friedman: Das ist übrigens die berechtigte Hoffnung. Ich will das noch einmal sagen: Schon die zweite Generation, also die Kinder der Mitläufer, der Verstrickten, hat eine unglaubliche Leistung versucht, die dritte hatte es dann schon etwas einfacher, und es sind in der Tat die zweite und die dritte Generation, die diese Aufgabe haben.

Ich will nur noch auf das Kernproblem der Jetztdiskussion von Erinnerungsarbeit hinweisen: Es gibt nur noch so wenige Überlebende! – und auch da eine ernst gemeinte Nachdenklichkeit einführen. Schon vor 20 Jahren wurde ich von vielen engagierten Lehrern, Lehrerinnen und Gruppen angerufen, als ich im Zentralrat und auch in den anderen Funktionen war, die mir gesagt haben, sie wollen das mit den Kindern in der Schule intensiv bearbeiten und sie suchen Überlebende, aber es gibt so wenige, die dann auch kommen. – Ich habe dann immer gesagt, es ist wichtig, dass auch junge Leute empathisch verstehen, was den Menschen angetan wurde, bis ich eines Tages – vielleicht war ich auch schlecht gelaunt – einem dieser Lehrer, der wieder anrief, dann ins Telefon reingerufen habe: Es gibt Millionen Zeitzeugen! Fragen Sie Ihren Vater! Fragen Sie Ihre Großmutter!

Warum habe ich das getan? – So wichtig es ist, zu wissen, was den Menschen angetan wurde und denen das Wort zu geben, lernt man doch nur, wie es zu diesem Endpunkt der Gewalt, von dem Sie, sehr geehrter Parlamentspräsident Sobotka, gesprochen haben, kommt, wenn man weiß, wie es durch diese Anfänge und verbrecherischen Kleinstdelikte erst einmal – so sieht es aus – zu einer Verstrickung und zu einer Gewöhnung und zu einer Veränderung des eigenen Rückgrates und der eigenen Werteberechnung kommt, um dann immer weiter und immer weiter zu gehen. Das heißt, wir haben es in den Erinnerungsarbeiten – und auch das ist wahrscheinlich das Ergebnis von dieser Verkleisterung, Vermauerung – nie richtig geschafft, dass die Perspektive für junge Menschen ja bedeutet: Wie passiert das denn?

DDr. Barbara Glück: Also, ich glaube nicht, dass wir es nie richtig geschafft haben - -

Mag. Rebekka Salzer: Frau Dr. Erker möchte etwas sagen. – Bitte.

Dr. Linda Erker: Ich denke, hier können wir sehr gut einhaken: Ich möchte einerseits aus dem Bereich der Forschung auch ganz stark einmahnen, den Bereich der Täterforschung viel stärker zu machen. (Friedman: So ist es!) Ich denke, es ist absolut wichtig, Veranstaltungen wie heute zu haben und an die Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken.

Aber: Wer hat sie zu Opfern gemacht? – Wir müssen ganz klar von Tätern und Täterinnen in Österreich, aus Österreich sprechen. Ich denke, abseits der Forschung, die natürlich absolut wichtig ist – ich komme von der Universität Wien, Sie werden sich also nicht wundern, dass der Punkt relevant ist –, die vierte Generation hat nun die Möglichkeit – ich hatte vorhin angekündigt, ich möchte etwas Praktisches vorschlagen –; ich möchte sie dazu aufrufen, in einer internationalen Jugendbegegnung zu sagen: Wir sammeln aus Österreich, Deutschland, aber auch aus Ländern, wohin ehemalige Österreicher vertrieben wurden, wir stellen eine Jugendbegegnung zusammen und schauen uns alle gemeinsam die Biografien – also auch die Biografien der österreichischen Teilnehmer:innen – an! Dort finden wir auch ganz viel Geschichte von Mittäterschaft und Täterschaft. Erst dann, denke ich, können wir wirklich konstruktiv davon sprechen, dass wir heute aktiv gedenken, erinnern und Geschichte mit der Gegenwart verknüpfen.

Wenn wir das nicht schaffen – uns auch in Österreich ganz genau auf die Finger zu schauen –, wird es irgendwann nur noch eine Performance sein, die wir irgendwie abhalten, und nicht mehr die Frage, wie wir an so einem wichtigen Tag den Opfern des Nationalsozialismus gedenken, mit Inhalt gefüllte. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Ganz kurz bitte, Frau Dr. Glück, ich möchte Herrn Matthews dann auch noch einmal zurückholen.

DDr. Barbara Glück: Kurz noch einmal auf die Frage der Zeitzeugen und die Jugendbegegnung zurückkommend, es ist heute ja auch eine Schulklasse da: Wir haben ja übernächste Woche im Rahmen unseres Beteiligungsprozesses auch eine internationale Jugendbegegnung aus vier verschiedenen Ländern, die an den Ort kommen, nach Gusen kommen und genau das machen, was wir im letzten halben Jahr gemacht haben – sich auch über die Pläne setzen, auch an diesen Ort kommen –, und wir stellen Ihnen die Frage: Was erwartet ihr euch denn? Wie stellt ihr euch vor, dass ihr diesen Platz gestaltet haben möchtet, dass ihr gerne wiederkommt?

Zu den Zeitzeugen: Das wissen wir, glaube ich, hoffentlich alle, dass es ein unglaubliches Privileg ist, dass wir heute Überlebende bei uns zu Gast haben. Das ist aber keine Selbstverständlichkeit mehr, und wir wissen, wie bitter es ist, wenn wir Gedenkfeiern haben, wenn keiner mehr kommt, wenn wir Vermittlungsarbeit an den Gedenkstätten leisten und wir nur noch ihre Erinnerungen erzählen können. Genau dann sind aber wir gefragt. Ein Überlebender hat einmal zu mir gesagt: Ihr könnt euch ja nicht erinnern, ihr wart nicht dabei. – Wenn wir dann die Biografien hören: Es ist ja auch genau die Aufgabe von Gedenkstätten, dass wir diese Biografien nicht nur sammeln, dass wir nicht nur versucht haben, Überlebende zu interviewen, sondern dass wir diese Lebensgeschichten weitergeben, dass wir anhand dieser Biografien zeigen, wie schnell ein Leben zerstört werden, ausgelöscht werden kann, wie schnell man Familien zerstören kann. Genau darum geht es in dieser Vermittlungsarbeit.

Prof. DDr. Michel Friedman: Und wie schnell können solche Orte des Mordens, des Massenmordens, der größten Menschheitsverbrechen, die es je gab, eingeplant werden und dann zu Eigentumswohnungen oder Reihenhäusern umgebaut werden, damit durch den neuen Beton ja nicht die Täter oder Mitläufer daran erinnert werden, dass sie Verantwortung tragen?

Das, denke ich, ist jetzt ein neues Kapitel, und dieses neue Kapitel begrüße ich und will ich stärken.

Wir reflektieren das, auch in diesem Haus. Das sind politische Entscheidungen, die vor 50 Jahren durch ganz andere politische Entscheidungen zugedeckt wurden, und wir graben das aus.

Nur: Jedes überlebende Opfer, das hier ist, ist Opfer geworden, weil es Täter gab, und wenn man von der Opfergeschichte erzählen will, ist es unsere Pflicht, jungen Menschen deutlich zu machen: Das waren keine verrückten Sadisten (Glück: Nein!), sondern es waren Menschen wie du und ich!, und dass der Boden der Zivilisation, wie wir es ja jetzt sehen, sehr dünn ist und sehr schnell reißen kann.

Mag. Rebekka Salzer: Ich möchte Herrn Matthews noch ins Boot holen, Herr Friedman.

Prof. DDr. Michel Friedman: Das ist Erinnerungsarbeit: darüber mitzureden. (Glück: Vollkommen richtig!) Darauf muss ich bestehen. (Glück: Vollkommen richtig!)

Das ist übrigens für mich die Stärkung des Demokratischen: wenn wir eben nicht so mit Menschen umgehen und wir nicht wollen, dass mit uns so umgegangen wird. – Dann brauchen wir übrigens für die Zukunft viel weniger Angst zu haben. Ich habe aber leider viel Angst, weil davon noch zu wenig da ist. (Beifall. – Glück: Ich gebe Ihnen vollkommen recht!)

Mag. Rebekka Salzer: Herr Matthews, jetzt ist Yad Vashem eine Gedenkstätte, wo weder Opfer noch Täter vor Ort waren, so wie in Gusen oder in Mauthausen, wie unterscheidet sich aber denn die Gedenkstätte selbst, aber auch die Vermittlungsarbeit von Ihnen, von Mauthausen und Gusen zum Beispiel?

Jonathan Matthews, MA: Ich glaube, der große Unterschied zwischen Orten wie Mauthausen oder Auschwitz in Polen sowie anderen Tatorten und Yad Vashem ist, dass Yad Vashem ein geschichtsneutraler Ort ist. Das heißt, am Ort von Yad Vashem selbst ist nichts passiert, und das ist ein Vorteil und gleichzeitig ein Nachteil: ein Nachteil, weil man das Gebäude vom Lager nicht sieht, aber ein Vorteil, weil es erlaubt, auch Geschichte in der Peripherie des Holocausts zu erzählen, wie zum Beispiel: Was ist mit den Juden in Nordafrika geschehen – in Libyen, in Tunesien –, die gar nicht nach Europa gekommen sind, weil sie schon dort ermordet worden sind? Das ist also der eine große Unterschied zwischen Yad Vashem und anderen Gedenkstätten, die in Europa tätig sind.

Unser Fokus in Yad Vashem liegt auf den Opfern, das ist unsere Rolle. Das ist eine Gedenkstätte, die für Opfer von Opfern gemacht wurde und wo jetzt schon Kinder der Opfer, die dritte Generation, die vierte Generation arbeiten und in Yad Vashem tätig sind.

Das ist kein Wettbewerb zwischen Gedenkstätten, wer das richtig macht, ich glaube, es ist wichtig, dass jede Gedenkstätte andere Punkte hat, die für die Gesellschaft relevant sind, und meine Hoffnung ist, dass Menschen, wenn sie zu einer Gedenkstätte wie Yad Vashem kommen, eine Annäherung an die Opfer erleben. Sie sehen die Opfer als Menschen und nicht als Zahlen, Teil der Statistik oder der Geschichte und sehen nicht nur Bilder von Grausamkeiten, sondern Bilder von Familien, Verwandten und persönliche Briefe. Wenn man nach Mauthausen oder nach Gusen kommt, dann hat man natürlich die Erwartung, dass zum Beispiel die Frage der Täter eine wichtigere Rolle spielt, als es sie zum Beispiel in Yad Vashem spielen würde oder spielen soll.

Prof. DDr. Michel Friedman: Yad Vashem macht die Arbeit, die die Länder, wo die Morde stattgefunden haben, nicht gemacht haben. Sie gibt den Opfern neben den Nummern ihre Biografien und ihre Leben zurück, und dafür ist großer Dank auszusprechen. (Beifall.)

Jonathan Matthews, MA: Danke schön.

Mag. Rebekka Salzer: Die Regie sagt mir gerade, wir haben jetzt noch 3 Minuten. – Bitte sehr.

DDr. Barbara Glück: Ich würde das gerne unterstreichen, weil das, was, glaube ich, bei unserer Arbeit auch ganz wichtig zu betonen ist, ist, dass ohne diese Zusammenarbeit – und gerade zwischen Yad Vashem und der Gedenkstätte Mauthausen reicht diese Zusammenarbeit über 20 Jahre zurück – so viel nicht möglich wäre: Wir könnten – für die vierte Generation, aber auch schon für die dritte Generation – so viel Neues an Vermittlungsprogrammen, an Forschungsprojekten nicht auf die Reihe bringen, und da reden wir nicht nur von internationalen Kooperationen. Ich weiß, dass auch sehr viele nationale Partner:innen von uns heute hier sind, wie das Mauthausen-Komitee Österreich, das Dokumentationsarchiv, der Nationalfonds, so viele unterschiedliche Einrichtungen, ohne die es gar nicht geht – es geht nur gemeinsam –, und das möchte ich bitte hier hervorheben. Wir leisten hier in Österreich wirklich sehr, sehr wertvolle Bildungsarbeit für junge Menschen. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Jetzt haben wir nur mehr eineinhalb Minuten, und deswegen bitte ganz kurz und prägnant, in einem Satz zu antworten – das gilt wirklich für alle –: Was wünschen Sie sich denn für die Zukunft, also wie soll die Zukunft des Gedenkens aussehen? – Ich fange gleich noch einmal bei Ihnen an.

DDr. Barbara Glück: Das ist jetzt gemein; in einem Satz geht das irgendwie schwer.

Mag. Rebekka Salzer: Oder in einem Wort: Welches Wort fällt Ihnen ein, wenn Sie an die Zukunft des Gedenkens denken?

DDr. Barbara Glück: Das geht irgendwie auch nicht – nein. (Heiterkeit.)

Es geht nur gemeinsam.

Mag. Rebekka Salzer: Das ist ein kurzer Satz. – Bitte sehr.

Dr. Linda Erker: Ich denke, wir müssen auch dorthin gehen, wo es wehtut, und das ist die eigene österreichische Zeitgeschichte im Kontext Täterschaft.

Mag. Rebekka Salzer: Auch für Sie, Herr Friedman: Nur ein Satz.

Prof. DDr. Michel Friedman: Jeder ist jemand. – Arbeiten wir daran. (Beifall.)

Jonathan Matthews: Ich würde sagen, dass das Erinnerungsökosystem und das Gedenkkulturökosystem nicht nur zusammenarbeiten, sondern auch keine Angst vor den modernen Technologien haben und diese Technologien nutzen sollen, um die Geschichte weiterzuerzählen. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank. (Matthews: Danke!)

Vielen Dank für diese sehr lebhafte, spannende Diskussion.

Hier geht es jetzt wieder mit Musik weiter, nämlich mit dem „Kyrie“ aus der „Missa Brevis“, performt vom Vokalensemble Momentum Vocal Music unter der Leitung von Simon Erasimus. (Beifall.)

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Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Kyrie“ aus der „Missa Brevis“ von Krzysztof Penderecki, dargebracht vom Vokalensemble Momentum Vocal Music. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank dem Vokalensemble Momentum Vocal Music.

Bevor wir zum nächsten Programmpunkt kommen und während hier im Saal jetzt umgebaut wird, möchte ich Ihnen ein paar Beispiele für Initiativen des Parlaments im Bereich Gedenkkultur und Antisemitismusbekämpfung nicht vorenthalten, zum Beispiel Hashtag We Remember, das ist die Gedenkinitiative für die Opfer des Holocaust am 27. Jänner, dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Auch das österreichische Parlament hat sich dieser Initiative angeschlossen.

Jährlich am 5. Mai, also wie heute, gibt es eine Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, ebenso am 9. November anlässlich des Gedenkens der Novemberpogrome 1938 – zum Beispiel auch im Rahmen der Demokratiewerkstatt –, und seit dem Jahr 2021, also erst seit Kurzem, wird der Simon-Wiesenthal-Preis vergeben, und zwar vom Nationalfonds für besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und für die Aufklärung über den Holocaust.

Das waren beispielhaft einige Initiativen, meine Damen und Herren.

Lesung von Opfer-Biografien

Mag. Rebekka Salzer: Wir sind auch schon beim nächsten Programmpunkt. Es werden Ihnen jetzt gleich drei Menschen vorgestellt, Menschen, die im KZ in Gusen interniert waren. Es sind drei Biografien von Opfern des Nationalsozialismus, es sind drei Geschichten und es sind drei Gesichter, die stellvertretend für alle Opfer des Nationalsozialismus stehen.

Die drei Biografien werden von Mitarbeitern der KZ-Gedenkstätten Mauthausen und Gusen verlesen. Ich darf die Vorlesenden in dieser Reihenfolge auf die Bühne bitten: zunächst Stephanie Kaiser, Mitarbeiterin der Forschungsstelle an den KZ-Gedenkstätten Mauthausen und Gusen – bitte sehr –, danach Julius Sevcik, Mitarbeiter der Öffentlichkeitsarbeit der beiden Gedenkstätten und Marlene Wöckinger, Vermittlerin an diesen beiden Gedenkstätten. (Beifall.)

Dr. Stephanie Kaiser: Johann Reinhardt wurde am 11. Oktober 1900 in Steinenkirch im heutigen Baden-Württemberg geboren. Er verstarb am 2. Februar 1942 in Gusen. Die Historikerin und Autorin Ingrid Bauz schrieb seine Biografie für den virtuellen Raum der Namen.

Johann Reinhardt wohnte mit seiner Frau Emma und den vier Kindern in Sindelfingen bei Stuttgart. Er arbeitete als Händler und Bauhilfsarbeiter. Emma Reinhardt war bei der Firma Daimler-Benz beschäftigt. Die Reinhardts waren Angehörige der Minderheit der Sinti, damals landläufig als Zigeuner bezeichnet. Lange bevor die Nationalsozialisten politische Macht innehatten, begegnete die Mehrheitsgesellschaft den Sinti mit Misstrauen und vielerlei Vorurteilen. Sie wurden von den Polizeibehörden schikaniert und in einer sogenannten Zigeunerdatei erfasst. Laut nationalsozialistischer Rassenideologie waren die Sinti eine – unter Anführungszeichen – „fremdrassige“ Minderheit und galten als – ebenfalls unter Anführungszeichen – „geborene Asoziale“.

Johann Reinhardt und seinen Vater Franz Anton Reinhardt nahm die Kriminalpolizei am 7. Juni 1938 fest. Sie gehörten zu den mehr als 10 000 Männern, die bei der reichsweiten Verhaftungsaktion mit der Bezeichnung Arbeitsscheu Reich in Konzentrationslager deportiert wurden. Vater und Sohn Reinhardt waren nicht die einzigen Sinti, die man damals trotz eines festen Wohnsitzes und Arbeitsplatzes festnahm, obwohl die systematische Entrechtung und Verfolgung der Sinti und Roma offiziell erst später einsetzte. Ab März 1939 wurden ihre deutschen Pässe eingezogen und durch mit Z gekennzeichnete sogenannte Rasseausweise ersetzt. Ab 1941 wurden sie in die Vernichtungslager verschleppt.

An jenem 7. Juni 1938 begann für Johann Reinhardt eine mehrjährige Odyssee als KZ-Häftling, der den schwarzen Winkel der Kategorie Asozialer auf seiner Kleidung zu tragen hatte. Er war im KZ Dachau, im KZ Mauthausen und im KZ Buchenwald inhaftiert. Im Mai 1941 kam er ins KZ Gusen. Dort starb Johann Reinhardt schließlich am 2. Februar 1942 im Alter von 42 Jahren an den Folgen der jahrelangen systematischen Unterernährung und harten Arbeit.

Seine Frau Emma Reinhardt wurde ins KZ Auschwitz deportiert und kam dort am 7. Februar 1943 ums Leben. Ihre Kinder Rosina, Sonja, Franz und Johann waren zu dem Zeitpunkt zwischen zehn und 17 Jahren alt. Ihnen blieb die Deportation in ein Konzentrationslager erspart. Sie lebten fortan bei den Großeltern. Großvater Ferdinand verdiente den Lebensunterhalt für die Familie, indem er aus gesammeltem Holz Kochlöffel schnitzte und sie bei Bauern gegen Lebensmittel eintauschte. Sie überlebten die Nazidiktatur.

Ermordet wurden neben Johann und Emma Reinhardt sechs ihrer Brüder, eine Schwester sowie drei kleine Nichten und Neffen.

Julius Sevcik: Wiktor Ormicki wurde am 1. Februar 1898 in Krakau, Polen, geboren. Von Beruf war er Geograf. Er wurde als Jude in den KZ-Komplex Mauthausen-Gusen deportiert. Verstorben ist er am 17. September 1941 in Gusen. Der polnische Geograf Antoni Jackowski verfasste eine ausführliche Biografie und einen wissenschaftlichen Nachruf für den virtuellen Raum der Namen.

Wiktor Ormicki studierte Geografie an der Jagiellonen-Universität in Krakau. 1926 wurde ihm die Doktorwürde verliehen und 1930 erreichte er mit seiner Habilitation den höchsten Hochschulabschluss. Wiktor Ormickis universitäre Laufbahn fand ihre Krönung, als er im Juni 1928 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. Sein wissenschaftliches Werk umfasst über 150 Abhandlungen. Er beschäftigte sich thematisch hauptsächlich mit Bevölkerungsfragen sowie mit Regional- und Wirtschaftsgeografie.

Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Wiktor Ormicki befand sich unter der Gruppe von Professoren, die am 6. November 1939 im Rahmen der sogenannten Sonderaktion Krakau mit dem Ziel festgenommen wurde, die polnische Intelligenz nach der deutschen Eroberung Polens zu vernichten. Wiktor Ormicki wurde ins KZ Sachsenhausen verschleppt. Trotz internationaler Proteste wurden er und seine Professorenkollegen nicht aus dem Konzentrationslager entlassen. Gemeinsam mit anderen Krakauer Gefangenen kam er im März 1940 ins KZ Dachau. Knapp ein halbes Jahr später wurde er ins KZ Gusen verlegt.

Bis zum letzten Atemzug gab er weder seine wissenschaftliche Arbeit noch seine Bemühungen auf, geografisches Wissen unter den Mitgefangenen zu verbreiten. Zu den Vorträgen – offiziell waren solche Aktivitäten verboten und wurden mit dem Tode bestraft – versammelten sich bis zu 200 Mithäftlinge. In Gusen schrieb er zwei Abhandlungen: „Probleme der Besiedlung der Erdkugel“ sowie „Probleme der Besiedelung von Wüstengebieten und die Versorgung der Bevölkerung mit Wasser.“ Diese Arbeiten kursierten unter den Häftlingen, die sich auf einer Warteliste eintragen mussten, um sie lesen zu können. Leider hatte der letzte Leser aus Angst vor einer angekündigten Durchsuchung beide Manuskripte vernichtet.

Am 16. September 1941 erhielten die Lagerfunktionäre den Befehl, binnen 24 Stunden acht Juden zu ermorden. Einer von ihnen war Wiktor Ormicki. Ermordet wurde ein hervorragender Geograf, einer der Erschaffer des polnischen Regionalismus und der polnischen Humangeografie; der bedeutendste polnische Geograf der jüngeren Generation zu dieser Zeit. Es ist unbekannt, wo Wiktor Ormickis Asche beigesetzt wurde. Sein symbolisches Grab befindet sich auf dem Friedhof Rakowicki in Krakau. Posthum erfuhr er durch die Jagiellonen-Universität zahlreiche Ehrungen.

Marlene Wöckinger: Ich lese aus einem Ereignisbericht, in welchem sich Jan Topolewski, geboren 1890 in Litauen, an die letzte Begegnung mit seinem Vater, ebenfalls Jan Topolewski, zurückerinnert:

Wir, die wir den Aufstand vom August 1944 in Warschau überlebt hatten, wurden aus den Häusern getrieben und zum Bahnhof gejagt. Wir wurden in das Lager Auschwitz-Birkenau deportiert. Nachdem man uns unter Schreien und Schlägen aus den Waggons getrieben hatte, begannen die Wachleute im Lager mit den üblichen Prozeduren. Sie raubten uns alles. Während der Mikwa, der Rasur, nahmen sie meinem Vater sein Bruchband ab. Das ist von entscheidender Bedeutung für sein weiteres Lagerschicksal. Kurz vor dem Beginn des Warschauer Aufstands sollte der Leistenbruch meines Vaters operiert werden, allerdings blieb dafür keine Zeit, weshalb er dieses Bruchband trug.

Wir waren längere Zeit in den Quarantäneblocks, bevor man uns wieder auf Transport schickte. Nach mehreren Tagen im Zug ohne Wasser und ohne Nahrung kamen wir in Mauthausen an. Mein Vater und ich wurden zur Arbeit im Steinbruch eingeteilt, wo wir Steine über die berüchtigte Todesstiege trugen. Ich hatte nicht genug Kraft, um einen Stein zu tragen, dessen Größe die Aufseher als zufriedenstellend ansahen. Ich nahm deshalb einen großen, aber flachen Stein, der etwas leichter auf den Schultern lastete. In der Kolonne verdeckte mein Vater, der einen Stein in der vorgeschriebenen Größe trug, den Blick der Kapos und der SS auf mich.

Nach einigen Tagen des Steinetragens spürt mein Vater die Auswirkungen des fehlenden Bruchbands. Bei der Rückkehr aus dem Steinbruch sagte er mir mit Tränen in den Augen, dass er es nicht länger aushielte und sich im Krankenrevier melden müsste, da sie ihn sonst auf der Todesstiege erschlagen würden. Am nächsten Morgen verabschiedeten wir uns. Vor der Trennung hatten wir vereinbart, dass wir uns beim selben Block wiedertreffen würden, sollten wir überleben. Zwei Tage nach dem Abschied wurde ich nach Gusen überführt.

Einige Jahre nach der Befreiung erfuhr ich, dass mein Vater im Mai 1945 im KZ Gusen gestorben war. Offensichtlich hatte er mit seinen letzten Kräften auf unser Treffen gewartet. Die Überreste meines Vaters liegen in einem Massengrab auf dem Gelände des ehemaligen KZ Mauthausen. Meine Mutter wurde in Auschwitz-Birkenau ermordet.

So die Erzählung von Jan Topolewski über seinen Vater. Der langjährige Vorsitzende des Klubs ehemaliger politischer Häftlinge des Konzentrationslagers Mauthausen-Gusen verstarb letztes Jahr im hohen Alter von 91 Jahren.

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank für diese wichtigen Texte.

Eine berührende Geschichte fehlt noch, es ist eine sehr besondere. Es ist jene von Stanisław Zalewski. Er sitzt heute hier in unseren Reihen.

Geboren 1925 in Polen hat er in einer Autowerkstatt gearbeitet, die sich ab 1940 innerhalb des Warschauer Ghettos befunden hat. 1943 ist er wegen seiner Tätigkeit in der Widerstandsbewegung verhaftet worden. Er wurde dann ins KZ Auschwitz-Birkenau überstellt, von dort weiter nach Mauthausen und später nach Gusen und Gusen II.

Dort hat er im berüchtigten Stollensystem Bergkristall Flugzeugteile produziert. Am 5. Mai 1945 wurde Gusen befreit. Zalewski ist nach Polen zurückgekehrt, hat geheiratet und eine Familie gegründet. Trotz seines hohen Alters ist er nach wie vor sehr aktiv. Er gibt regelmäßig Interviews und nimmt als Zeitzeuge viele Gelegenheiten für Begegnungen vor allem mit Jugendlichen wahr. Wir haben das heute gehört: Das ist sehr, sehr wichtig.

Ich darf jetzt an Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka übergeben.

Mag. Wolfgang Sobotka: Es ist mir heute eine große Ehre, da er seit Jahren den Weg auf sich nimmt, immer wieder nach Mauthausen, nach Gusen zu kommen, dass er heute das erste Mal auch hier im Parlament bei unserer Gedenkfeier zugegen ist. Wir haben es gestern in dem Interview gehört.

Ich kann Ihnen nur aufrichtig für Ihre Zeitzeugenschaft, für Ihre Arbeit des Gedenkens danken, auch für die Ermunterung, den Weg, den wir in Gusen aufgezeigt haben, fortzuschreiten – schlussendlich auch für die nächsten Generationen –, und ebenso dafür, das Nie-wieder durch ein beredtes Zeugnis wirklich zu unterstützen. In diesem Sinne: ein ganz herzliches Danke für Ihr heutiges Kommen. (Lang anhaltender, stehend dargebrachter Beifall.)

Ich darf Ihnen stellvertretend für all die Zeitzeugen, wie Volvi Klein und andere, die heute hier sind, das Wort übergeben.

Stanisław Zalewski (in Übersetzung durch eine Simultandolmetscherin): Sehr geehrte und verehrte Teilnehmer und Teilnehmerinnen dieser Veranstaltung! Auf der Fahne des Verbands der ehemaligen Häftlinge der Konzentrationslager Mauthausen und Gusen gibt es folgende Schrift: „Wir leben so lange, solange Menschen leben, die sich an uns erinnern“. (Beifall.)

Ich wünsche allen Beteiligten dieser Feierlichkeit, dass sie lange leben, in Gesundheit leben, in Glück leben und dass ihre Taten und Worte ein Beweis für die nachkommenden Generationen und ihre Familien dafür sind: Der Mensch soll dem anderen Mensch ein Mensch sein. – Da ich ein gläubiger Mensch bin, sage ich hier: Amen. (Anhaltender Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Meine Damen und Herren, wir schließen diese Veranstaltung mit den Worten des Zeitzeugens Stanisław Zalewski. Wir sind damit am Ende des Gedenktages angekommen.

Ich darf mich ganz herzlich verabschieden, hier von Ihnen im Bundesversammlungssaal wie von Ihnen zu Hause, geschätzte Damen und Herren. Vielen Dank für Ihr Interesse an dieser wichtigen Veranstaltung – es geht um die Zukunft des Gedenkens.

Wir schließen mit Musik, und zwar mit dem Stück „Elokai“, performt von Shmuel Barzilai und dem Friedrich-Weinreb-Quartett. (Beifall.)

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Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Elokai“, dargebracht von Shmuel Barzilai und dem Friedrich-Weinreb-Quartett. – Beifall.

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Schluss: 12.43 Uhr