Transkript der Veranstaltung:
Gedenkveranstaltung
anlässlich 85 Jahre Novemberpogrome
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(Es folgt ein Musikstück.)
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Lisa Gadenstätter (Moderatorin): Meine sehr geehrten Damen und Herren, einen schönen guten Abend! Ich darf Sie zur Gedenkveranstaltung anlässlich 85 Jahre Novemberpogrome herzlich willkommen heißen.
Herzlich willkommen heißen darf ich zunächst den Gastgeber der heutigen Veranstaltung, den Präsidenten des Nationalrates Wolfgang Sobotka. (Beifall.)
Ich freue mich sehr, die anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der in Österreich anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften willkommen zu heißen und begrüße stellvertretend den Erzbischof von Salzburg und Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz, Seine Eminenz Erzbischof Franz Lackner (Beifall), sowie den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien Oskar Deutsch. (Beifall.)
Ein ganz besonderer Gruß, meine Damen und Herren, ergeht an alle anwesenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Wir freuen uns sehr, Sie heute in unserer Mitte begrüßen zu dürfen, und ich darf an dieser Stelle ganz besonders Benno Kern und seine Familie begrüßen – Benno Kern wird im Rahmen dieser Veranstaltung auch noch aktiv in Erscheinung treten –: Herzlich willkommen! (Beifall.)
Ganz herzlich begrüßen darf ich alle anwesenden Mitglieder der Bundesregierung, an deren Spitze ich Vizekanzler Werner Kogler begrüßen darf. (Beifall.)
Es freut uns außerordentlich, dass zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Corps der Einladung gefolgt sind. Ich möchte stellvertretend den designierten Botschafter des Staates Israel David Roet herzlich willkommen heißen. (Beifall.)
Herzlich begrüßen möchte ich des Weiteren die Zweite Präsidentin des Nationalrates Doris Bures, den Dritten Präsidenten des Nationalrates Norbert Hofer, alle anwesenden Klubobleute, alle aktiven und ehemaligen Abgeordneten zum Nationalrat, zum Europäischen Parlament und Mitglieder des Bundesrates sowie alle anwesenden Vertreterinnen und Vertreter der Gedenkinstitutionen und Gedenkinitiativen. – Herzlich willkommen! (Beifall.)
Namentlich begrüßen möchte ich außerdem Universitätsprofessor Bob Martens und Architekt Herbert Peter, die im Rahmen der heutigen Veranstaltung eine sehr interessante Präsentation halten werden mit dem spannenden Titel „Verlorenes Kulturgut – Die zerstörten Synagogen Österreichs und ihre virtuelle Rekonstruktion“. – Herzlich willkommen! (Beifall.)
Abschließend darf ich natürlich auch jene Personen herzlich begrüßen, die die heutige Veranstaltung musikalisch begleiten werden: den Oberkantor der Israelitischen Kulturgemeinde Wien Shmuel Barzilai; er wird von Dominik Hellsberg an der Geige und Nikos Pogonatos am Klavier begleitet. (Beifall.)
Meine Damen und Herren, wir haben zu Beginn ein sehr eindringliches Lied gehört: „Eli, Eli“ – mein Gott, mein Gott. – Eigentlich ist das ein Gedicht, es wurde 1942 von der ungarischen Jüdin Hannah Szenes geschrieben. Hannah Szenes war eine Widerstandskämpferin, sie war eine Fallschirmspringerin in der britischen Armee. In Budapest wurde sie 1944 während eines Einsatzes verhaftet, gefoltert und ermordet. „Eli, Eli“ ist ein Lied, in dem es aber nicht um Kampf oder um Krieg geht, sondern es geht um die Wertschätzung der Welt, und genau damit haben wir heute die Veranstaltung eröffnet.
Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie jetzt für die Eröffnungsworte den Präsidenten des Nationalrates Wolfgang Sobotka. (Beifall.)
Wolfgang Sobotka (Präsident des Nationalrates): Es ist am heutigen Tag nicht das erste Mal, dass ich bei einer Gedenkveranstaltung wie dieser als Nationalratspräsident vor Ihnen stehe und Worte des Erinnerns, des Gedenkens und des Mahnens an Sie richte. Meine sehr geehrten Damen und Herren, seien Sie auch von meiner Seite herzlich begrüßt! Sehr geehrte Präsidentin Bures, Präsident Hofer! Werter Herr Vizekanzler, Minister, Exzellenzen! Lieber Ossi Deutsch! Ich freue mich auch, dass der Präsident des European Jewish Congress Ariel Muzicant und der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, der IGGÖ, Präsident Vural hier sind. Herzlich willkommen die Exzellenzen bei unserer Gedenkfeier im österreichischen Parlament!
Nie wieder!, war das Leitmotiv all meiner Reden und der Reden meiner Vorgängerinnen und Vorgänger. Doch in diesen Tagen – der designierte Botschafter des Staates Israel hat es bereits auf den Punkt gebracht – ist dieses Nie-wieder jetzt. Die Gedenkreden sind in der Gegenwart angekommen, aber dazu müssen wir die gesamte Geschichte erzählen: zum 9. November 1938 und zum 7. Oktober 2023.
Der November 1938 hat eine lange Vorgeschichte. Christliche, nationale und schließlich nationalsozialistische Antisemitismen hatten stets ein Ziel: Jüdinnen und Juden zu dehumanisieren, sie zu vertreiben und schließlich zu vernichten. War die Demokratie erst beseitigt, grölte der Mob auf der Straße, brannten zuerst die Bücher, dann brannten am 9. November 1938 die Synagogen und am Ende des Infernos brannten die Öfen in den Konzentrationslagern.
Auch der 7. Oktober, dieser Bluttag, hat tiefe Wurzeln, dessen Schatten noch lange in die Zukunft reichen werden. Die Strategie der Terrororganisation Hamas und ihrer finanzierenden und trainierenden Handlanger des Mullahregimes im Iran und anderer Länder des Nahen Ostens ist wohl aufgegangen. Wer die Vernichtung Israels zum Ziel hat, darf die Annäherung Israels an seine arabischen Nachbarstaaten nicht zulassen. Obwohl Israel seit Jahren ständigen Raketenangriffen ausgesetzt war – der Iron Dome war ein gewisser Schutz –, war Israel am erfolgversprechenden Weg der Aussöhnung. Die schon greifbare Aussöhnung mit Saudi-Arabien galt es zu verhindern. Wie? – Mit einer Bluttat, mit einem Blutbad am 7. Oktober, das lange minutiös vorbereitet war. Das Schlachten und Morden und Schänden sollte keine Grenzen kennen.
Die Verteidigungsschläge Israels auf Stellungen der Terrororganisation Hamas, kriegsverbrecherisch in oder unter Spitälern, Schulen oder Wohngebäuden eingerichtet, waren von Anfang an zynisch einkalkuliert. Das Kriegsverbrechen, Geiseln zu nehmen, von Babys bis zu dementen Personen, von Zuckerkranken bis zu Rollstuhlfahrern, sollte die militärische Position stärken und sollte vergessen sein, wenn die Welt die Bilder der Verteidigungsschläge Israels sieht. Das doppelte Kriegsverbrechen, die Zivilbevölkerung nicht evakuieren zu lassen und sie menschenverachtend als Schutzschild zu missbrauchen, brachte die richtigen Bilder: Bilder der toten Kinder in Gaza – gezeigt auf ihren Social-Media-Plattformen – mussten weltweit Mitglieder der muslimischen Gemeinschaften auf die Straße bringen.
Der 9. November 1938 und der 7. Oktober 2023 haben eines gemeinsam, nämlich einen Aggressor, der die Juden weltweit vernichten will. Waren es 1938 Hitler und seine Schergen, so sind es heute Ismail Haniyya und seine Hamas-Terroristen. Die Terroristen der Hamas allein sind für das Leid und für die menschlichen Opfer in Israel und im Gazastreifen verantwortlich, und allen zivilen Opfern und vor allem ihren Angehörigen, egal wo sie wohnen, woher sie kommen, welcher ethnischen Zugehörigkeit sie sich verpflichtet fühlen, gilt unser Mitgefühl.
So wie wir heute in einer internationalen Allianz den Naziterror in all seinen Formen und Ausprägungen auf das Schärfste verurteilen, so braucht es heute eine internationale Allianz, die der Terrororganisation Hamas entschieden entgegentritt und jede Relativierung und jede Täter-Opfer-Umkehr bekämpft. Von dieser Stelle aus, an diesem Tag fordern wir einmal mehr: Lassen Sie die Geiseln frei! (Beifall.)
Israel – das hat Minister Habeck sehr treffend ausgeführt – ist weltweit ein Sicherheitsversprechen für alle Jüdinnen und Juden, nach dem Naziterror in einem sicheren Judenstaat ein gesichertes Leben führen zu können. Aus diesem historischen Kontext gilt es heute mehr denn je, zu diesem Sicherheitsversprechen auch zu stehen. Israels Existenz und Sicherheit sind in Österreich weder relativierbar noch verhandelbar. Ausdruck dessen ist auch das Nein Österreichs zur UNO-Resolution vom 27. Oktober dieses Jahres.
So danke ich heute aus tiefem persönlichen Empfinden heraus diesem Hohen Haus und damit allen Parteien dieses Hauses für die einstimmige Erklärung der Solidarität mit Israel. Bei allen Differenzen, die wir naturgemäß im Hohen Haus haben, war das, ist das und bleibt das ein wichtiges Signal: ein Signal der Entschlossenheit, ein Signal der Geschlossenheit, ein unmissverständliches Signal des Anstandes. – Danke dafür. (Beifall.)
So ist unsere Erklärung zu Israel auch gleichzeitig der Ausdruck der Solidarität mit unserer jüdischen Gemeinde, mit allen Jüdinnen und Juden hier in Österreich und in aller Welt. Es ist für mich schwer verständlich – ich denke, für alle von uns –, dass wir in diesen Tagen erkennen müssen, dass sich Menschen auch in Österreich berechtigt Sorgen um ihre Sicherheit machen. Hass und Hetze haben in den sozialen Medien und auf den Straßen nichts verloren.
Wenn ich zuvor von den politischen Auseinandersetzungen gesprochen habe, die auch hier im Hohen Haus bisweilen in hoher Emotionalität geführt werden, so zeichnet dieses Hohe Haus und unsere Demokratie doch aus, dass diese Auseinandersetzungen – stets leidenschaftlich, wie wir sie führen – immer nur mit Worten geführt werden. Gewalt ist mit dem demokratischen Diskurs unvereinbar! Daher auch ganz unmissverständlich: Wir lassen nicht zu, dass Menschen aus unserer Mitte, dass Jüdinnen und Juden heute Angst um ihre Sicherheit haben.
Nie wieder!, heißt jetzt! Und: Nie wieder!, fordert auch unmissverständliche Konsequenzen beim Schutz unserer politischen Kultur, in der Stärkung der inneren Sicherheit – hier vor allem der Schutz jüdischer Einrichtungen –, im Außenschutz unseres Landes, aber vor allem im entschlossenen Kampf gegen den Antisemitismus. Und das ist unsere Aufgabe, die Aufgabe von uns, die nicht jüdisch sind, die Aufgabe von uns, die es mit der Demokratie ernst meinen, die Aufgabe von uns, die Religion als Lösung des Problems und nicht in ihrem Missbrauch als Ursache sehen.
Zur wiederholten Klarstellung: Der Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft, an ihren Rändern wird er sichtbar – rechts wie links –, und er wird importiert. Menschen aus Staaten, die den Antisemitismus zur Staatsräson erklären, artikulieren heute offen: From the river to the sea – und alle wissen, was das heißt. In erschreckendem Maße sehen wir in vielen Ländern wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Amerika, dass diese öffentlichen Aufrufe auch von Gewaltexzessen begleitet werden. Wenn in Österreich diese Parolen skandiert werden, wenn Flaggen Israels zerstört werden und ein Brandanschlag auf einen jüdischen Friedhof in Wien verübt wird, dann sind die roten Linien mehr als überschritten. Unsere Sicherheitskräfte sind dadurch über die Maßen gefordert, zu deeskalieren und die Einhaltung unserer Gesetze auch lückenlos zu kontrollieren. Wir dürfen uns für ihre Arbeit auch von dieser Stelle ganz herzlich bedanken.
Erfreulicherweise werden in Österreich seit Jahren vermehrt Maßnahmen gesetzt, um die Geißel des Antisemitismus umfassend zu bekämpfen. Parlament, Regierung, wissenschaftliche Organisationen, Gedenkstätten und Vereine leisten bemerkenswerte Arbeit. Bildung ist, wie unsere Studie des Parlaments eindrücklich belegt, ein wesentlicher Schlüssel, Antisemitismus wirksam zu bekämpfen: Gebildete und wissende Menschen sind deutlich weniger antisemitisch.
Wichtiger denn je ist darüber hinaus eine effektive Strategie zur digitalen Selbstverteidigung unserer Demokratie, um gegen manipulative, intransparente Plattformen und Internetkampagnen vorzugehen. Wir sehen uns einer Pandemie der Desinformation und Manipulation ausgesetzt. Da braucht es tiefgreifende und entschlossene Maßnahmen. Digitale Plattformen sind wie Onlinemedien, daher müssen sie auch wie Onlinemedien behandelt werden. Und für die Instrumente der künstlichen Intelligenz brauchen wir rigide Registrierungs- und Zulassungsverfahren, klare Kennzeichnungen und Werkzeuge, die uns Deepfakes und Fakenews enttarnen lassen.
Denn eines muss uns klar sein: Die Hetze im Netz, die emotionale Erregung im öffentlichen Raum führen zur Gewalt auf der Straße, und Gewalt bekommt bei uns keine Heimat: nicht in unseren Schulen, nicht in unseren ethnischen Gemeinschaften, nicht auf unseren Straßen und auch nicht anderswo. Indem wir jüdisches Leben in Österreich verteidigen, verteidigen wir auch unsere Demokratie, unsere Werte und unsere gesellschaftlichen Normen. Wer Jüdinnen und Juden in Österreich angreift, greift uns alle an! Deshalb werden wir uns entschlossen zu verteidigen wissen. Das sind wir unseren Kindern und Kindeskindern schuldig. (Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Amir Ohana, meine Damen und Herren, der Präsident der israelischen Knesset, wäre heute sehr gerne zur Gedenkfeier angereist, aber die Ereignisse in seinem Land machen es ihm unmöglich; er hat Ihnen allen aber Grußworte geschickt.
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(Es folgt eine Videoeinspielung in englischer Sprache mit deutscher Untertitelung.)
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(Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Mein Damen und Herren, die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war ein tragischer Höhepunkt der antisemitischen Maßnahmen des NS-Regimes. Im gesamten Deutschen Reich fanden Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung statt, in Wien wurden in dieser einzigen Nacht fast alle Synagogen und Bethäuser zerstört.
Bob Martens von der Technischen Universität Wien und Herbert Peter von der Akademie der bildenden Künste Wien haben diese zerstörten Synagogen virtuell rekonstruiert.
Bitte begrüßen Sie Universitätsprofessor Bob Martens und Architekt Herbert Peter! (Beifall.)
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Bob Martens (Institut für Architektur und Entwerfen, TU Wien): Können Sie sich vorstellen, wie viele Synagogen es in Österreich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie gab? – Sie können es hier gerade sehen: an vielen Hunderten Punkten.
Wenn wir unser heutiges Staatsgebiet betrachten, finden wir eine Verteilung der bestehenden oder nicht mehr bestehenden Standorte mit einem klaren Schwerpunkt auf die östlichen Bundesländer, wenngleich es in jedem Bundesland Synagogen und Bethäuser gab.
Wussten Sie, dass es allein in Wien bis zum Jahr 1938 25 Synagogen und circa 70 Bethäuser gab?
Herbert Peter (Akademie der bildenden Künste Wien): Die Entwicklung von jüdischen Gemeinden in Österreich beginnt bereits im Mittelalter, so rund um 1200. Bis 1938 spricht man von drei Wiener Gemeinden; am Land, in den heutigen Bundesländern, ist die Entwicklung der jüdischen Gemeinden ähnlich. Jede dieser Besiedlungsphasen wird durch eine Gewaltaktion mit Vertreibung, Ermordung der Menschen und Zerstörung der Synagogen beendet.
Wir sehen hier: 1421 endet die erste Wiener Gemeinde mit der Wiener Gesera; 1670 wird mit der Vertreibung aller Juden, die in Wien, im 2. Bezirk, die zweite Gemeinde hatten, diese gewaltsam aufgelöst, die drei Synagogen werden zerstört und teilweise zu Kirchen umgebaut. 1782 erlässt Joseph II. das Toleranzpatent, welches die jüdischen Bürger:innen in ihrer Religionsausübung rechtlich gleichstellt, es sollte jedoch 40 Jahre dauern, bis der erste Wiener Stadttempel im Hinterhof eines Bürgerhauses gebaut wurde. Er ist von der Straße aus vollkommen unsichtbar. Dieses ungeschriebene Gesetz gilt in Wien – mit einer einzigen Ausnahme, der des Hietzinger Tempels – für alle Synagogen des 19. und 20. Jahrhunderts.
1938, ganz genau gesagt: am 10. November 1938, dem wir heute gedenken, devastieren und zerstören fanatische und rassistische Gruppen der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft alle Synagogen und Bethäuser dieser dritten Gemeinde. Einige wenige stehen heute noch mit unterschiedlichen Nutzungen.
In den folgenden Minuten möchten wir Ihnen einige dieser prächtigen Synagogenbauten aus Wien, Niederösterreich und dem Burgenland dieser Epoche des 19. und 20. Jahrhunderts vorstellen sowie deren Bedeutungen und einige Besonderheiten sichtbar machen.
Bob Martens: Beginnen wir mit dem großen Leopoldstädter Tempel, welcher zwischen 1854 und 1858 gleichzeitig mit der großen Synagoge in Budapest errichtet wurde: Trotz einer sehr, sehr beengten städtebaulichen Situation war er mit seinen 2 240 Sitzplätzen und an die 1 500 Stehplätze eine der zehn größten Synagogen weltweit. Er wurde am 10. November 1938 weitgehend zerstört, seine baulichen Überreste wurden jedoch erst im Jahr 1952 komplett abgetragen.
In der virtuellen Rekonstruktion – das ist so eine Art digitales Lego – wurden die Farbigkeit und die Ornamentierung der Fassade wieder zum Leben erweckt. Der Innenraum mit zwei Emporengeschoßen war trotz mehrerer Oberlichten im Dach doch relativ dunkel, nach einem schweren Brand im August 1917 wurde er jedoch erneut mit reichhaltigen Verzierungen ausgestaltet. Und wir sehen hier jetzt noch ein weiteres Bild, auf dem der Innenraum virtuell dargestellt wird.
Zu guter Letzt noch einmal das Umfeld: Die Tempelgasse ist wirklich schmal und ließ eigentlich kaum einen Blick auf die imposante Tempelarchitektur zu. Architekt Ludwig von Förster hat zu einem Kunstgriff gegriffen: Er ließ den Tempel mit der Anordnung von zwei Seitentrakten eigentlich frei stehend wirken. Heute besteht nur noch der linke Seitentrakt. Er ist erhalten geblieben und erinnert in seiner Gesamtheit an den damaligen Tempel.
Herbert Peter: Die Schiffschul in der Großen Schiffgasse im 2. Bezirk wurde zwischen 1859 und 1864 errichtet. Sie war neben dem Stadttempel in der Seitenstettengasse – eröffnet 1824, dem großen Leopoldstädter Tempel in der Tempelgasse –, eröffnet 1858, die drittälteste Synagoge in dieser Epoche. Im Hinterhof des Hauses Große Schiffgasse 8 war sie – genau wie der Stadttempel – von außen vollkommen unsichtbar. Selbst mittels der virtuellen Rekonstruktion lässt sich die Gesamtheit dieser Fassade nicht komplett darstellen.
Die ursprüngliche Gestaltung dieser Synagoge war sehr einfach gehalten. Gegen Ende des Jahrhunderts entsprach das Gebäude kaum mehr den Anforderungen sowohl des Tempelvereins als auch der brandschutztechnischen Bestimmungen, die nach dem Ringtheaterbrand eingeführt wurden. Aufgrund von Geldmangel wurden immer wieder nur die notwendigsten Maßnahmen umgesetzt.
Statt eines geplanten und seitens der Baubehörde bereits genehmigten Umbaus wurden letztlich 1925 notwendige Baumaßnahmen plus eine reichhaltige Ausgestaltung des Innenraums durchgeführt – das sehen wir hier in der virtuellen Rekonstruktion –, und die jüdische Presse aus 1925 gibt uns dazu auch eine Beschreibung über die Farbigkeit. Ich hoffe, dass wir das halbwegs getroffen haben, wenn Sie sich daran erinnern können. Sie sehen auch in der städtebaulichen Situation, wie beengt das war – und wie unsichtbar.
Bob Martens: Bewegen wir uns in den 6. Wiener Gemeindebezirk! Der Schmalzhoftempel lag im Hinterhof einer Liegenschaft, deshalb war es notwendig, durch ein Vorhaus in diesen Innenhof einzutreten, nur so konnte man den Tempel erreichen. Sehen konnte man ihn zwar auch vom Loquaiplatz aus – die Rückseite –, aber es war auch wirklich recht beengt, und das macht auch diese Postkarte deutlich. Der Innenraum war reichhaltig im Neorenaissancestil ornamentiert.
Max Fleischer, der Architekt, war übrigens auch Projektarchitekt beim Bau des Wiener Rathauses, und deshalb verwundert es nicht, dass man im Rathaus auch heute noch eine ähnliche Ornamentierung sehen kann. – Er war ein bisschen kleiner: 322 Männer- und 226 Frauensitzplätze, also man könnte sagen: eine mittelgroße Synagoge.
Herbert Peter: Im Gegensatz zu fast allen Wiener Synagogen stand die Synagoge in Wiener Neustadt frei und repräsentativ am Baumkirchnerring. Der markante Hufeisenbogen, das große Rosettenfenster mit Davidstern, die rot-gelben Streifendekors, das ist eine typische Gestaltung von Synagogen, die von Wilhelm Stiassny geplant wurden.
Die Reste dieser devastierten Synagoge wurden – ähnlich wie beim Leopoldstädter Tempel – erst 1953 endgültig abgebrochen. Der Innenraum war prächtig ausgestaltet im maurischen Stil. Sie hatte eine reichhaltige und farbige Dekoration mit vergoldeten Säulenkapitellen und farbigen Muschelbogen, und auch eine sehr eindrucksvolle Holzkassettendecke unterstrich dieses Erscheinungsbild.
Bob Martens: Im Burgenland sehen wir uns nun – stellvertretend für einige Landsynagogen aus dem 18. Jahrhundert – den Tempel in Mattersdorf – heute Mattersburg – an. Diese Synagoge wurde ursprünglich im gotischen Stil errichtet, dann mehrmals umgebaut, und letztlich wurde das gesamte Grundstück fast ausgefüllt. Im September 1940 wurde die Synagoge von einem Pionierzug durch gezielte Sprengung dem Erdboden gleichgemacht.
Der Innenraum selbst wurde im Laufe der Zeit mehrfach übermalt. Die letzte Ausmalung stammt aus dem Jahr 1932 und war recht plakativ, wobei sich die Maler Ornamente und Muster aus mehreren Epochen zusammenstellten. – Wir haben das hier auch dargestellt: Man sieht sozusagen auf der einen Seite gotisch anmutende Akanthusranken, maurisch-wirkende Bordüren und Graumalereien.
Herbert Peter: Die Zerstörung der Synagogen erfolgte in einer konzertierten Aktion im Rahmen der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. Das Brandbuch der Wiener Berufsfeuerwehr gibt hier minutiöse Aufzeichnungen über diese erfolgten Einsätze am 10. November.
Bob Martens: Am 10. November – das sieht man hier in dieser Korrespondenz – in der Früh schreibt Joseph Goebbels an alle Gauleiter unter anderem:
„solche demonstrationen sind von der partei weder vorzubereiten noch zu organisieren.“
Herbert Peter: „entstehen“ sie „spontan, so ist vorlaeufig den dingen ihren lauf zu lassen, jedoch darauf zu achten, dass nicht erhebliche wirtschaftliche werte vernichtet werden.“
Bob Martens: „bei brandgefahr ist unbedingt darauf zu achten, dass deutsches volksvermoegen geschuetzt wird.“
Herbert Peter: „diese anordnung ist fuer heute abend eine endgueltige, sie hebt alle bisher in dieser angelegenheit ergangenen anordnungen, soweit sie damit in widerspruch stehen., auf.“
Bob Martens: Einträge aus dem Brandbuch der Wiener Berufsfeuerwehr, das man hier sieht:
9.15 Uhr, Schiffamtsgasse 5, brannte der Altar und Einrichtungsgegenstände in dem ebenerdigen, aus zwei Räumen bestehenden jüdischen Bethause. Das Feuer wurde mit einer Schlauchlinie abgelöscht und die abgebrannten Teile ausgeräumt. Schaden: circa 500 Reichsmark; Ing. Falgut (phonetisch).
Herbert Peter: 9.35 Uhr; Neue-Welt-Gasse 7: Die Umgebung des brennenden Tempels, der einen Grundriss von circa 30 mal 12 Meter hatte, wurde mit sechs Schlauchlinien unter Zuschaltung von drei Pumpen und drei Hydranten gesichert. Ing. Blakowetz.
Bob Martens: 10.02 Uhr, 2. Bezirk, Tempelgasse 3, brannte die gesamte Inneneinrichtung und Teile des Dachstuhles der Synagoge. Das Feuer wurde mit fünf Strahlrohren und nach circa 5,5 Stunden abgelöscht. Die Nachbarobjekte wurden mit drei Strahlrohren gegen ein Übergreifen des Feuers gesichert. Ing. Falgut (phonetisch).
Herbert Peter: 10.12 Uhr, 6. Bezirk, Stumpergasse 42, brannte die Inneneinrichtung des Tempels und Gebetshauses auf der Galerie. Mit einer Schlauchlinie das Weitergreifen über das Dach auf Werkräume des ersten Stockes verhütet. Schaden: rund 1 000 Reichsmark. Ing. Engelhardt.
Bob Martens: 10.20 Uhr, 10. Bezirk, Humboldtgasse 27: Sprengung des Tempels; umliegende Häuser untersucht, keine Bauschäden. Seidl, Löschmeister.
Herbert Peter: 10.30 Uhr, Schmalzhofgasse 1. Im Tempel des Tempelvereins brannte teilweise die Inneneinrichtung, Betstühle und der Altar sowie die Holzverschalungen der rechtsseitigen Galerie. Das Feuer wurde mit drei Schlauchlinien in circa einer halben Stunde gelöscht. Schaden: 10 000 Reichsmark; Versicherung unbekannt. Ing. Dufek.
Bob Martens: 10.39 Uhr, 16. Bezirk, Hubergasse 8, brannte die Inneneinrichtung sowie mehrere Teile der Dachverschalung des Tempels; mit zwei Schlauchlinien und Aggregat abgelöscht. Strasser, Löschmeister.
Herbert Peter: 11.02 Uhr, Siebenbrunnengasse 1. Die Synagoge wurde durch den Brand vollkommen zerstört, lediglich ein kleiner Seitentrakt blieb stehen; mit drei Schlauchlinien die Umgebung gesichert. Ing. Hawelka.
Bob Martens: 11.16 Uhr, 2. Bezirk, Große Schiffgasse 8, brannte der Tempel bei Ankunft im gesamten Ausmaß. Das Nachbardach Schiffgasse 10 mit einer Schlauchlinie gedeckt; im Übrigen sechs Schlauchlinien zum Ablöschen des Großbrandes eingesetzt. Die Gesamteinrichtung ist verbrannt. Das baufällige Blechdach wurde, soweit es nicht selbst einstürzte, eingerissen. Schaden: geschätzte 100 000 Reichsmark. Ing. Engelhardt.
Herbert Peter: 11.24 Uhr, Kluckygasse 11, brannte der Tempel, der Altar; mit einer Schlauchlinie gelöscht, ein Schlauch in Reserve. Schaden: circa 2 000 Reichsmark. Leib, Löschmeister.
Das geht so den ganzen Tag – im 10-Minuten-Takt.
Bob Martens: Der Reichskommissär für die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich schreibt am 10. November abends:
„Ich habe heute eine Rundfahrt durch Wien gemacht. Im ganzen sah ich persönlich 9 Synagogen, die zum Teil noch brennend, zum anderen Teil gesprengt waren.“
Herbert Peter: „Nach Aussagen von Angestellten unserer Dienststelle sollen jedoch sämtliche Wiener Synagogen zerstört worden sein.“
Bob Martens: „Im 2. Bezirk wurden jüdische Betbücher und sonstiges Büchermaterial auf der Strasse verbrannt. Im allgemeinen ist sonst übliche Wiener Ruhe.“
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(Es folgt eine Videoeinspielung.)
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(Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Vielen Dank an Bob Martens und Herbert Peter für diese Präsentation.
Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen zum nächsten Lied wieder ein paar Informationen geben, es heißt: „Ani Maamin“ – „Ich glaube“. Es ist ein Lied von Rabbi Azriel David Fastag, und vielleicht stellen Sie sich, wenn Sie es jetzt gleich hören, vor, unter welchen Umständen es zum ersten Mal erklungen ist, wie und wann es sozusagen zum ersten Mal vorgetragen wurde. Es war nämlich in einem Waggon auf dem Weg ins Vernichtungslager Treblinka. Die Insassen sitzen alle dicht gedrängt, es herrscht Angst, und dann plötzlich fängt der Rabbi an, ganz leise eine Melodie zu summen; es sind Worte einer der 13 Glaubenslehren. Immer mehr Menschen stimmen ein, bis schließlich der gesamte Waggon dieses Lied singt und das unheilvolle Rattern des Zuges übertönt. Rabbi Fastag überlebt nicht, er wird ermordet, aber ein junger Mann kann diesem Todeswaggon entkommen, und er trägt dieses Lied in die Nachwelt hinein: „Ani Maamin“ – „Ich glaube“.
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(Es folgt ein Musikstück.)
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(Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Vielen Dank.
Meine Damen und Herren, anlässlich des Gedenkens an die Novemberpogrome darf ich Sie noch auf ein neues Projekt hinweisen, es heißt: Hashtag We Remember und ist eine Aktion des World Jewish Congress, in Österreich findet es in Zusammenarbeit mit der Israelitischen Religionsgesellschaft unter der Schirmherrschaft von Nationalratspräsident Sobotka statt. Es wird einfach durch moderne Formate der Erinnerungskultur ein sehr realer Einblick in das vielschichtige und vielfältige jüdische Leben in Österreich ermöglicht. Der Leopoldstädter Tempel in Wien, der von den Nationalsozialisten zerstört wurde, wurde da zum Beispiel mit einer eigenen Lichtinstallation wieder beleuchtet. – Ein Projekt, das ein sehr wichtiges Zeichen in einer sehr modernen Form zeigt.
Bitte begrüßen Sie jetzt den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Oskar Deutsch. (Beifall.)
Oskar Deutsch (Präsident Israelitische Kultusgemeinde Wien): Sehr geehrter Herr Präsident Sobotka! Sehr geehrter Herr Vizekanzler! Mitglieder der Bundesregierung! Lieber Herr Botschafter, designierter Botschafter des Staates Israel, David Roet! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Lieber Benno Kern! Sehr geehrte Freunde der Menschlichkeit! Heute ist kein Gedenktag wie jeder andere. Wie oft wollen Sie, ich und viele andere „Nie wieder“ sagen, wie oft wollen wir noch „Nie wieder“ hören, bis alle verinnerlichen, dass das Gedenken der Zukunft dient? – Nie wieder ist jetzt!
Heute vor genau 85 Jahren fand die Reichspogromnacht statt. Wie absurd: Sie fand ja nicht einfach statt. Diese blutige Nacht war der Beginn der systematischen Vernichtung des Judentums. Die Pogrome dauerten mehrere Tage, auch hier, in unseren Städten und Gemeinden, überall wo Juden und Jüdinnen lebten. Sie wurden erniedrigt und gequält, 1 300 ermordet. Ich wiederhole: 1 300 Menschen wurden allein in dieser Nacht im gesamten Deutschen Reich ermordet. Warum? – Weil sie Juden waren. Tausende wurden inhaftiert und verschleppt. Warum? – Weil sie Juden waren. Tausende Geschäfte jüdischer Bürgerinnen und Bürger wurden geplündert; alle Synagogen und jüdischen Betstuben wurden zerstört. Sie alle wissen das. Die Pogromnacht war der Vorabend der Schoah, sie führte in die staatlich organisierte systematische Verfolgung und in die Gaskammern.
Nicht allen aber ist bewusst, dass den Pogromen etwas vorausging, was wir auch heute weltweit erleben: Antijudaismus, Antisemitismus, Judenfeindlichkeit. Neben Roma und Sinti, politisch Andersdenkenden, Homosexuellen und allen, die die Nazis und ihre deutschnationalen Vorgänger für minderwertig erklärt hatten, wurden sechs Millionen Menschen aus einem einzigen Grund ermordet: weil sie Juden waren.
„Nie wieder“ war ein Versprechen, das sich die Welt gegeben hatte. Vor 33 Tagen wurde dieses Versprechen erneut gebrochen. Am 7. Oktober wurden mehr als 1 400 Menschen gefoltert und bestialisch ermordet – weil sie Juden waren oder arabische Nachbarn von Juden. Es gab mehr Tote als am 9. November 1938.
Nein, die bestialischen Massaker der Hamas sind nicht mit der gesamten Schoah vergleichbar, eine Gleichsetzung ist falsch und relativiert die Schoah. Die Massaker des 7. Oktober waren der schlimmste Genozid an Juden seit 1945, ein noch nie dagewesener Terrorangriff, aber keine Schoah. Die Hamas kann keine staatlich organisierte systematische Vernichtung durchführen – aber sie wollen genau das, ihr Ziel ist eine Schoah. Das haben Hamas, islamischer Dschihad und ihre faschistischen Unterstützer des iranischen Regimes am 7. Oktober 2023 gezeigt und seither mehrmals kundgetan: Sie wollen den 7. Oktober wiederholen. – Das wird nicht geschehen. Das wird nicht geschehen, weil es den Staat Israel gibt, eine wehrhafte Demokratie, eine Lebensversicherung für alle Juden und Jüdinnen, weltweit, auch von uns hier in Österreich.
Die Folge des genozidalen Angriffs war nicht etwa eine bedingungslose Solidaritätswelle mit der einzigen jüdisch geprägten Demokratie; es wird relativiert und nach Kontextualisierung gerufen, falscher Kontextualisierung. Die Folge: Jüdische Gemeinden weltweit werden attackiert; allein in Österreich verzeichneten wir einen 400-prozentigen Anstieg antisemitischer Vorfälle: auf Straßen, in Schulen, im Internet. Ja sogar der jüdische Teil des Friedhofs, der auf den Tag genau heute vor 85 Jahren völlig zerstört wurde, ist vor Kurzem wieder in Brand gesteckt worden, an eine Mauer wurde ein Hakenkreuz gesprüht, das Symbol des Nationalsozialismus, das Symbol für die Vernichtung des Judentums, deshalb auch ein Symbol, das nicht nur Neonazis, sondern Antisemiten anderer politischer oder religiöser Prägung verwenden. Es soll Angst verbreiten – und es macht Angst.
„Nie wieder“ beschränkt sich nicht auf das Bedauern toter Juden, es bedeutet, sich für den Schutz jüdischen Lebens ebenso wie allen unschuldigen Lebens einzusetzen. Genau das tut Israel. Dabei sind es nicht nur Juden und Jüdinnen weltweit, die Seite an Seite mit Israel stehen. Ich möchte Ihnen im Namen der jüdischen Gemeinden in Österreich meinen aufrichtigen Dank für Ihre Unterstützung aussprechen: dem Parlament, Koalition und Opposition. Danken möchte ich auch den vielen Menschen in unserem Land, die sich in dieser schwierigen Situation mit Israel und den jüdischen Gemeinden solidarisieren.
Es gibt aber zu viele, die auf der Seite derjenigen stehen, die dem Tod huldigen, das sind Israelhasser und Antisemiten, es sind die Feinde der liberalen Demokratie. Und es gibt jene, die, nach Konsum islamistischer Propaganda und von Fakenews aufgestachelt, ihre Feindseligkeit zum Ausdruck bringen. Eine besondere Bedrohung geht hier gewiss von einigen muslimischen Kreisen aus. Gleichzeitig erfahren wir vereinzelt Unterstützung von Muslimen – Menschen, die sich ihre Religion nicht von Islamisten vereinnahmen lassen wollen.
Antisemitische Bedrohungen gibt es von anderer Seite: Linksradikale, die mit den Islamisten gemeinsame Sache machen, oder Rechtsextreme, die auf Kundgebungen und im Internet ihrem Antisemitismus freien Lauf lassen. Die größte Terrorgefahr geht von Neonazis und Islamisten aus.
Sehr geehrte Damen und Herren! Gemeinsam werden die Freunde der Menschlichkeit gewinnen. Der nächste Schritt muss die Befreiung der 240 Geiseln sein. Bring them back home now! Helfen Sie mit, dass es nie wieder einen 7. Oktober gibt, nie wieder einen 9. November gibt! Nie wieder ist jetzt! – Danke. (Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Ja, auch 85 Jahre nach den Novemberpogromen bleibt der Antisemitismus eine Gefahr für die Demokratie. Der Judenhass zieht seit dem Mittelalter seine Spur durch Österreichs Geschichte bis in die heutige Zeit. ORF-Redakteur Robert Gokl hat eine eindringliche Dokumentation zu diesem Thema gestaltet, die sich mit den Ursachen und Folgen dieses gewalttätigen Antisemitismus beschäftigt. In seiner „Menschen & Mächte“-Produktion geht er der Frage nach, wie antisemitische Vorurteile und Judenhass nach 1945 weitergewirkt haben. – Wir können uns jetzt einen kurzen Ausschnitt aus dieser Dokumentation ansehen, die gestern um 22.30 Uhr in ORF 2 gelaufen ist.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Sprecher: Herbst 1938. Seit einem halben Jahr regieren in Österreich die Nationalsozialisten.
Paula Smejkal: In der Hubergasse war ein Tempel, der wurde angezündet.
Arik Brauer: Wir sind neugierig natürlich hingelaufen – und waren einige Buben, die jüdisch ausgeschaut haben.
Paula Smejkal: Da ging eine Jagd auf Juden los, die unvorstellbar war.
Arik Brauer: Geht nach Haus, es ist hier gefährlich, es ist etwas passiert!
Paula Smejkal: Man hatte schon einen ganzen Rudel Juden beisammen, die trieb man durch das Feuer, bei einem Tor hinein und beim anderen Tor hinaus.
Arik Brauer: Da hat eine Frau gesagt: Schaut, die Judenfratzen, hauen wir sie gleich ins Feuer!
Paula Smejkal: Gegenüber vom Haus stand dann die johlende Menge, die sich wunderbar dabei unterhalten hat.
Ernst Meisel: Es war ein derartiger Aufruhr in den Straßen, ein Rauben, ein Rauben – die Leute sind hineingegangen und haben einfach ausgeraubt.
Ingeborg Guttmann: Es hat einen Riesenkrach gegeben und Geschrei, Gejohle. Wir sind runter auf die Straße, das war gleich an der Ecke, und der Tempel hat gebrannt. Der war groß, der Tempel, riesengroß – und es hat gebrannt, und die Leute haben geschrien und gejohlt und „Juda, verrecke!“ und ganz hysterisch, also wie in Trance. Daran kann ich mich erinnern, das war ein furchtbarer Schreck für mich – und das Feuer, und es waren keine Feuerwehren da, es war keine Polizei da, es war gar nichts da.
Filmeinspielung: Reichssender Wien, 10. November 1938
Reporter: Wir stehen mit unserem Mikrofon in dem großen Leopoldstädter Judentempel. Die erbitterten arischen Einwohner dieses Bezirkes haben es sich nicht nehmen lassen, um auch hier ihren abgrundtiefen Hass gegen das Judentum zu bezeugen: Der Judentempel war in wenigen Minuten ein Raub der Flammen.
Sprecher: Es ist jetzt alles weg, Leute stehen nicht mehr auf der Straße, und wir werden auch gleich verschwinden. Also ich glaube, der Tempel kann ohne Weiteres einstürzen. Wir haben, glaube ich, nichts dagegen, nicht? (Die Antworten der so Angesprochenen bestätigen diese Annahme.)
Die Juden haben sich alle rechtzeitig alle in Sicherheit gebracht, und teilweise waren sie noch als Zuseher verkleidet mit einem Parteiabzeichen, die sind nachher von der Polizei abgeführt worden. Sogar diese Frechheit erlauben sie sich noch. Aber das ist ja jetzt vorbei.
Ingeborg Guttmann: In der Früh hat, mein Vater, der gute Wiener, gesagt: Das Kind muss in die Schule gehen, Ordnung muss sein. – Und da waren schon die Geschäfte alle - -, also das Glas am Boden und ruiniert und Lastwagen mit Leuten drauf, die geschrien haben, und – das habe ich selbst gesehen, das kann ich bis heute nicht vergessen – da war ein junger Hitlerjunge in Lederhosen, ein Bürscherl, der hat einem alten Juden, einem rothaarigen, bei lebendigem Leib den roten Bart aus dem Gesicht gerissen. Das kann ich bis heute nicht vergessen. Der hat geblutet und geschrien, und dann ist ein Klavier aus dem Fenster geflogen. Es war schrecklich – und ich bin immer noch in die Schule gegangen. Ich bin in die Schule gegangen. Mein Vater ist weggegangen, dann habe ich ihn lange nicht mehr wieder gesehen.
Ernst Meisel: Das ist eine Endlösung gewesen. Mit dem ist dann das KZ gekommen, das war der Weg nach Auschwitz, zu den ganzen fürchterlichen Lagern.
Sprecher: 65 000 österreichische Jüdinnen und Juden werden ermordet. Rund sechs Millionen sind es insgesamt. Jahrelang rollen Züge aus ganz Europa in die Vernichtungslager im Osten, jeder Zug mit rassisch oder politisch verfolgten Opfern der NS-Ideologie. Nur wenige der Überlebenden kehrten nach Österreich zurück.
*****
Lisa Gadenstätter: Das war eine beeindruckende Dokumentation, in der auch sehr viele Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu Wort gekommen sind. Das Unfassbare aus dem Mund von Menschen zu hören, die es selbst erlebt haben, zählt wohl zu den beeindruckendsten und wichtigsten Momenten, die wir erleben können.
Der Zeitzeuge Benno Kern wird uns jetzt an seinem Erlebten teilhaben lassen. Er wurde 1927 in Wien geboren. Seine Kindheit ist nur wenige Jahre unbeschwert, dann erlebt Benno Kern die Hölle auf Erden, wie er sagt. Ich glaube, wir alle können uns nicht vorstellen – nicht im Geringsten vorstellen –, was Benno Kern in seinem Leben mitgemacht hat und wie ihn natürlich auch die Ereignisse der letzten Wochen aufgewühlt haben und immer noch aufwühlen und belasten. – Herr Kern. Bitte, meine Damen und Herren, begrüßen Sie Benno Kern! (Lang anhaltender, stehend dargebrachter Beifall.)
Benno Kern wird begleitet, meine Damen und Herren, von seinem Sohn Shlomo Kern.
Wir wollen heute hauptsächlich über das Novemberpogrom und die Ereignisse davor und danach sprechen, denn Benno Kern ist einer der wenigen Menschen, die noch über die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 erzählen können, und das Verstehen der damaligen Zeit ist so wichtig für die heutige Zeit. Benno Kern, meine Damen und Herren, hat mit eigenen Augen gesehen, was passiert ist, was Menschen angetan wurde, und er wird uns jetzt dankenswerterweise an seinem Erlebten teilhaben lassen. – Herr Kern, ich danke Ihnen sehr, dass Sie bei uns sind.
Benno Kern (Zeitzeuge): Danke für die Einladung.
Lisa Gadenstätter: Herr Kern, soll ich Ihnen das Mikrofon halten oder wollen Sie es selber halten?
Benno Kern: Ich halte es schon.
Lisa Gadenstätter: Machen Sie es selber? – Gut.
Herr Kern, ich würde gerne mit einer schönen Erinnerung beginnen, die für Ihre Geschichte aber eine ganz, ganz große Bedeutung hat. Sie waren als Kind immer in einem Sommercamp am Semmering. Für Kinder war das dort ein Paradies. Wie und mit wem haben Sie denn dort Ihre Zeit verbracht?
Benno Kern: Wir waren circa 150 bis 200 Kinder. Die Leiterin von dem Camp war die Tante Lola – ihr Mann war der Herr Schiff, ein Vorsteher von der Schiffschul –, und wir haben dort verschiedene - - Wir sind praktisch von sechs bis elf Jahre dort gewesen – also das Alter –, und man hat mit uns alle Kinderspiele gemacht – Kraxeln und so weiter. Wir haben Schifferl gespielt: Wir haben von den Bäumen die Rinde genommen und damit Schifferl gespielt.
Lisa Gadenstätter: Sie hatten einen sehr netten Betreuer dort, oder?
Benno Kern: Ja. – In der Früh um 6 Uhr ist ein Leiterwagerl zum Bauernhof gegangen, um koschere Milch zu holen, und der Führer von dem Leiterwagerl war ein gewisser Alex. Der hat mit uns Kindern getobt, in allen Richtungen. Ich will nur diesen Namen erwähnen, denn dieser Name kommt später noch dreimal vor.
Lisa Gadenstätter: Genau. – Also Alex war zu diesem Zeitpunkt - - Er hat mit Ihnen gespielt (Kern: Ja!), er war sehr, sehr nett zu Ihnen. – Machen wir vielleicht jetzt einmal einen Sprung.
Als Sie fünf Jahre alt waren, haben Sie zum ersten Mal gemerkt: Da ändert sich etwas in meinem Leben. – Sie mussten nämlich aus Ihrem Kinderzimmer ausziehen, weil alle Ihre Verwandten aus Deutschland nach Wien gekommen sind, weil Hitler in Deutschland an die Macht gekommen ist. Die Verwandten wurden in Ihrem Zimmer untergebracht, und Sie mussten in das Wohnzimmer mit einer Matratze unter das Klavier ziehen.
Benno Kern: Stimmt! Ja, aber nicht nur in meinem Zimmer, sondern die ganze Wohnung war voll, aber ich habe meinen Platz auf einer Matratze am Boden gehabt, das war unter einem Klavier. Ich war damals ungefähr fünf Jahre alt. Circa 25 bis 28 Personen, die von Deutschland – von allen Städten, also Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, Wiesbaden, Köln und so weiter – geflüchtet sind, waren bei uns und bei anderen Verwandten von uns einquartiert.
Lisa Gadenstätter: Die waren dann am Abend immer im Wohnzimmer. (Kern: Ja!) Haben Sie da geschlafen oder was haben Sie sonst gemacht?
Benno Kern: Ja, ja! Das will ich Ihnen sagen: Da hat man geschaut, ob ich schon schlafe, und ich habe die Augen fest zugemacht, aber die Ohren gespitzt – ich habe alles gehört. Die haben die fürchterlichsten Sachen erzählt: die Plünderungen, die Vertreibungen aus den Wohnungen und die Tätlichkeiten – man hat sie geschlagen. Und sie waren praktisch über Nacht Bettler, sie haben wegmüssen, auf und davon. Die erste Station war in Wien bei uns in der Wohnung, dann sind sie weitergefahren ins damalige Palästina.
Lisa Gadenstätter: Das ist natürlich nicht leicht, wenn man das als so kleines Kind mitbekommt, was da alles erzählt wird.
Wenn wir jetzt zum 11. März 1938 schauen, das war acht Monate vor den Pogromen, da ist der damalige Bundeskanzler Schuschnigg zurückgetreten, die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen: Sie haben mit Ihrer Familie im 2. Bezirk gewohnt (Kern: Ja!), und Sie sind an diesem Tag – Sie waren im 3. Stock (Kern: Ja!) – bei Ihrem Fenster auf das Fensterbrett gekraxelt. Es war ein Gitter davor, dass Sie nicht hinausfallen konnten (Kern: Ja!), und Sie haben auf die Straße hinuntergeschaut. (Kern: Ja!) Was hat sich auf der Straße vor Ihrer Wohnung abgespielt?
Benno Kern: Ja, das war katastrophal! Zunächst möchte ich Ihnen bitte nur eines sagen: Ich rede nur von einem Gebiet rund um den Karmelitermarkt, also meine Wohngegend.
Ich habe hinuntergeschaut: Von allen Straßen – sternförmig – rundherum sind SS, SA, Hitlerjugend geströmt, alles zum Zentrum Karmelitermarkt, mit den fürchterlichsten Liedern, Schreiereien, Grölen und so weiter. Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen jetzt sagen darf – es ist verboten –, aber ich will es Ihnen sagen: Ich bin, wie man sagt, kein Solist oder was, ich kann nur sagen: Es hat gedröhnt (singend): Deutschland, Deutschland über alles. – Dann hat es von der anderen Seite geheißen: Zicke, zacke, zicke, zacke, Heil, Heil, Heil! Das war das Zeichen von der SS: Zicke, zacke, zicke, zacke. Dann hat es geheißen: Deutschland erwache, Juda verrecke!, und (singend): Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt, drum wollen wir marschieren, auch wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt.
So ist es 3 Stunden gegangen, von der Rede von Schuschnigg bis nach Mitternacht, und während dieser Katastrophe hat man von allen Wohnungen die Männer zum Karmelitermarkt geschleppt und man hat sie halbtot geschlagen – sie haben dort Sport machen müssen. Und dieser Alex, von dem ich Ihnen den Namen genannt habe, ist herein Krummbaumgasse 1 – das war das Vis-à-vis-Haus von uns –, und da ist er raufgegangen zu Tante Lola, weil er war der Angestellte in der Vorzeit und er hat in der Früh und am Abend mit uns vom Bauern die koschere Milch geholt. Und dann hat er noch gesagt: Ja, ja, ja, ist dir die Milch schon koscher genug?, und hat sie blutig geschlagen. Und dann hat er ihren Mann genommen – das war der Herr Schiff, er war ein Vorsteher von der Schiffschul – und hat ihn halbtot geschlagen und dann später zum Karmelitermarkt geführt. So war es in allen Straßen rund um den Karmelitermarkt.
Lisa Gadenstätter: Herr Kern, weil Sie sagen: Alle Straßen rund um den Karmelitermarkt. – Sie haben das ja auch aufgezeichnet, das sehen wir auch.
Benno Kern: Ja, das ist es!
Lisa Gadenstätter: Ja, genau. – Also man sieht, wie sehr Sie das auch beeindruckt hat: Diese gelben, das sind alles die Straßen, wo eben die Hitlerjugend, die SS (Kern: Ja, ja!), SA gezogen ist.
Benno Kern: Das waren rundherum alle, das Zentrum von uns.
Lisa Gadenstätter: Machen wir jetzt vielleicht einen Sprung: acht Monate danach, die Nacht vom 9. auf den 10. November. Wir haben schon sehr viel gehört, was in dieser Nacht passiert ist, und auch im Filmausschnitt sagt eine Frau, sie war ein gutes Mädchen, sie ist dann am nächsten Tag in die Schule gegangen. – Sie sind auch in die Schule gegangen. (Kern: Ja!) Was haben Sie gesehen?
Benno Kern: Das war die Talmud-Thora-Schule in der Malzgasse 16; die Mädchenschule war vis-à-vis, Malzgasse 7. Wir sind also praktisch - - Wir machen jetzt einen großen Sprung, vom 11. März (Gadenstätter: Genau!) bis zum 10. November.
Lisa Gadenstätter: Genau, 11. November! Ich würde gerne wissen, wie das war, als Sie in der Früh in die Schule gekommen sind oder gegangen sind. Was haben Sie da gesehen?
Benno Kern: Ja, ja. – Und zwar: In der Zwischenzeit waren das auch katastrophale Zustände, aber gehen wir jetzt zum 10. November.
Ich bin so wie gewöhnlich um 8 Uhr zur Schule gegangen – also zehn vor, drei viertel acht –, und mir sind Kinder entgegengelaufen und haben gesagt: Lauf weg, die Schule wird vernichtet! – Ich bin trotzdem noch weitergegangen, bin dort hingekommen: Direktor Pollak ist am Boden gelegen – ganz blutig –, die haben ihm ins Gesicht getreten, haben die Nase gebrochen, das Blut hat gespritzt, und die Lehrkräfte von sechs Jahren bis 14 Jahren – das waren 28 Lehrkräfte – in acht Klassen, zwei Klassenzüge – a und b –, die hat man alle halbtot geschlagen.
Alle Einrichtungen von den Schulen, die rituellen Sachen, hat man von den Fenstern hinuntergeschmissen, vom ersten, zweiten, dritten Stock und so weiter, und im Hof hat ein riesiger Scheiterhaufen gebrannt. Dann später haben sie die Thorarollen herausgenommen – weil: es war in der Talmud-Thora-Schule ein Talmud Thora-Bethaus –, sie haben die Rollen herausgenommen, auf der ganzen Straße ausgerollt – die ganze Leopoldsgasse –, alles ausgerollt und haben fürchterliche Indianertänze darauf gemacht.
Was sie sonst noch gemacht haben, das kann ich hier nicht wiederholen, aber es war fürchterlich.
Lisa Gadenstätter: Sie sind dann weggelaufen, oder?
Benno Kern: Ich bin dann weggelaufen und bin bei der Polizei vorbei, habe die Schultasche runtergeschmissen und habe sie bei der Polizei niedergelegt, bin dann zur Schiffamtsgasse Ecke Im Werd gelaufen – das sind circa 20 Meter – im Laufschritt, hinter mir auch noch andere Kinder und die ganze HJ – das war fürchterlich! Die HJ, das waren Kinder von man kann sagen 12 bis 17 Jahren, und die haben uns verprügelt.
Ich war vielleicht schneller und bin zum Karmelitermarkt gekommen. Dort war ein Kohlenhändler, der hat bei uns immer die ganze Gegend versorgt: im Winter mit Kohle und im Sommer mit Eislutscher. Der sieht mich rennen, stellt mir ein Haxl, und ich fall – und über mich die ganze Hitlerjugend. Ich habe noch zwei Stoßgebete herausgeschrien und war schon am Boden, und die haben mich verprügelt. Einer hat noch gesagt: Der ist schon tot!, und dann sind die anderen zu den anderen Kindern gegangen.
Ich habe mich mit den letzten Kräften aufgerappelt. Mit den letzten Kräften bin ich noch zu unserer Wohnung hinübergelaufen, das war in der Krummbaumgasse 2. Ich bin in die Wohnung gekommen ganz voller Blut, und die haben mich von beiden Seiten genommen, links und rechts die Hände weg, und man hat mich mit Jod eingeschmiert – damals hat man keine anderen Desinfizierungsmittel gehabt. Das hat fürchterlich gebrannt, ich habe geschrien wie am Spieß.
Ja, das war jetzt, wie man sagt, für mich allein, und so hat es mit allen Kindern ausgeschaut, und rundherum, die ganze Leopoldsgasse bis zum Karmelitermarkt, war voll Arrestierungswagen, und da hat man die Leute von den Wohnungen genommen und man hat sie verhaftet, eingeteilt in verschiedene Bezirkskommissariate.
Lisa Gadenstätter: Herr Kern, darf ich wieder einen kleinen Sprung nach vorne machen? (Kern: Ja!) Ich weiß, Ihre Geschichte ist - - Man könnte Ihnen ewig zuhören, und ich möchte nicht unhöflich sein, Sie zu unterbrechen, aber ich würde gerne ganz kurz zusammenfassen: Ihre Familie hat dann versucht, zu fliehen, und das war eine wahre Odyssee: Köln, Belgien, der Versuch, über das Meer in die USA zu kommen, nach Frankreich, drei vergebliche Versuche, in die neutrale Schweiz zu gelangen, weil Sie von Grenzbeamten immer wieder zurückgeschickt wurden. Sie wurden dann schließlich als Familie in Lyon verhaftet, nach Paris gebracht und dann von Drancy nach Auschwitz deportiert.
Benno Kern: Ja, aber das ist ein sehr großer Sprung.
Lisa Gadenstätter: Ich weiß, dass das ein sehr großer Sprung ist, es tut mir auch wirklich leid, ich würde nur - -
Benno Kern: Ja, ich will nur noch etwas zum 10. November sagen.
Lisa Gadenstätter: Dürfte ich nur noch diese Frage nach Auschwitz stellen: Mit wie vielen Menschen waren Sie denn da in dem Waggon?
Benno Kern: 100. Es waren zehn Waggone, und das war der Transport: 1 000 Personen. Unsere Gruppe waren 4 500, das waren dann vier Züge, aber aufgeteilt auf zwei Wochen. Die sind dann alle nach Auschwitz gekommen.
Lisa Gadenstätter: Wie viele haben überlebt?
Benno Kern: Na ja, ich kann Ihnen das nur von meiner Familie sagen. Wir waren eine Familie von über 200 Personen – aber die waren nicht alle in Lyon –, aber es haben nur 16 überlebt.
Lisa Gadenstätter: Von diesem ganzen Zug haben nur 16 Personen überlebt.
Benno Kern: Nein! Nicht von diesem Zug, sondern von den ganzen 4 500.
Lisa Gadenstätter: Von 4 500 Menschen haben 16 überlebt.
Benno Kern: Ja, es haben nur 16 überlebt.
Lisa Gadenstätter: Sie und Ihr Vater waren dabei. (Kern: Ja!) Jetzt möchte ich noch einmal zu der Geschichte kommen, mit der ich auch begonnen habe: Sie stehen dann an dieser Rampe in Auschwitz bei der Selektion. (Kern: Ja!) Was passiert da?
Benno Kern: Vor der Selektion ist Alex gestanden in hoch dekorierter SS-Uniform und hat das erste Kommando gegeben: Alle Gummisachen sofort nach vorne geben – Gummimäntel, Gummistiefel, Gummischuhe und so weiter und so weiter –, und einer, ich kann nur sagen, er war obergescheit, hat gesagt, er wird ihm zeigen, er hat Gummiabsätze. Und der gottselige Vater hat gesagt: Geh nicht zu ihm, du hast keine Ahnung, was für ein Mensch das ist! Da hat er gesagt: Ja, ich werde es ihm schon zeigen. Und er geht zu ihm, zeigt ihm: Ich habe Gummiabsätze, muss ich die Schuhe auch weggeben? – Und Alex ist zornig geworden, wütend, und hat gesagt: Du willst mich häkeln? Jetzt werde ich dir zeigen, was du alles machen musst!, und hat ihn totgeschlagen.
Dann geht er zu einem von der anderen Seite – wir sind zehn in einer Reihe gestanden, mal zehn, das war eine Hundertschaft –, und sagt zu dem anderen: Du willst mir auch was erzählen? – Da hat der andere gesagt: Ich hab kein Wort gesagt. – Da hat er gesagt: Lüg mich nicht an!, hat ihn herausgeschleppt, hat ihn totgeschlagen. Er wollte zum Dritten gehen – inzwischen sind ein paar Leute von der Hundertschaft weggelaufen, und aufgrund dessen ist er denen nachgelaufen. Das war unsere erste Rettung.
Lisa Gadenstätter: Da hat er Sie dann nicht gesehen.
Benno Kern: Ja. – Dann sind wir zur Selektion gekommen, das war Sturmbannführer Lindner. Später hat einer Mengele geheißen, das war bei den ungarischen Transporten zwei Jahre später, aber der Lindner kommt und ruft mir zu: Kannst du arbeiten? – Was soll ich Ihnen sagen? Ich war gelähmt, ich habe nicht antworten können. Der gottselige Vater ist hinter mir gestanden und hat gesagt: Er ist 16 Jahre.
Lisa Gadenstätter: Also er hat Sie älter gemacht.
Benno Kern: Ja, er hat mich älter gemacht. – Der Schreiber von Lindner hat gesagt: Der ist niemals 16 Jahre, der ist höchstens 14. Darauf hat er mich noch einmal gefragt: Kannst du arbeiten? – Ich habe geschrien: Jawohl! Das war nicht meine Stimme, ich weiß nicht, wieso.
Lisa Gadenstätter: Sie waren dann gemeinsam mit Ihrem Vater drei Jahre lang in Auschwitz (Kern: Zwei Jahre!) – zwei Jahre lang (Kern: Ja, bis ’45, also halb ’42!) –, ja, und Sie sind dann mit 5 000 anderen Menschen auf den Todesmarsch geschickt worden. (Kern: Ja!) Das war ein bitterkalter Winter, und Sie hatten Holzschuhe an.
Benno Kern: Ja, der größte Teil hat Holzschuhe gehabt.
Lisa Gadenstätter: Wollen Sie erzählen, was dann passiert ist?
Benno Kern: Ja. – Wir haben keine Socken gehabt, sondern nur sogenannte Fußlappen, und die sind die ganze Zeit verrutscht. Es war circa 30 Zentimeter hoher Schnee, es war 28 Grad Frost. Mitten im Gehen habe ich mir die Fußlappen richten wollen, habe mich gebückt, und auf einmal hat das der SS-Mann gesehen. Er hat geglaubt, ich kann nicht mehr und wollte mich erschießen, und da hat sich mein gottseliger Vater vor mich gestellt, und da hat er ihn erschossen. – Die haben ihn dann mit Schneehaufen begraben, und wir sind dann weitermarschiert.
Der Marsch war circa drei Wochen, mit drei Portionen Brot, und über Nacht haben wir eben bei den Bauernhöfen schwarzen Kaffee bekommen, bis wir nach Buchenwald gekommen sind.
Von diesen 6 500 vom Todesmarsch von Auschwitz nach Buchenwald sind nur 900 angekommen. Alle anderen sind unterwegs erschossen worden, weil sie nicht weiterkonnten.
Lisa Gadenstätter: Sie wurden dann in Buchenwald von den Amerikanern befreit; Sie haben damals zu dem Zeitpunkt 28 Kilo gehabt.
Benno Kern: Ja, stimmt! Das war am 11. April 1945.
Lisa Gadenstätter: Es gibt da eine besondere Geschichte um Ihre Häftlingsuniform, die Sie heute auch mitgebracht haben, die Ihnen sehr viel bedeutet. (Kern: Ja! Sie war mein - -) Sie haben ja, glaube ich, noch die Hose, und das Oberteil haben Sie dem Amerikaner geschenkt, oder?
Benno Kern: Ja.
Lisa Gadenstätter: Warum?
Benno Kern: Weil er mir geholfen hat, die Besatzung von der SS zu ..., also herausgeholt von den Villen rundherum von Buchenwald.
Hast du die - -?
Ja, sehen Sie, das war mein Arbeitsan- -, und das habe ich ihm dann später gegeben.
Das kannst du wieder nehmen.
Lisa Gadenstätter: Sie sind ja als einziger Überlebender Ihrer Familie nach Wien zurückgekehrt (Kern: Ja!), und heute gedenken wir anlässlich 85 Jahre Novemberpogrom. Was möchten Sie denn uns allen mitgeben?
Benno Kern: Erstens einmal: Nie wieder! Nie wieder!, weil das ist unmöglich auszuhalten. Und darum verfolgen wir praktisch alle Nachrichten, es sind heutzutage oft – leider, leider, man kann es - -, aber man muss es sagen – von den Islamisten lebensbedrohende Parolen. Die wollen uns vernichten in Israel.
Es hat, wie man sagt, Gruppen gegeben, die durch die Straßen gegangen sind, und die haben uns angegriffen, und da war die Angst: Gott behüte, dass so etwas noch einmal kommt!
Jetzt hat man die UNO eingeschaltet und man hat den jüdischen Staat gemacht.
Lisa Gadenstätter: Darf ich Sie nur - - Weil Sie gesagt haben: Nie wieder – das wollen Sie uns allen mitgeben – darf so etwas passieren (Kern: Ja!), das ist jetzt unsere Verantwortung.
Vielleicht auch noch ganz kurz – als kurze Frage und Antwort –: Sie sind ja auch Vorsitzender des Wiederaufbaufonds der Schiffschul-Synagoge (Kern: Ja!), wie wir auch in der Präsentation gehört haben. Ihr großer Traum ist es, dass man diese Synagoge wieder aufbaut. Warum ist Ihnen denn das so wichtig?
Benno Kern: Weil wir in unserer Familie praktisch zwei große Synagogen gehabt haben: die Schiffschul und den Polnischen Tempel in der Leopoldsgasse. Der wurde aber komplett vernichtet, bis zu den Grundmauern. Da war als Einzige die Schiffschul – aber die war ein Trümmerhaufen, nur der Vorderteil ist stehen geblieben, weil er ein Wohnhaus war. Dort hat der Rabbiner gewohnt, die Kantoren und so weiter. Das haben wir notdürftig – aber wirklich nur notdürftig! – bis heute wieder installiert, und das wollen wir wieder aufbauen. Man hat es uns versprochen.
Lisa Gadenstätter: Das wäre ein schönes Zeichen für die Jugend, haben Sie gemeint. (Kern: Ja!)
Darf ich Ihnen vielleicht noch eine letzte Frage stellen? (Kern: Ja!) Ich weiß, Sie haben jetzt schon sehr lange mit mir gesprochen, aber ich habe schon mit ein paar Holocaustüberlebenden sprechen dürfen, und was ich immer bewundere, ist dieser unerschütterliche Optimismus, den die Menschen trotz der furchtbaren Erlebnisse, die sie gehabt haben, haben.
Jetzt ist es so, dass viele Überlebende wieder retraumatisiert sind, und die Angst ist auch wieder zurück. Gibt es dennoch etwas, wo Sie sagen, dass es jetzt auch Sie optimistisch in die Zukunft blicken lässt?
Benno Kern: Das ist unsere Zukunft. Wir brauchen, wie man sagt, eine jüdische Umgebung. Das beginnt beim Tempel, bei der Schule und so weiter, und wir haben nichts, nur die Ruine! Das hat man uns schon drei Mal versprochen, dass man das aufbauen wird. Dieser Weg ist mit lauter Dornen behaftet, aber es sind viele Behörden, die uns sehr behilflich sind.
Lisa Gadenstätter: Abgesehen von der Schiffschul-Synagoge, gibt es da etwas?
Benno Kern: Ja, und zwar: Die haben gesagt, es gibt so viele Magistratsabteilungen, und jeder muss seinen Kren dazugeben. Daher verzögert sich das immer wieder, und wir müssen das mit aller Kraft machen.
Sagen wir die letzte Sache? – Na ja, ich will Ihnen nur sagen: Es gibt heute leider einen neuen Todfeind, das ist der Iran, und der Iran hat seine Helfer, angefangen bei der Hamas, Hisbollah und so weiter. Wir sind in Lebensgefahr und wir müssen uns von allen Seiten schützen, und wir können das, wie man sagt, ohne Hilfe von den Behörden schwer machen.
Lisa Gadenstätter: Sie meinen Österreich.
Benno Kern: Ja, und zwar möchte ich lobend erwähnen Herrn Präsidenten Sobotka und noch viele verschiedene andere auch. Man hat uns goldene Brücken versprochen, und wir suchen diese Worte wie ein Stückchen Brot.
Ich sage denen allen: Danke! Hoch lebe Österreich!, und: Gott schütze Österreich! (Lang anhaltender, stehend dargebrachter Beifall.)
Lisa Gadenstätter: Herr Kern, ich danke Ihnen sehr. Herr Kern, Sie haben das ganz wunderbar gemacht. Vielen Dank.
Herr Kern, danke! Schkojech! Vielen herzlichen Dank. Sie haben uns Ihr ganzes Leben wunderbar erzählt, ich danke Ihnen sehr.
Vielen Dank an Benno Kern! Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, noch etwas sagen: Er hat gerade zu mir gesagt: Das, was ich jetzt erzählt habe, ist so viel von einem kleinen Finger, und es gäbe noch so viel mehr zu erzählen. – Ich danke Ihnen aber, dass Sie sich wieder dazu durchgerungen haben, uns Ihr Erlebtes zu erzählen. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr, sehr schwer ist.
Meine Damen und Herren, „El male rachamim“ sind die Anfangsworte des Totengebetes zum Gedenken an die Opfer des Holocaust. Ich darf Sie bitten, dass Sie sich jetzt von Ihren Plätzen erheben.
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(Das Totengebet wird von Shmuel Barzilai und Dominik Hellsberg vorgetragen.)
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Lisa Gadenstätter: Vielen Dank an Shmuel Barzilai, Dominik Hellsberg und Nikos Pogonatos für die musikalische Untermalung der Gedenkfeier.
Meine Damen und Herren, das war die Gedenkfeier anlässlich 85 Jahre Novemberpogrome.
Ich darf Sie noch auf den Gedenkmarsch Light of Hope hinweisen. Treffpunkt ist um 19 Uhr am Heldenplatz: ein Marsch gegen das Vergessen und für neue Hoffnung.
Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. (Stehend dargebrachter Beifall.)