Gedenkveranstaltung anlässlich 85 Jahre Novemberpogrome

Donnerstag, 09. November 2023
Es gilt das gesprochene Wort.

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Es ist am heutigen Tag nicht das erste Mal, dass ich bei einer Gedenkveranstaltung wie dieser als Nationalratspräsident vor Ihnen stehe und Worte des Erinnerns, des Gedenkens und des Mahnens an Sie richte. Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie auch von meiner Seite herzlich begrüßt! Sehr geehrte Präsidentin Bures, Präsident Hofer! Werter Herr Vizekanzler, Minister, Exzellenzen! Lieber Ossi Deutsch! Ich freue mich auch, dass der Präsident des European Jewish Congress Ariel Muzicant und der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, der IGGÖ, Präsident Vural hier sind. Herzlich willkommen die Exzellenzen bei unserer Gedenkfeier im österreichischen Parlament!

Nie wieder war das Leitmotiv all meiner Reden und der Reden meiner Vorgängerinnen und Vorgänger. Doch in diesen Tagen – der designierte Botschafter des Staates Israel hat es bereits auf den Punkt gebracht – ist dieses Nie-wieder jetzt. Die Gedenkreden sind in der Gegenwart angekommen, aber dazu müssen wir die gesamte Geschichte erzählen: zum 9. November 1938 und zum 7. Oktober 2023.

Der November 1938 hat eine lange Vorgeschichte. Christliche, nationale und schließlich nationalsozialistische Antisemitismen hatten stets ein Ziel: Jüdinnen und Juden zu dehumanisieren, sie zu vertreiben und schließlich zu vernichten. War die Demokratie erst beseitigt, grölte der Mob auf der Straße, brannten zuerst die Bücher, dann brannten am 9. November 1938 die Synagogen und am Ende des Infernos brannten die Öfen in den Konzentrationslagern.

Auch der 7. Oktober, dieser Bluttag, hat tiefe Wurzeln, dessen Schatten noch lange in die Zukunft reichen werden. Die Strategie der Terrororganisation Hamas und ihrer finanzierenden und trainierenden Handlanger des Mullahregimes im Iran und anderer Länder des Nahen Ostens ist wohl aufgegangen. Wer die Vernichtung Israels zum Ziel hat, darf die Annäherung Israels an seine arabischen Nachbarstaaten nicht zulassen. Obwohl Israel seit Jahren ständigen Raketenangriffen ausgesetzt war – der Iron Dome war ein gewisser Schutz –, war Israel am erfolgversprechenden Weg der Aussöhnung. Die schon greifbare Aussöhnung mit Saudi-Arabien galt es zu verhindern. Wie? – Mit einer Bluttat, mit einem Blutbad am 7. Oktober, das lange minutiös vorbereitet war. Das Schlachten und Morden und Schänden sollte keine Grenzen kennen.

Die Verteidigungsschläge Israels auf Stellungen der Terrororganisation Hamas, kriegsverbrecherisch in oder unter Spitälern, Schulen oder Wohngebäuden eingerichtet, waren von Anfang an zynisch einkalkuliert. Das Kriegsverbrechen, Geiseln zu nehmen, von Babys bis zu dementen Personen, von Zuckerkranken bis zu Rollstuhlfahrern, sollte die militärische Position stärken und sollte vergessen sein, wenn die Welt die Bilder der Verteidigungsschläge Israels sieht. Das doppelte Kriegsverbrechen, die Zivilbevölkerung nicht evakuieren zu lassen und sie menschenverachtend als Schutzschild zu missbrauchen, brachte die richtigen Bilder: Bilder der toten Kinder in Gaza – gezeigt auf ihren Social-Media-Plattformen – mussten weltweit Mitglieder der muslimischen Gemeinschaften auf die Straße bringen.

Der 9. November 1938 und der 7. Oktober 2023 haben eines gemeinsam, nämlich einen Aggressor, der die Juden weltweit vernichten will. Waren es 1938 Hitler und seine Schergen, so sind es heute Ismail Haniyya und seine Hamas-Terroristen. Die Terroristen der Hamas allein sind für das Leid und für die menschlichen Opfer in Israel und im Gazastreifen verantwortlich, und allen zivilen Opfern und vor allem ihren Angehörigen, egal wo sie wohnen, woher sie kommen, welcher ethnischen Zugehörigkeit sie sich verpflichtet fühlen, gilt unser Mitgefühl.

So wie wir heute in einer internationalen Allianz den Naziterror in all seinen Formen und Ausprägungen auf das Schärfste verurteilen, so braucht es heute eine internationale Allianz, die der Terrororganisation Hamas entschieden entgegentritt und jede Relativierung und jede Täter-Opfer-Umkehr bekämpft. Von dieser Stelle aus, an diesem Tag fordern wir einmal mehr: Lassen Sie die Geiseln frei! (Beifall.)

Israel – das hat Minister Habeck sehr treffend ausgeführt – ist weltweit ein Sicherheitsversprechen für alle Jüdinnen und Juden, nach dem Naziterror in einem sicheren Judenstaat ein gesichertes Leben führen zu können. Aus diesem historischen Kontext gilt es heute mehr denn je, zu diesem Sicherheitsversprechen auch zu stehen. Israels Existenz und Sicherheit sind in Österreich weder relativierbar noch verhandelbar. Ausdruck dessen ist auch das Nein Österreichs zur UNO-Resolution vom 27. Oktober dieses Jahres.

So danke ich heute aus tiefem persönlichen Empfinden heraus diesem Hohen Haus und damit allen Parteien dieses Hauses für die einstimmige Erklärung der Solidarität mit Israel. Bei allen Differenzen, die wir naturgemäß im Hohen Haus haben, war das, ist das und bleibt das ein wichtiges Signal: ein Signal der Entschlossenheit, ein Signal der Geschlossenheit, ein unmissverständliches Signal des Anstandes. – Danke dafür. (Beifall.)

So ist unsere Erklärung zu Israel auch gleichzeitig der Ausdruck der Solidarität mit unserer jüdischen Gemeinde, mit allen Jüdinnen und Juden hier in Österreich und in aller Welt. Es ist für mich schwer verständlich – ich denke, für alle von uns –, dass wir in diesen Tagen erkennen müssen, dass sich Menschen auch in Österreich berechtigt Sorgen um ihre Sicherheit machen. Hass und Hetze haben in den sozialen Medien und auf den Straßen nichts verloren.

Wenn ich zuvor von den politischen Auseinandersetzungen gesprochen habe, die auch hier im Hohen Haus bisweilen in hoher Emotionalität geführt werden, so zeichnet dieses Hohe Haus und unsere Demokratie doch aus, dass diese Auseinandersetzungen – stets leidenschaftlich, wie wir sie führen – immer nur mit Worten geführt werden. Gewalt ist mit dem demokratischen Diskurs unvereinbar! Daher auch ganz unmissverständlich: Wir lassen nicht zu, dass Menschen aus unserer Mitte, dass Jüdinnen und Juden heute Angst um ihre Sicherheit haben.

Nie wieder heißt jetzt! Und Nie wieder fordert auch unmissverständliche Konsequenzen beim Schutz unserer politischen Kultur, in der Stärkung der inneren Sicherheit – hier vor allem der Schutz jüdischer Einrichtungen –, im Außenschutz unseres Landes, aber vor allem im entschlossenen Kampf gegen den Antisemitismus. Und das ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von uns, die nicht jüdisch sind, die Aufgabe von uns, die es mit der Demokratie ernst meinen, die Aufgabe von uns, die Religion als Lösung des Problems und nicht in ihrem Missbrauch als Ursache sehen.

Zur wiederholten Klarstellung: Der Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft, an ihren Rändern wird er sichtbar – rechts wie links –, und er wird importiert. Menschen aus Staaten, die den Antisemitismus zur Staatsräson erklären, artikulieren heute offen: From the river to the sea – und alle wissen, was das heißt. In erschreckendem Maße sehen wir in vielen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Amerika, dass diese öffentlichen Aufrufe auch von Gewaltexzessen begleitet werden. Wenn in Österreich diese Parolen skandiert werden, wenn Flaggen Israels zerstört werden und ein Brandanschlag auf einen jüdischen Friedhof in Wien verübt wird, dann sind die roten Linien mehr als überschritten. Unsere Sicherheitskräfte sind dadurch über die Maßen gefordert, zu deeskalieren und die Einhaltung unserer Gesetze auch lückenlos zu kontrollieren. Wir dürfen uns für ihre Arbeit auch von dieser Stelle ganz herzlich bedanken.

Erfreulicherweise werden in Österreich seit Jahren vermehrt Maßnahmen gesetzt, um die Geißel des Antisemitismus umfassend zu bekämpfen. Parlament, Regierung, wissenschaftliche Organisationen, Gedenkstätten und Vereine leisten bemerkenswerte Arbeit. Bildung ist, wie unsere Studie des Parlaments eindrücklich belegt, ein wesentlicher Schlüssel, Antisemitismus wirksam zu bekämpfen: Gebildete und wissende Menschen sind deutlich weniger antisemitisch.

Wichtiger denn je ist darüber hinaus eine effektive Strategie zur digitalen Selbstverteidigung unserer Demokratie, um gegen manipulative, intransparente Plattformen und Internetkampagnen vorzugehen. Wir sehen uns einer Pandemie der Desinformation und Manipulation ausgesetzt. Da braucht es tiefgreifende und entschlossene Maßnahmen. Digitale Plattformen sind wie Onlinemedien, daher müssen sie auch wie Onlinemedien behandelt werden. Und für die Instrumente der künstlichen Intelligenz brauchen wir rigide Registrierungs- und Zulassungsverfahren, klare Kennzeichnungen und Werkzeuge, die uns Deepfakes und Fakenews enttarnen lassen.

Denn eines muss uns klar sein: Die Hetze im Netz, die emotionale Erregung im öffentlichen Raum führen zur Gewalt auf der Straße, und Gewalt bekommt bei uns keine Heimat: nicht in unseren Schulen, nicht in unseren ethnischen Gemeinschaften, nicht auf unseren Straßen und auch nicht anderswo. Indem wir jüdisches Leben in Österreich verteidigen, verteidigen wir auch unsere Demokratie, unsere Werte und unsere gesellschaftlichen Normen. Wer Jüdinnen und Juden in Österreich angreift, greift uns alle an! Deshalb werden wir uns entschlossen zu verteidigen wissen. Das sind wir unseren Kindern und Kindeskindern schuldig. (Beifall.)