Transkript der Veranstaltung:
Vorausschauender Rückblick nach dem Brexit
Moderator Gerald Groß: Einen wunderschönen guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf Sie sehr herzlich willkommen heißen im Haus der Europäischen Union in Wien.
2020, das ist ja ein ganz besonderes Jahr, das beginnt schon einmal bei der Zahlenkonstellation, und ich will mich jetzt nicht auf irgendwelche Spielereien einlassen – weil ich Prof. Taschner gerade ins Auge schaue, und da muss man natürlich immer vorsichtig sein, was man zum Thema Zahlen sagt. Aber schön ist diese Kombination schon: 2020, und sie ist auch eine ganz besondere, aber das ist natürlich nicht der Anlass, warum dieses Jahr ein Jubiläumsjahr ist.
25 Jahre Österreich in der Europäischen Union, das ist einmal der erste Anlass, das ist das erste Jubiläum, das wir heuer begehen, am 1. Jänner war es soweit, dann 75 Jahre Zweite Republik, es ist dann im April soweit, und im Herbst dann 100 Jahre Österreichische Bundesverfassung. Alle drei sind Jubiläen, die letztlich Meilensteine für Österreich bedeuten und die gewissermaßen das Fundament des Zusammenlebens in dieser Republik bilden, und dieses erste Jubiläum wollen wir heute zum Anlass nehmen für einen, wie wir das genannt haben, „vorausschauenden Rückblick“. Wenn Sie sich vorstellen, wir sitzen im Auto und schauen in den Rückspiegel, fahren aber geradeaus. Das heißt, wir wollen ein bissel schauen, wie es war. (Zwischenruf.) – Das ist kein gute Bild, finden Sie? Das ist gefährlich? (Zwischenruf.) – Also, Sicherheit, natürlich, das ist immer ein Thema – 3-S-Blick –, also, das ist ganz wichtig. Wir wollen das nützten unter dem Eindruck der Brexit, der ja gerade einmal 10 Tage vorbei ist und hinter uns liegt, und daran werden wir auch in dieser Diskussion nicht vorbeikommen, und ich freue mich darauf.
Ich freue mich auch, meine Damen und Herren, dass ich jetzt eine Reihe von Persönlichkeiten begrüßen darf, und zwar ganz besonders herzlich begrüßen darf ich den Präsidenten des Nationalrates, Wolfgang Sobotka, und den Präsidenten des Bundesrates, Robert Seeber, gemeinsam mit dem Hausherrn und Miteinlader Martin Selmayr, Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich. – Herzlich willkommen! (Beifall.)
Ich begrüße den Klubobmann der ÖVP August Wöginger – herzlich willkommen, wenn er da ist, ich glaube, wir warten noch auf ihn, er ist noch nicht da. Ich darf den Vizekanzler a. D. Erhard Busek willkommen heißen und begrüße auch die Bundesminister a. D. Werner Fasslabend und Nikolaus Michalek sowie den Bundesratspräsidenten a. D. Alfred Schöls und Wolfgang Waldner, Staatssekretär a. D. – herzlich willkommen! (Beifall.)
Es freut uns außerordentlich, die zahlreichen Vertreterinnen und Vertreter des Diplomatischen Corps heute begrüßen zu dürfen, des Weiteren begrüße ich Herbert Vytiska, einer der Autoren der Publikation, die Sie auf Ihren Plätzen gefunden haben. Auch ihm ein herzliches Willkommen! (Beifall.) Ein herzlicher Willkommensgruß gilt den anwesenden aktiven und ehemaligen Abgeordneten zum Nationalrat und Mitgliedern des Bundesrates.
Namentlich begrüßen möchte ich die ProtagonistInnen der heutigen Veranstaltung, EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung Johannes Hahn, die Leiterin des Departments für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau-Uni Krems Ulrike Guérot, Stefan Lehne, Visiting Scholar der Carnegie Europe in Brüssel sowie den Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik Paul Schmidt. – Herzlich willkommen Ihnen allen! (Beifall.)
Vielleicht sind Sie ja über den Heldenplatz spaziert, heute, als Sie hier hergegangen sind, ein bissel durch den beginnenden Sturm, der jetzt auch nach Wien kommt, oder Sie sind ohnedies aus beruflichen Gründen vielleicht des Öfteren auf dem Heldenplatz zugange, dann kennen Sie ja die Ausstellung, die dort frei zu besichtigen ist, seit 1. Jänner 2020 bis Jahresende 2020, eine künstlerische Installation, die die wichtigen Meilensteine, die ich eben am Beginn angesprochen habe, auch abbilden will beziehungsweise daran erinnern will. Im Moment ist der erst Teil bereits zu sehen, eben der, der an den EU-Beitritt Österreichs erinnert, die weiteren folgen noch. Es wird eine Ausstellung, die im Laufe des Jahres wächst. Auf den Steelen, die Sie dort besichtigen können und sich anschauen können, können Sie sich Schlaglichter auf die Entwicklung der Europäischen zu Gemüte führen, und Sie können das auch nachlesen, eben genau in dieser Publikation, auf die ich vorhin schon hingewiesen habe. Wenn Sie sich vielleicht fragen, diese Farbenkombination hier, diese Flagge, die kenne ich nicht, was ist denn das für eine Flagge? Nun, mit der hat es eine ganz besondere Bewandtnis: Das visuelle Leitmotiv dieser Installation beruht auf den Farben der EU-Mitgliedstaaten. Also, es sind hier nur Farben vertreten, die in den Flaggen aller EU-Mitgliedstaaten auch vertreten sind. Die Farben der Flaggen dieser Länder sind dann nach ihrer Häufigkeit statistisch, mathematisch gewichtet worden, und für diese Installation zu einer temporären, wenn man so will, Fahne komponiert worden. Und die Reihenfolge des Abdrucks in der Publikation folgt übrigens den Steelen, die Sie auf dem Heldenplatz sehen können: „Fundamente. Meilensteine der Republik. 25 Jahre Österreich in der Europäischen Union“, mit Beiträgen von Ernst Bruckmüller, Michael Gehler, Thomas Pankratz, Paul Schmidt, Barbara Schrank und Herbert Vytiska, herausgegeben von der Parlamentsdirektion, zur vertiefenden Lektüre, meine Damen und Herren. – Bitte nehmen Sie es dann auch mit nach Hause.
Ich darf nun zum Hausherrn überleiten: Eine österreichische Zeitung hat vor kurzem einmal über ihn geschrieben: „Martin Selmayr kennt im Brüsseler Maschinenraum der Europäischen Union vielleicht nicht jede Schraube, aber ganz sicher alle Hebel, um das Kraftzentrum zu steuern und in Gang zu halten.“ Er war Kabinettschef von Kommissionspräsident Juncker und seit 2018 Generalsekretär der Europäischen Kommission und damit der höchste Beamte der Union. Seit November 2019 ist er nicht nur an der Donau Universität Krems tätig, dort war er, glaube ich, auch schon früher als Lehrender tätig, sondern vor allem Leiter der EU-Vertretung in Österreich und damit der Hausherr dieses Hauses. Herzlich willkommen, danke, dass wir hier sein dürfen, Herr Selmayr. (Beifall.)
Martin Selmayr (Leiter der Vertretung der EU-Kommission in Wien): Vielen Dank. Lieber Herr Groß, meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, Sie im Namen der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlamentes im Haus der Europäischen Kommission zu dieser besonderen Veranstaltung willkommen zu heißen.
„Vorausschauender Rückblick“ ist das Thema des heutigen Abends, und ich glaube, wir sollten uns das auf der Zunge zergehen lassen, vielleicht ganz mit so gefährlichen verkehrspolitischen Wagnissen, wie Herr Groß sie gerade geschildert hat, sondern: Was wollen wir eigentlich damit sagen? Wir wollen damit sagen, dass der Brexit jetzt hinter uns liegt! Es ist wirklich ein trauriges Ereignis, aber es ist ein eigenes, das abgeschlossen ist, eine Beziehung ist gescheitert, da waren wir auch schuld, die anderen waren wir vielleicht mehr schuld, da können dann die Geschichtsbücher drüber schreiben, aber jetzt geht es um die Zukunft. Es geht um die Zukunft Europas, und wir dürfen nicht glauben, dass die Zukunft Europas erst in 20, 25 Jahren anfängt. Die Arbeit an der Zukunft Europas beginnt bereits heute! Jeden Tag arbeitet die Kommission in Brüssel unter der neuen Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen an Themen, die die Zukunft betreffen, ob es der Klimawandel ist, die Digitalisierung, ob es die Erweiterung um die Westbalkanstaaten ist, ob es um die großen Fragen des EU-Haushaltes geht, die in den Expertisenhänden von Gio Hahn, unseres Haushalts- und Personalkommissars liegen.
Meine Damen und Herren, die Zukunft ist nicht ein abstraktes Thema, die Zukunft ist nicht etwas, wo es nur um institutionelle Fragen geht, sondern in Zukunft geht es darum, was Europa für den Bürger leisten kann, und ich freue mich, dass wir die besten Personen haben, die darüber reden können, jetzt gleich auf Videobotschaft: Othmar Karas, der Vizepräsident des Europäischen Parlamentes, der für Kommunikation und auch für die Kommissions- und Parlamentsvertretungen der Mitgliedstaaten zuständig ist, und natürlich Gio Hahn, der uns mit seiner langjährigen Erfahrung berichten kann, wie Europa am besten wieder flott gemacht werden kann. Europa ist gar nicht so schlecht unterwegs, das können wir, glaube ich, gemeinsam sagen.
Ich freue mich ganz besonders, dass wir heute nicht nur Wissenschaftler bei uns haben, Botschafter und viele erfahrene Würdenträger, sondern vor allem die beiden Präsidenten der Kammern des österreichischen Parlaments, Herrn Sobotka und Herrn Seeber, weil ich weiß, bei beiden sind wir in guten Händen, wenn es um Europa geht, beide wollen die Europadebatte voranbringen, und wir werden sie brauchen in den kommenden Monaten und Jahren, denn wir wollen ja zwei Jahre lang über die Zukunft Europas in einer großen Konferenz reden, und diese Konferenz darf nicht – verzeihen Sie das – in Brüssler Kreisen belassen bleiben, sondern die muss hier vor Ort stattfinden, in Wien, in allen Hauptstädten, in allen Gemeinden der Europäischen Union, damit nämlich der Bürger sich nicht nur mitgenommen fühlt, sondern der Bürger selbst aktiv daran beteiligt ist und nach dieser Debatte niemand mehr sagen kann, das hat irgendjemand entschieden und ich bin nicht dafür verantwortlich. Wir müssen Europa als ein Projekt verstehen, das unser aller gemeinsames Projekt ist, das ist nicht eine Besatzungsmacht Europa, jeder einzelne von Ihnen kann daran mitwirken und ist verpflichtet daran mitzuwirken, wenn er will, dass es in die richtige Richtung geht.
Meine Damen und Herren, ich freue mich sehr, dass Sie so zahlreich erschienen sind, ich freue mich auf eine spannende Diskussion mit ihnen und vor allem auf einen spannenden Vortrag von Gio Hahn und jetzt freue ich mich auf eine Videobotschaft des Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments Othmar Karas. Vielen Dank! (Beifall.)
Othmar Karas (Vizepräsident des Europäischen Parlaments): Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Bundesrates! Lieber Martin Selmayr, lieber Herr Piplat! Sehr geehrte Damen und Herren! Bundeskanzler Helmut Kohl hat es einst treffend formuliert: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“ Ein Gedanke, der auch gut zum Jahr 2020 passt und zu dieser Veranstaltung. Wir feiern nämlich nicht nur 25 Jahre Österreich in der Europäischen Union, sondern geben auch den Startschuss für die Konferenz zur Zukunft Europas und der europäischen Demokratie. Die EU-Mitgliedschaft ist neben dem Staatsvertrag die wichtigste Zukunftsentscheidung, die Österreich jemals getroffen hat, eine Erfolgsgeschichte, die es zu erzählen lohnt, und die auch in Zukunft mit höchster Sorgfalt weitergeschrieben werden muss: Ernsthaftigkeit, Mut und Verantwortung sind gefragt. Den Weg, Motor und Herz für die Zukunft der Europäischen Union in der Welt zu sein, muss Österreich weiter gehen, gestärkt durch die Erfolge der letzten 25 Jahre. Denn trotz der beeindruckenden Erfolge, stößt die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union leider immer wieder deutlich an ihre Grenzen. Das wurde auch bei der Bewältigung der Wirtschafts-, Finanz- und Staatsschuldenkrise beim Umgang mit den Migrationsströmen 2015 oder im Kampf gegen Steuerflucht aufgezeigt.
Der Brexit ist das lauteste Alarmsignal. In vielen Mitgliedstaaten sehen wir politische Zersplitterung und Polarisierung, beides stärkt Extreme, Populisten, Nationalisten und gefährdet den Grundkonsens für gemeinsames Handeln, sprich, auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union. Die gesellschaftlichen Spannungen und Ungleichheiten zeigen, dass wir uns in der Vergangenheit viel zu wenig mit den Unterschieden und Schwierigkeiten in unseren Gesellschaften auseinandergesetzt haben und es für uns alle logisch war, den gewohnten Weg einfach fortzusetzen. Alle Probleme der Gegenwart sind aber die nicht gelösten Probleme der Vergangenheit, und hinzu kommen noch die globalen Herausforderungen, die ein Staat, eine Region eine Gemeinde alleine nicht bewältigen kann. Wir haben aber heute Friede, Demokratie, Freiheit. Der Eiserne Vorhang und die Berliner Mauer sind gefallen, die Dreiteilung Europas ist Geschichte, der EU-Beitritt und die anschließenden Erweiterungen haben Österreich dorthin gerückt, wo es hingehört: vom Rand ins Zentrum.
Die Zukunft Österreichs hängt wesentlich von der Zukunft Europas und Europas Stellung in der Welt und unserer Beziehung zu unseren Nachbarn ab. Manchen wir daher die Zukunft zu unserem Freund und die Bürgerinnen und Bürger zu unseren Verbündeten, denn nur dann können wir das Erfolgskonzept der Europäischen Union weitertragen. Und es ist ein Erfolgskonzept, über das wir reden sollen. Nur durch unsere Mitgliedschaft haben wir 16 Prozent an Wohlstand zugelegt, nur durch unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union haben wir einen Beschäftigungseffekt von 13 Prozent, nur durch unsere Mitgliedschaft, haben wir 70 Prozent unseres Wohlstands außerhalb Österreichs, aber innerhalb der Europäischen Union erwirtschaftet, und nur durch unsere Mitgliedschaft und die Teilnahme am Binnenmarkt, haben wir eine gemeinsame Währung und keine Wechselkurs kosten, zahlen weniger Zölle, bis zu 5 Milliarden Euro ersparen wir uns dadurch jährlich. Wir sind Profiteur, nicht nur Geber, Europa ist eine Win-win-Situation, ein gutes Investment in die Zukunft. Gestalten wir Europa gemeinsam weiter! (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank, Othmar Karas.
Haben Sie gewusst, meine Damen und Herren, dass die überwiegende Mehrheit der EU-Bevölkerung in Staaten mit einem Zwei-Kammern-System lebt? Nun es ist tatsächlich so – ganz besonders alle vier föderalistischen Staaten der EU, nämlich Österreich, Belgien, Deutschland und Spanien; sie alle haben zwei Kammern, wobei die zweite Kammer eine Länderkammer ist, das ist bei uns der Bundesrat, und es freut mich, dass ich jetzt den Präsidenten des Bundesrates herzlich willkommen heißen darf und auf die Bühne bitten darf: Robert Seeber! (Beifall.)
Robert Seeber (Präsident des Bundesrates): Guten Abend, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich darf gleich nahtlos anschließen an das, was Othmar Karas und auch Martin Selmayr zuerst erwähnt haben, denn einige Punkte werden Sie auch in meiner kurzen einleitenden Rede wiederfinden.
Es sind nun 25 Jahre vergangen, seit wir in der EU sind, und wir wissen alle – es sind ja sehr viele Praktiker hier herinnen – 25 Jahre sind in der Politik eine relativ lange Zeit, und es ist auch eine Zeit, wo ich glaube, dass man auch aus den Fehlern lernen kann, die augenscheinlich in der EU gemacht wurden, und man kann auch lernen, sie in Zukunft zumindest zu vermeiden. Zu dieser Vergangenheit gehört auch die Tatsache, wir haben es zuerst erwähnt, dass die Briten, Großbritannien, aus der EU ausgetreten sind, auch wenn das Referendum relativ knapp war. Wir haben es schon gehört, es ist ein Faktum, welches zur Kenntnis zu nehmen ist, und im Zeichen der Globalisierung beziehungsweise der Digitalisierung können wir sagen beziehungsweise müssen wir sagen, dass unser Einfluss – so leid es mir tut – deutlich geringer geworden ist, wir müssen das zur Kenntnis nehmen.
Jetzt müssen natürlich eine Strategie entwickeln, was wir machen können, um die EU zukunftsfit zu machen, um die Probleme anzupacken, denn es kann nicht sein, man muss sich fragen: Warum sind so viele Briten aus dieser Gemeinschaft ausgeschieden?
Die strukturellen Probleme, die es gibt, meine Damen und Herren, die sind evident, und es ist klar, wir müssen dem entgegenwirken, dass die nationalen Bestrebungen nicht überhand nehmen. Ich meine hier auch populistische Strömungen, die man sehr oft in europäischen Ländern vernehmen kann, das heißt, es besteht meines Erachtens eine eminente Gefahr, dass nationale Parlamente alle Entscheidungen machen wollen, die es in der EU gibt, und da muss man sehr aufpassen, denn das europäische Haus ist sehr wichtig, und als glühender Vertreter einer Europäischen Union möchte ich das ausdrücklich betonen.
Wir haben eine große Diversität, meine Damen und Herren, bei unseren Mitgliedstaaten, und eines ist ganz klar, auch das haben wir schon gehört: Die zentralen Themen, bei aller Diversität, sind sicherlich die Themen Migration, Sicherheit, der Euro und die Finanzstabilität, und das sind die Themen, die auch für die Zukunft der Europäischen Union entscheidend sein werden.
Es wird jetzt eine Konferenz geben, die sich zwei Jahre mit den zukünftigen Problematiken und Themen innerhalb der EU beschäftigen wird, diese Konferenz wird zusammengesetzt sein auch den Bürgern, aus den Sozialpartnern und lokalen Behörden, und es wird für mich, so wie ich es sehe, eine Art Anleitung sein, wie die Europäische Union in Zukunft weiterentwickelt werden kann, und diese Empfehlungen soll man dann auch entsprechend umsetzen.
Für mich – als Präsident des Bundesrates ist es mir ein Bedürfnis, das hier auch zu sagen – ist das Subsidiaritätsprinzip ist ganz wichtig, denn Sie wissen ja, der Bundesrat wird auch innerhalb unseres Staates und innerhalb des Parlamentes als die Europakammer bezeichnet, und mein Kollege Christian Buchmann, der Vorsitzende des EU-Ausschusses, den ich auch hier begrüßen darf, arbeitet sehr engagiert an diesen Themenfeldern mit. Das heißt, meine Damen und Herren, und das ist auch meine persönliche Meinung, die ganz großen Fragen, die sollten wir wirklich der EU überlassen, aber die kleinen, die regionalen Fragen, die die Regionen und die einzelnen ganz kleinen Bereiche in den einzelnen Ländern betreffen, die können meines Erachtens sehr wohl nationale Parlamente besser lösen.
Viel ist auch in den letzten Tagen, meine sehr verehrten und Herren, über die Ideale der EU gesprochen worden, und, ja, es gibt eine europäische Wertehaltung, ein europäisches Fundament, aber ich finde, nur mit den Idealen alleine wird es nicht genügen. Ich finde, es wird einer sehr pragmatischen politischen Herangehensweise bedürfen, um diese europäische Union weiterzuentwickeln, das heißt, ganz klare rationale Entscheidungen, um die Entwicklung der Bürger entsprechend zu begleiten. Diesen Entscheidungen, meine Damen und Herren, sehen wir mit sehr großem Positivismus entgegen, das österreichische Parlament sieht sich hier auch als Impulsgeber, und ich darf hier in dieser Runde sehr viele hochrangige und auch profunde Kenner der Materie beziehungsweise der europäischen Idee begrüßen.
Ich möchte abschließend noch erwähnen, dass es mich sehr freut – und ich bin überzeugt davon, dass wir sehr viele Impulse am heutigen Abend über die weitere Entwicklung noch kennenlernen werden – , dass die Europäische Union, meine Damen und Herren, für uns alle die Heimat ist, und ich glaube auch sagen zu können, letzten Endes ist sie eine Herzensangelegenheit von uns allen geworden. In diesem Sinne wünsche ich noch einen interessanten Abend. Danke! (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank, Herr Präsident. Wenn ich es richtig sehe, dann feiert unser hochrangiger und prominenter Keynotespeaker heuer auch ein ganz besonderes EU-Jubiläum, oder, besser gesagt, hat es schon gefeiert, denn es war der 14. Jänner 2010, als Johannes Hahn sich dem Hearing im Europäischen Parlament gestellt hat, damals als Regionalkommissar, und gemeint hat vor den Abgeordneten: Die Regionalpolitik, das ist eine europäische Erfolgsgeschichte, zu der es keine Alternative gibt, er setze sich besonders für die Förderung der Bildung und Kreativität in Europa ein.
In den folgenden Jahren war Johannes Hahn Regionalkommissar im Kollegium von Kommissionpräsident José Manuel Barroso, er war in der Folge auch in der Kommission von Jean Claude Juncker zuständig für europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen und hat dort gemeinsam mit der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini eine umfassende Reform der europäischen Nachbarschaftspolitik in die Wege geleitet. Seit 1. Dezember 2019 ist er EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung in der Kommission Von der Leyen, und heute ist er hier bei uns. Noch einmal herzlich willkommen Johannes Hahn!
Johannes Hahn (EU-Kommissar für Haushalt und Verwaltung): Vielen Dank, Herr Groß, für die Einleitung. Wie ich Othmar Karas und auch Robert Seeber zugehört habe, bedaure ich es nachgerade, dass ich nicht die Möglichkeit habe, hinterher an der Paneel-Diskussion teilzunehmen, weil ich dorthin muss, wo der Othmar schon ist, nämlich ins Europäische Parlament, wiewohl die Aufnahme strenggenommen in Brüssel stattgefunden hat, im Parlament in Brüssel, aber wie Sie ja wissen, haben wir das Vergnügen einmal im Monat kollektiv alle nach Straßburg zu reisen, und Straßburg ist ja nicht einfach erreichbar, deswegen muss ich mich jetzt schon in den Flieger setzen, um morgen dort zu sein. Aber vielen Dank für die Möglichkeit und die Einladung, heute da sein zu dürfen.
Herr Groß, Sie haben auf mein Hearing am 14. Jänner verwiesen, was mich fast noch mehr freut, der heutige Tag ist der 10. Jahrestag, dass ich ins Amt gekommen bin, also insofern bin ich ja - - Ich habe immer die Neigung gehabt, zu sagen, ich bin ein Fossil, meine Pressesprecherin hat gesagt, das heißt nicht Fossil, du bist ein Veteran. Ich nehme also zur Kenntnis, ich bin ein Veteran, ich bin halt schon zehn Jahre dabei und habe die Möglichkeit noch weitere fünf Jahre federführend an der Gestaltung Europas mitzuwirken.
Aber die Frage ist ja oder war gestellt, und ich möchte eigentlich am Beginn die Gelegenheit nutzen, aus Dankbarkeit und auch Anerkennung, jene Regierungsmitglieder auch persönlich zu begrüßen, die damals die Vorbereitung zum Beitritt und den Beitritt zu meistern hatten: Erhard Busek als Vizekanzler, Nikolaus Michalek als Justizminister, Werner Fasslabend als Verteidigungsminister, und ich freue mich ganz besonders, dass die Witwe Alois Mocks da ist, Edith Mock – ganz herzlich willkommen, Edith, in unserem Kreis. Vielen herzlichen Dank auch posthum für das, was Alois in diesen Tagen, Wochen und Monaten geleistet hat. (Beifall.)
Vor 25 Jahren hat sich ja in der Berichterstattung alles irgendwie darum gedreht: Was wird uns die Mitgliedschaft bringen? Was wünschen wir Österreicher uns von Europa? – Wohlstand, Stabilität und Frieden – im Grunde genommen das Gleiche wie heute – waren damals die häufigsten Antworten, und das nota bene natürlich vor dem Hintergrund der Umbrüche in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, quasi vor unserer Haustür. Und ich würde sagen, heuer, 25 Jahre später, kann man wohl sagen, dass die Union ihre Versprechen nicht nur gehalten, sondern übererfüllt hat, und da meine ich nicht unbedingt und zunächst den „Ederer-Tausender“, auch das ist voll aufgegangen, und vermutlich kann man nicht nur von einem Tausender in der Schilling-Währung, sondern in der Euro-Währung sprechen. Es ist auch schon angesprochen worden von Othmar Karas, wie überdurchschnittlich Österreich von diesem Beitritt profitiert hat. Er hat es schon erwähnt, 16 Prozent Steigerung des Bruttoinlandsproduktes kann berechnet werden, das sind pro Jahr immerhin 0,7 Prozent, und das ist in Zeiten wie diesen etwas durchaus Beachtliches. Abertausende von Arbeitsplätzen in Österreich sind gesichert und geschaffen worden, nicht zuletzt durch den Umstand, dass wir die Exporte auch in die Europäische Union und insbesondere in die Mitgliedsländer um das Dreifache steigern konnten, in unsere vier unmittelbaren neuen Mitgliedstaaten haben wir seit 1995 die Exporte verfünffacht, also wir haben wirklich die Möglichkeiten genutzt, die sich ergeben, und Österreich hat seine Rolle im Herzen Europas, im gefühlten Herzen Europas, wirklich auch genutzt, und die Möglichkeiten, die sich ergeben haben, in vollem Umfange auch ausgeschöpft.
Ich habe heute ein Gespräch in völlig anderem Zusammenhang gehabt und darauf hingewiesen, dass etwa zum Beispiel das Burgenland wahrscheinlich zu den Regionen Europas zählt, die im größten Umfang die Möglichkeiten genutzt haben, die sich insbesondere durch die Öffnung und den Fall des Eisernen Vorhanges ergeben haben, durch die europäischen Strukturfondsmittel und alles, was dazu gehört. Aber Europa, Österreich insbesondere, hat ja auch ganz wesentlich einen Beitrag geleistet und hat ihn auch noch zu leisten in der Zukunft als Brückenbauer zwischen den verschiedenen Kulturen, die wir in Europa haben, auf die wir stolz sein können, auf die wir stolz sein sollen. Die Vielfalt, die wir haben, sollten wir nicht kritisieren, sollten wir nicht bedauern, sollten wir nicht als Schwäche interpretieren, sondern schlicht und einfach als das, was es ist, nämlich als Stärke. Und nicht umsonst ist ja unser Slogan: Vereinigt in Vielfalt! Und ich denke, das ist das, was Österreich ausmacht, was Europa ausmacht, und was bis zu einem gewissen Grad auch Österreich wie jedes andere Mitgliedsland ausmacht, dass wir jedenfalls alle in uns unglaublich heterogen sind, vielschichtig, unterschiedlichste Völker und Kulturen haben, eine Vielzahl von Sprachen, weit über die offiziellen Sprachen hinaus; auch das ist Ausdruck und Sinnbild unserer Vielfalt, unserer verschiedensten Identitäten, die aber alle in einer Identität kulminieren, nämlich Europäerin oder Europäer zu sein.
Ich glaube, wir können auch stolz sein, aus dem abgeleitet, über die unglaubliche Innovationskraft, die wir in Europa haben, die wir insbesondere auch in Österreich haben. Wir haben, by the way, auch hier unsere Möglichkeiten genutzt, die Forschungsquote nicht zuletzt durch die Teilnahme an europäischen Forschungsprogrammen hat sich mehr als verdoppelt, und wir sind heute dort, wo wir lange sein wollten, nämlich bei mehr als 3 Prozent, etwas, was vor einigen Jahren noch als fast undenkbar gegolten hat, das ist heute möglich. Und die Frage ist nun, was sind unsere Herausforderungen, auch aus österreichischer Sicht, was ist zu tun, damit wir in 25 Jahren sagen können, Europa und auch Österreich im Jahre 2045 ist ein blühender Kontinent, ein Kontinent, der nicht nur Frieden, Stabilität und Wohlstand garantiert, sondern der auch - - und ich glaube, das ist eine der zentralen, wenn nicht die zentrale Herausforderung dieser Jahre und der nächsten Jahre, dass wir einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, wie sich die Welt weiterentwickelt. Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, ist es vielleicht auch, ist aber im Kern etwas sehr, sehr Wahres, denn Europa als flächenmäßig kleiner Kontinent, aber mit einer bedeutenden zivilisatorischen Geschichte, hat letztlich immens dazu beigetragen, dass sich die Welt im Großen und Ganzen in eine Richtung entwickelt hat, die man in vielerlei Hinsicht kritisieren kann, wo ich aber doch auch das Positive überwiegen sehe, wo ich aber auch sehe, welche Herausforderungen es gibt für uns in den nächsten Jahren und Jahrzehnten an der Weiterentwicklung dieses Planeten, wenn Sie so wollen, mitzuwirken. Und das sage ich ganz bewusst vor dem Hintergrund, dass Europas Gewicht in der Welt in dem Maße sinkt, in dem das Gewicht anderer Regionen wächst. Das hängt einfach damit zusammen, dass in vielen anderen Teilen der Welt einfach Entwicklungsländer, Emerging Markets, aufholen, zwangsläufig stärker aufholen und sich dadurch auch unser Gewicht reduziert. Und das kommt schon zum Ausdruck, dass im Jahre 1900, vor 120 Jahren, der Anteil Europas an der Weltbevölkerung rund 25 Prozent war und gegenwärtig ist es sechs Prozent und wird weiter absinken auf fünf Prozent in den nächsten Jahren beziehungsweise Jahrzehnten. Und nur, damit wir das richtig einordnen: Von diesen fünf Prozent Weltbevölkerungsanteil, das für Hundert genommen, macht Österreich gerade einmal zwei Prozent aus. Nur damit man sich im Klaren ist, welchen Stellenwert wir haben, welche Möglichkeiten wir haben als Österreich, und dass wir eigentlich nur international unsere Standards, unsere Möglichkeiten letztlich auch unsere Souveränität absichern können, wenn wir Teil einer größeren, gemeinsamen, starken Familie sind.
Was international zählt, ist entweder das wirtschaftliche Gewicht und/oder das militärische. Da Europa bekanntlich kein militärisches Gewicht darstellt, und nach dem Abgang der Briten sowieso nicht, auch wenn man das damals noch artifiziell hätte konstruieren können, verbleibt die wirtschaftliche Komponente, und hier ist Europa definitiv ein Schwergewicht, ein Schwergewicht allerdings, das in der Regel nicht imstande ist, die PS auf den Boden zu bringen, aber trotzdem, es liegt an uns, ob wir uns hier verbessern, und ich nehme an, das wird auch Gegenstand der Diskussionen heute Abend sein. Nur zur Illustration eine Zahl: Vor 10, 15 Jahren war der Anteil Europas und der USA am Welthandel ungefähr zwei Drittel, gegenwärtig ist er 50 Prozent, und in 10, 15 Jahren wird der Anteil Europas und der USA am Welthandel etwa ein Drittel sein. Und das zeigt, wie sich die Gewichte in der Welt verschieben. Nochmals: nicht, weil wir schlecht oder schlechter performen, im Gegenteil, wir haben Zuwächse im Export, aber natürlich die, die aufholen, verändern hier die Gewichte, denn hundert bleibt hundert.
Und daher ist die Frage: Wie können wir hier in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unser Gewicht in der Welt sichern? Ich glaube, das hängt sehr wohl davon ab, welche Entscheidungen wir gerade in den nächsten Wochen und Monaten treffen. Wenn ich an mein neues Kerngeschäft, die Finanzen, denke: Ein Budget ist bekanntlich die in Zahlen gegossene Politik, und wir verhandeln jetzt gerade ein Budget für die nächsten sieben Jahre. Die Union ist der einzige politische Block, der über ein Mehrjahresbudget verfügt, ein Budget von sieben Jahren. Wir reden jetzt über das nächste Budget von 2021 bis 2027 – natürlich wird es dann in Jahresbudgets runtergebrochen, die extra beschlossen werden, aber diese sieben Jahre geben doch einen sehr guten Rahmen vor, wohin sich die Reise bewegen soll.
Wichtig ist natürlich, dass eine gewisse Flexibilität im Budgetvollzug eingebaut ist, denn sieben Jahre - - Es wurde zuerst gesagt, 25 Jahre sind in der Politik eine sehr lange Zeit, ich darf sagen, selbst sieben Jahre sind schon eine lange Zeit, und in sieben Jahren kann vieles passieren, in den letzten sieben Jahre gab es die Migrationswellen, die vor sieben Jahren niemand vorhergesagt hat, in der Periode davor, wo ich schon dabei sein durfte, gab es den Arabischen Frühling, den auch niemand vorhergesagt hat, und all das musste aber finanziell bewältigt werden und das konnte es eben nur dadurch, dass in diesem Siebenjahresbudget eine notwendige Flexibilität eingebaut ist, die es uns erlaubt, auf wesentliche neue Entwicklungen zu reagieren. Aber trotzdem ist es gut, wenn es ein Gerüst gibt: Was sind die Schwerpunkte? Wohin geht die Reise? Und da ist zunächst einmal das Thema Klimawandel ein zentraler Punkt, den wir uns vorgenommen haben. Die Von-der-Leyen-Kommission mit der starken Ansage, bis 2050 klimaneutral zu sein, die österreichische Bundesregierung, aus Brüsseler Sicht sehr erfreulich, versucht das zu toppen mit der Ansage: 2040. Das ist für beide Bereiche ambitiös, aber machbar, unter der Voraussetzung, dass im wahrsten Sinn des Wortes alle am selben Strang und vor allen Dingen in dieselbe Richtung ziehen.
Das Zweite ist das Thema Digitalisierung, die Dinge hängen ja zusammen. Sie ist in unserem Sinne zu nutzten, und wir sollten nicht die Führung anderen überlassen. Generell gilt in diesem Bereich, in anderen, in der Industriepolitik insgesamt: Das, was Europa wieder schaffen muss, ist, in manchen Bereichen, zumindest in manchen Bereichen First Mover zu sein und nicht First or Second Supplier. Das ist die große Herausforderung. Also, nicht nur Lieferant zu sein, sondern Gestalter, etwas zu schaffen, etwas zu prägen, und dann, glaube ich, ist es möglich, dass wir unser Gewicht auf der Weltbühne ausspielen. Apropos „ausspielen“: Das ist, das, was ich - - im Englischen bietet sich dieses Wortspiel an, also nicht nur Payer zu sein, sondern eben auch Player, gelegentlich sind wir Prayer, aber das ist eine andere Geschichte.
Also, die Frage ist, wie kann das geschehen? Wir haben eine klare Vorstellung, dass das Budget seine hier Rolle spielt. Wir haben ein sehr präzises Konzept, das mit insgesamt einer Billion Euro – ein nahezu unvorstellbarer Betrag – in den nächsten zehn Jahren dieser Kampf gegen den Klimawandel vorangetrieben wird, aber vorangetrieben in einer Art und Weise, dass erstens einmal niemand zurückgelassen wird in dieser Übergangsphase, und zweitens, und das ist mir ganz wichtig, dass das auch als eine unglaubliche Chance für die europäische Industrie verstanden wird.
Wir waren in der Vergangenheit schon wirkliche First Mover bei Green Technologies, und ich kann mich erinnern, vor über zehn Jahren hatten wir in Österreich schon über 200 000 Menschen, die in diesem Sektor beschäftigt waren, und ich nehme an, diese Zahl hat sich in den letzten Jahren deutlich gesteigert, und das gilt eigentlich für viele andere europäische Staaten. Wenn es uns gelingt, hier voranzuschreiten, Standards zu setzen im Wege internationaler Verträge – und die amtierende Kommission hat gerade beschlossen, bei jeder künftigen internationalen Vereinbarung die Pariser Klimaziele zu einem obligatorischen Teil dieser Vereinbarung zu machen, wenn es uns also gelingt, dieses Thema voranzutreiben, dann hat es auch einen Effekt für die entsprechende europäische Wirtschaft, dann schaffen wir nicht nur in Europa Arbeitsplätze, dann schaffen durch unser internationales Agieren die Möglichkeit, auch wieder zu Hause die entsprechenden Arbeitsplätze zu schaffen, aber auch international, und all das trägt zu mehr Stabilität bei.
Die europäische außenpolitische Doktrin kann simpel nur heißen: Entweder wir exportieren Stabilität oder wir importieren Instabilität, und das gilt genauso für das Ansprechen der Migrationsursachen. Und ich behaupte, ich bin mit dieser ja nicht alleine, ich würde sagen es ist mehr als eine These, es ist Faktum: Der Schutz unserer Außengrenzen beginnt weit vor den Außengrenzen, also dort, wo die Migration entsteht. Deswegen ist es zum Beispiel wichtig, und wir versuchen das auch in unserem Budgetvoranschlag als Europäische Kommission abzubilden, dass wir etwa in Afrika mehr investieren und mehr Mittel bereitstellen, als das gegenwärtig der Fall ist, inklusive der südlichen Nachbarschaft Europas.
Denn, wenn wir erfolgreich die Wurzeln der Migration ansprechen und beheben wollen, müssen wir in die Länder südlich der Sahara investieren, in ihre wirtschaftliche Entwicklung, in ihre politische, gesellschaftliche, in die Bildung, in die Partizipation der Frauen am Arbeitsleben, in die Diversifikation der Wirtschaft, es ist also ein holistischer Ansatz gefragt, der notwendig ist, dass sich diese Länder in einer Art und Weise umfassend stabilisieren und ihren Bürgerinnen und Bürgern eine Perspektive geben, die eben Migration nicht mehr erforderlich macht, wobei, auch das ist ein relativ sensibles Thema in Europa, am Ende des Tages: eine gewisse Migration brauchen wir. Die Frage ist: Können wir sie gestalten oder passiert sie? Und das Ziel muss sein, sie zu gestalten. Aber wir müssen vor Augen haben, dass der europäische Kontinent mit Abstand der älteste ist, was das Durchschnittsalter seiner Bevölkerung anbelangt, nämlich 41, 42 Jahre, im Vergleich dazu Afrika: Durchschnittsalter: 21, also rund die Hälfte. Das ist natürlich ein Thema, dem wir uns zu stellen haben, auch in der mittelbaren und langfristigen europäischen Zukunft.
Worum es insgesamt geht, und ich möchte da eigentlich schon zum Ende kommen, weil sich das wieder schließt zu dem Kreis Klimaschutz, Digitalisierung: Etwa im Bereich Digitalisierung – auch das ein zentrales Thema unserer Budgetgestaltung –, stellen wir Mittel bereit für Forschung und Innovation – Horizon 2020 und Horizon Plus, wie es in Zukunft wohl heißen wird, ist mit Abstand das größte öffentliche, umfangreichste, bestdotierte Forschungsprogramm der Welt. Wir generieren ein Drittel des Weltwissens, aber wir sind bis dato immer noch gnadenlos schwach, diese wissenschaftlichen Ergebnisse in Business Cases umzusetzen. Das hängt einfach mit der Risk-Aversion in Europa zusammen, das hängt auch mit der Mentalität zusammen, dass, wenn jemand, nicht nur in Österreich, sondern in Europa, bankrottgeht, Konkurs macht, man in der Regel persönlich plus Familie, wenn es blöd hergeht, stigmatisiert ist. In anderen Kulturen ist es Teil des Erfolgs, des individuellen Erfolgsmodells, dass man ein-, zweimal – um das Wienerisch zu sagen – auf die Schnauze gefallen ist, denn daraus lernt man. Man muss ja nicht zwangsläufig auf die Schnauze fallen, aber wenn, dann soll einem auch die Möglichkeit gegeben werden, es noch einmal zu probieren, es besser zu machen, und die Erfolgsstorys vieler Menschen und vieler Firmen zeigt, dass es nicht das Ergebnis des ersten Versuchs, sondern des zweiten und dritten ist. Und deswegen müssen wir auch in Europa eine Kultur entwickeln, dass wir bereit sind, Forschungsergebnisse und mögliche unternehmerische Projekte finanziell so zu unterstützen, so zu begleiten, so zu fördern, dass daraus auch internationale Player First Mover werden können.
Wir haben schon vor vielen Jahren unsere sieben Schlüsseltechnologien festgelegt, aber wir haben daraus nie die Schlussfolgerung gezogen, dass das eben auch industriell entsprechend zu begleiten ist, und ich hoffe, ich gehe davon aus, das sind jedenfalls unsere Absichten, dass wir in diese Richtung jetzt auch budgetär tätig werden. Ein solches Beispiel ist etwa die Quantentechnologie im weitesten Sinne, wo gerade österreichische Wissenschaftler in Innsbruck und Wien federführend auch international tätig sind: Quantum Computing, Quantum Communication, all das sind Bereiche, die man nicht aus der Tasche heraus finanziert, dafür müssen Mittel bereitgestellt werden, Künstliche Intelligenz, alles hängt zusammen. Also, wenn wir Europäer hier eine Rolle spielen wollen, dann müssen wir auch bereit sein, Mittel in die Hand zu nehmen, Mittel in die Hand zu nehmen, um letztlich einen europäischen Mehrwert zu schaffen, der zu etwas führt, was vielleicht viel zu wenig wahrgenommen wird in dem Zusammenhang, nämlich zu mehr nationaler und letztlich dadurch europäischer Souveränität.
Unser Ziel ist es, mit dem nächsten europäischen Budget Voraussetzungen zu schaffen, dass Europa eine souveräne Kraft in dieser Welt werden kann, sich stabilisiert, und wenn wir auf europäischer Ebene eine souveräne Kraft haben, dann schlägt sich das unmittelbar in einer entsprechend nationalen Souveränität nieder. Also die Angst, dass sich Europa mit Dingen beschäftigt, mit denen man sich vielleicht auf nationaler Ebene nicht beschäftigt, und dass das dann zu einem Souveränitätsverlust führt, die halte ich nicht nur für unbegründet, sondern für falsch. Man muss die Dinge richtig einordnen, wie es schon gesagt wurde und vermehrt gesagt wird: Es gibt Dinge, die kann man nur auf europäischer Ebene behandeln, weil wir einfach in einem internationalen Wettbewerb stehen. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Wollen wir dabei sein, wollen wir als Akteur überleben, oder wollen wir Reakteur sein, wollen wir, dass die Dinge mit uns geschehen? Und ich denke, wir haben einen sehr natürlichen Überlebenswillen, dass wir Akteur sein wollen, dass wir die Dinge gestalten, weil es auch darum geht, den europäischen Lebensstandard zu sichern, den European Way of Life, und das ist eben nur möglich, indem man auch – und da muss ich wieder zu meinem eigentlichen Thema zurückkommen – in der Budgetgestaltung die entsprechenden Maßnahmen setzt. Man muss nichts übertreiben, aber mit Augenmaß, mit Konsequenz, mit einer guten Form von Rigidität sind Dinge finanzierbar und gestaltbar, die es uns möglich machen, jenes Maß an Souveränität sicherzustellen und für die Zukunft zu gewährleisten, das in unser aller Interesse ist. Vielen herzlichen Dank! (Beifall.)
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Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank, Herr Kommissar. Lassen Sie uns darüber reden und diskutieren. Ich darf bei mir auf dem Podium herzlich meine Mitdiskutanten beziehungsweise Diskutanten willkommen heißen : Ulrike Guérot, herzlichen Dank und einen Applaus (Beifall) für die Politikwissenschafterin und Publizistin, Professorin Departement für Europapolitik und Demokratieforschung der Donau-Universität Krems, Gründerin des European Democracy Lab in Berlin, die sich seit vielen Jahren mit der Zukunft des europäischen Integrationsprozesses ganz intensiv beschäftigt.
Ich darf herzlich willkommen heißen Herrn Stefan Lehne, einen Applaus auch für ihn. (Beifall.) Er ist Spitzendiplomat und Experte auf nationaler und europäischer Ebene, war im Team von Javier Solana und Außenpolitischer Direktor unter Ursula Plassnik. Lehner ist Gastwissenschafter bei Carnegie Europe, seine Forschung konzentriert sich auf die Entwicklung der EU-Außenpolitik nach dem Vertrag von Lissabon, mit besonderem Schwerpunkt auf die Beziehungen zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Und – last but not least – herzlich willkommen: Paul Schmidt. Einen Applaus auch für ihn (Beifall), den Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik.
Ich würde gerne bei Johannes Hahn anknüpfen und ihn gerne zitieren mit einem Satz, den er ziemlich am Beginn seiner Keynote gesagt hat: Die EU hat ihr Versprechen gehalten, ja, übererfüllt – wenn ich es mir richtig gemerkt habe –, und dann sind die Zahlen gekommen: 16 Prozent Steigerung des BIP, Steigerung der Exporte in die EU um das Dreifache.
Wenn wir die Gelegenheit am Beginn nutzen, eben kurz zurückzublicken, wie fällt denn dann ihre Bilanz aus: Würden Sie es auch so beschreiben, was Österreich betrifft, ganz konkret, dass die EU ihre Versprechen gehalten, ja übererfüllt hat, und warum sind dann doch viele Menschen, wenn man sie fragt, enttäuscht von dieser EU? Ich beginne bei Ihnen, Herr Lehne.
Stefan Lehne (Visiting Scholar der Carnegie Europe in Brüssel): Ich stimme mit Herrn Hahn überein, was die österreichische Bilanz anbelangt. Das ist sicher richtig, vollkommen richtig alles, was er sagt. Aber es ist ganz klar, dass Europa eine große Vertrauenskrise hinter sich hat. Hätte diese Veranstaltung vor drei Jahren stattgefunden ... damals hat es übel ausgesehen, Brexit-Referendum und auch die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten waren zwei Tiefschläge. Damals hat man geglaubt, die EU wird von einer populistischen Welle überrollt. Heute schaut das Ganze vergleichsweise idyllisch aus, weil man sagen muss, dass 59 Prozent aller Europäer zufrieden sind mit der Mitgliedschaft ihres Landes in der Europäischen Union.
Die Parlamentswahlen im letzten Frühling haben nicht den Durchmarsch der Rechtspopulisten gebracht, wie man befürchtet hat, sondern einen Sieg der Pro-Europäer und eine deutliche Erhöhung der Beteiligung – also insgesamt gute Nachrichten. Aber, wenn man überlegt, was die Gründe für diese große Vertrauenskrise waren und welche davon mittlerweile schon gelöst sind, wenn man sich die Migration ansieht, die Spannungen zwischen Nord und Süd über den Euro, über das Budget betrachtet: nichts davon ist gelöst worden. Und ich glaube, wir haben jetzt ein zusätzliches großes Problem, worüber man zu wenig nachdenkt: Was wir erleben, ist die Fragmentierung des politischen Spektrums in Europa. Die Mainstream-Parteien, die großen Mainstream-Parteien, die im Grunde genommen das Fundament der Europäischen Union dargestellt haben, werden immer schwächer, die Ränder werden stärker, aber es gibt auch neue Entrepreneure in der Mitte wie Emmanuel Macron. Das führt zu einer Zersplitterung des Spektrums, es wird unglaublich schwierig, Regierungen zu bilden. Wir haben gestern ein neues Beispiel in Irland gehabt, ein paar Tage früher in Thüringen, in Spanien haben sie vier Mal gewählt innerhalb von vier Jahren, und es ist völlig unklar, ob diese Regierung länger überleben wird. Kein Mensch weiß, wie es in Italien weitergeht, Belgien verhandelt seit fast einem Jahr über eine neue Regierung, also, Europa ist nicht unregierbar geworden, aber es ist viel schwerer regierbar geworden, und das schlägt natürlich durch auf die europäische Ebene.
Also, insgesamt muss ich sagen, wir sind viel besser dran, als wir es vor drei Jahren waren, aber es herrscht nach wie vor große Unsicherheit, es herrscht nach wie vor beträchtliche Skepsis, und aus meiner Sicht sind die Voraussetzungen für einen großen Reformwurf, wie ihn jetzt zum Beispiel das Europäische Parlament mit dieser Zukunftskonferenz ansteuert, in Wirklichkeit nicht wirklich vorgegeben.
Moderator Gerald Groß: Auf die würde ich gerne ohnedies noch zu sprechen kommen, ich möchte aber zunächst Sie fragen, ob Sie dieser Einschätzung zustimmen, nämlich: Wir sind besser dran als vor ein paar Jahren noch – oder sehen Sie das anders?
Paul Schmidt (Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik): Ich weiß nicht, ob das die Einschätzung war, aber wenn Sie mich so fragen: Ich bin der Meinung, dass wir besser dran sind als vor ein paar Jahren. Auch wenn dieser britische EU-Austritt eigentlich eine bittere Pille war und ist, ist es doch auch eine Chance. Ich glaube, das ist bei den Vorrednern durchgeklungen.
Irgendwie war Großbritannien in diesen 47 Jahren nicht wirklich voll dabei, und irgendwie ist das ein Reinigungsprozess, wo man auch die Lehren aus diesem britischen EU-Austritt ziehen muss. Das Ganze ist eine Chance, es ist ein Window of Opportunity, wo wir sagen müssen, die Stimmung und die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft ist gestiegen, in Österreich und nicht nur in Österreich, die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai letzten Jahres ist gestiegen, das Interesse ist wesentlich stärker. Wenn wir die 25 Jahre kurz Revue passieren lassen: So eine intensive mediale Auseinandersetzung mit europäischen Themen hat es früher nicht gegeben. Also, die öffentliche Aufmerksamkeit ist einfach da, und das ist eine Möglichkeit, hier mehr über die Vor- und Nachteile und die Schwierigkeiten und Hürden der europäischen Integration zu diskutieren, und das ist letztlich auch eine Möglichkeit, Erwartungen, die es gibt, zu politischen Beschlüssen umzuwandeln. Ich glaube, was man nicht mehr machen darf, ist, dass man die Erwartungen zu hoch ansetzt, sie müssen realistisch sein im Vergleich dazu, was die europäische Ebene für Kompetenzen hat, auch welche finanziellen Möglichkeiten sie hat, aber die Möglichkeiten, hier einen Unterschied zu machen, die sind wesentlich größer als wir glauben, und wir machen uns oft kleiner, als wir eigentlich sind. Ich glaube, Europa braucht auch mehr Selbstbewusst sein, und diese Europäische Union hat gemeinsam viel erreicht und kann noch wesentlich mehr erreichen. Das ist jetzt eine Chance, die wir einfach nützen müssen, und da kann man, glaube ich, die Bevölkerung auch mitnehmen.
Ich gebe aber Stefan Lehne recht, dass es auch eine Frage des Leaderships ist in Europa, das derzeit Probleme hat aufgrund der Fragmentierung des europolitischen Systems oder der unterschiedlichen parteipolitischen Systeme. Aber, wie gesagt, ich glaube, das Ganze ist auch eine große Chance, wo man die Bürger mitnehmen kann und wo man zeigen kann, dass man den Erwartungen auch entspricht.
Moderator Gerald Groß: Vielen Dank fürs Erste.
Frau Guérot, wir haben - -
Ulrike Guérot (Leiterin des Departement für Europapolitik und Demokratieforschung der Donau-Universität Krems): Wenn ich dazu auch etwas sagen darf, wie ich das einschätze? Ich habe mich schon so darauf gefreut, einmal etwas anderes zu sagen, als dass alles gut ist.
Moderator Gerald Groß: Dann schauen wir, ob Ihre Antwort auf meine Frage gepasst hätte.
Ulrike Guérot: Tatsächlich freue mich jetzt, dass ich diese Frage auch noch beantworten darf, nämlich, ob ich auch glaube, dass alles gut ist, und hätten Sie mir diese Frage noch gestellt, bevor Sie mir jetzt eigentlich schon wieder die nächste Frage stellen wollen, würde ich gerne ganz laut sagen: Es ist überhaupt nichts gut. Und jeder, der glaubt, dass noch irgendetwas gut ist in der EU, und wir sagen das hier in einem geschützten Raum eines Gebäudes der EU, mit Herrn Selmayr, der dieses Haus jetzt leitet – er, glaube ich, hat die letzten 25 Jahre nicht Revue passieren lassen.
Meinen ersten Job habe ich angenommen am 1. April 1992, damals in der außenpolitischen Gruppe, als Herr Schäuble noch Fraktionsvorsitzender der CDU war, als die ÖVP eine andere ÖVP war, als die CDU, wie wir jetzt in Thüringen gesehen haben, eine andere CDU war. Und ich habe an meinem ersten Tag an einem Papier mitschreiben dürfen, das heute noch im Internet gibt, das nennt man Schäuble-Lamers-Papier für Kerneuropa. Und wenn Sie dieses Papier zum Maßstab dessen nehmen, was wir vor ungefähr 25 Jahren vorgehabt haben, dann ist auf Ihre Frage „Sind wir heute weiter oder ist irgendetwas Wichtiges, Fundamentales geschehen?“, die Antwort: Es ist überhaupt nichts geschehen. Weder haben wir eine politische Union noch eine Fiskalunion noch eine Sozialunion.
Ich habe Herrn Hahn aufmerksam zugehört, und ich habe in den gesamten Begrüßungsreden, die hier gehalten wurden, im Übrigen außer Exportwundergeschichten das Wort „sozial“ überhaupt nicht gehört. Die Wegleugnung einer immensen sozialen Krise in allen unseren Ländern, die übrigens gerade in Frankreich in der siebten Streikwoche verhandelt wird, ist natürlich ein abenteuerliches Ausblenden von gesellschaftspolitischen Grundierungen, die im Moment den Europadiskurs prägen, und insofern, wenn ich mein eigenes Leben Revue passieren lasse, Herr Schmidt, stimmt es natürlich auch nicht, dass wir noch nie so eine intensive Diskussion hatten.
Ich war selber schon in den Jahren 2001 im Laeken-Prozess, vielleicht erinnern sich einige, wir haben damals schon die Fragen gestellt, die wir für eine europäische Verfassung brauchen und intensiv diskutiert. Wir hatten eine europäische Verfassungskonferenz, ich darf sagen, dass ich damals in den vielen Hearings der Europäischen Union dabei war, wo die Zivilgesellschaft schon Verfassungsentwürfe gemacht hat. Ich war damals nah dran an Nikolaus Meyer-Landrut und Giscard d'Estaing, weil ich danach für Delors gearbeitet habe, insofern war ich mit diesem Verfassungsprozess, ich sage einmal, im engeren Maschinenraum, auch unterwegs. Ich könnte auch einige Geschichten dazu erzählen, warum die Verfassung nachher gescheitert ist, was auch immer. Zu behaupten, dass wir heute näher dran sind an einer Lösung, Europa einer kreativen, souveränen Zukunft zuzuführen als wir das 2003 schon einmal waren, das halte ich tatsächlich in der heutigen Zeit für eine Realitätsverleugnung.
Und das, was mich tatsächlich umtreibt, als jemand, der heute 55 ist, der das alles erlebt hat und der nicht mehr so häufig in Publika unterwegs ist, wo man über 40 ist – ich guck mal kurz hier rein –, sondern eher in Räumen, wo man unter 30 ist, und an dieser Stelle auch gerne sagen möchte, dass wir eine Zukunft vorzubereiten haben für diejenigen, die unter 30 sind, habe ich tatsächlich Schwierigkeiten, Ihre Frage mit Ja zu beantworten.
Und es sei mir jetzt erlaubt, deswegen habe ich das nämlich extra mitgebracht und ausgedruckt, aber das hier (ein Schriftstück in die Höhe haltend) ist das schöne Schaubild der EU-Kommission, wie jetzt diese Zukunftskonferenz abzulaufen hat. Das können Sie sich im Internet ausdrucken – das ist wunderbar – auf Englisch und auf Deutsch.
Das Einzige, was natürlich, sage ich jetzt als Politikwissenschaftlerin, und damit mache ich hoffentlich ein großes Fass auf, dass wir dann diskutieren können: Die Fehlstellung dieser Konferenz, in der es natürlich – so wurde es ja gesagt – darum gehen soll, dass wir European Citizens‘ konsultieren, die Fehlstellung dieser Konferenz liegt allein in zwei Sachen: There ist no such thing than european citizens‘ – denn man Ende des Tages sind sie österreichische Bürger der österreichischen Republik, deswegen habe ich mir schon diese schöne Brosche der République angemacht. Ich bin Staatsbürgerin der Bundesrepublik Deutschland, wir hätten noch irische Bürger und Franzosen und Slowenen, und die werden alle diskutieren, aber als europäische Bürgerinnen und Bürger diskutieren wir in dieser Konferenz nicht.
Und das Zweite, was ich als Politikwissenschaftlerin zu sagen hätte, ist sowieso, dass Bürger im Zweifelsfall nicht konsultiert werden, sondern Bürger entscheiden – zumindest in Republiken, in anderen Systemen entscheiden Bürger nicht unbedingt, aber Republiken sind eine Staatsform, in der am Ende der Bürger entscheidet. Die Zukunftskonferenz Europa löst beides nicht ein. Und wenn Sie sich dieses Schaubild anschauen, dann ist für mich das Flagranteste, dass hier wieder die Schaubilder so aufgemalt sind, dass wir in nationalen Kontexten diskutieren werden: die Deutschen unter sich, die Österreicher unter sich, die Slowenen unter sich, die Finnen unter sich und so weiter. Und die Diskussion, wo wir vielleicht einmal die Griechen und die Deutschen an einen Tisch setzen und einmal versuchen zu verstehen, was ist denn da passiert, in dieser „Faule Griechen“-Krise?, und so weiter, die wird einmal wieder nicht stattfinden. Und meine größte Sorge – jenseits aller Sorgen über Klima, Macron, schafft er es noch mal?, haben wir Neuwahlen in Deutschland?, und was wir auch alles heute verhandeln könnten –, meine größte Sorge ist, dass diese Zukunftskonferenz stattfindet, ein Ergebnis produzieren wird und dieses Ergebnis in den Schubladen der Kommission, wo es schon superviele Papiere gibt, was die Bürger eigentlich von Europa wollen, versandet. Und ich meine das weder zynisch noch fatalistisch, und ich gucke Herrn Selmayr wirklich in die Augen, aber wenn das passieren sollte, dass die Resultate dieser aufwändig betriebenen Zukunftskonferenz nicht implementiert werden, dann dürfen wir wahrscheinlich verhandeln, dass die Wahlen 2024 zum letzten Mal die Europawahlen sind. Schon die letzten Wahlen wurden getragen von der Zivilgesellschaft und nicht vom europäischen System, und hätten Sie nicht die ganzen Jugendlichen draußen gehabt, die für Europa mobilisiert haben, in einer Zeit, als das EU-System nachgerade versagt hat, dann wäre es sowieso nicht zu diesem Wahlergebnis gekommen. Was 2024 passiert, liegt in den Händen dieser Konferenz, aber so, wie es hier aufgemalt wird, ist es nicht gut. (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank dafür. Sie haben es heute sehr spannend gemacht, Frau Professor, Sie sind ganz knapp gekommen, und wir haben ja, ehrlich gesagt, schon ein bissel gefürchtet, dass Sie gar nicht mehr kommen werden. (Ulrike Guérot: Das wäre schade gewesen!) Das wäre wirklich schade gewesen für meine Diskussionsführung, denn in Wirklichkeit hätten wir eigentlich schon wieder die Diskussion beenden können.
Paul Schmidt: Überhaupt nicht. Wir hätten das schon auch gut provokant geschafft, aber ich bin total froh, dass Ulrike Guérot da ist, aber ich glaube, man soll nicht etwas - - Ich teile viele Kritikpunkte - -
Moderator Gerald Groß: Darf ich fragen, welche konkret?
Paul Schmidt: Ich teile zum Beispiel, dass die Struktur, so wie sie jetzt auf dem Papier hier geschrieben ist, nicht ausreicht, aber ich bin da optimistischer und würde auch die Gelegenheit nutzen zu sagen, wenn hier grenzüberschreitend auf Ebene der Bürgerinnen und Bürger auch diskutiert werden soll, mit den unterschiedlichen Parlamentariern diskutiert werden soll, mit den Entscheidungsträgern, mit der Zivilgesellschaft, die hineingenommen werden soll, dann ist doch jetzt genau der richtige Zeitpunkt. Hier sitzt der Präsident des Nationalrats, hier sitzt der Präsident des Bundesrats, machen Sie konkret den Vorschlag, vielleicht kann man das mitnehmen, dass man sagt: Okay, wir clustern quasi Regionen und machen eine Struktur für Diskussionen zu den Prioritäten, die europapolitisch in fünf, sechs Ländern gesehen werden, indem man die Zivilgesellschaft aus der Region ins österreichische Parlament, ins slowakische Parlament und sonst wohin einlädt. Öffnen wir diese Parlamente, wie es auch in der Vergangenheit schon geschehen ist, und nützen wir diese Chance und diese Plattform, und machen wir jetzt Vorschläge, um es besser zu machen und sagen wir nicht schon jetzt, dass das Ganze nicht funktionieren wird.
Ich habe auch gewisse Erwartungen, wenn ich so eine Struktur sehe, aber ich probiere das irgendwie umgekehrt zu interpretieren und zu sagen: Okay, was kann jetzt unser Input sein, damit genau das nicht passiert? Wie schaffen wir es vor allem, den Gestaltungswillen der nationalen Akteure, der regionalen und lokalen Akteure, den politischen Willen, Europa besser zu machen, hineinzubekommen? Denn diese Struktur, wie wir sie jetzt sehen, ist ja sehr stark determiniert von der Kommission und vom Europäischen Parlament. Ob der Europäische Rat und ob der Rat das wirklich genauso sieht, sei dahingestellt. Aber genau diesen Diskurs muss man führen, und da muss man den Druck erhöhen und sagen: Bringen wir all diese Leute mit innovativen, kreativen Ideen zusammen und sagen wir nicht im Vorhinein, da gibt es etwas, schwarz auf weiß auf Papier, da kann nichts Positives rauskommen. Machen wir es, dass etwas Positives dabei rauskommt.
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlich Dank, Frau Guérot, das habe ich mir extra herausgesucht, jetzt müsste ich es eigentlich gar nicht mehr zitieren, weil es eh schon klar ist, ich wollte es nämlich als Frage formulieren. – Sie haben übermorgen, wenn ich es richtig sehe, einen Vortrag in Bad Homburg, haben Sie das eh in Ihrem Plan? (Heiterkeit – Ulrike Guérot: Ich weiß doch, wohin ich gehe!) – der hat den schönen Titel: Die europäische Zukunftskonferenz 2020 – Beschäftigungstherapie oder europäischer Gestaltungswille? – ein sehr pointinierter, zugespitzter Titel, und ich wollte Ihnen das als Frage geben. Ich glaube, inzwischen ist klar, was herauskommen wird.
Aber geben wir Herrn Lehne die Chance, ihn noch zu fragen: Wo sehen denn Sie den Gestaltungswillen in Europa? Sehen Sie einen Gestaltungswillen in dieser EU oder ist es vielleicht nicht doch nur Beschäftigungstherapie? Es gibt ja auch das Gerücht, dass das überhaupt nur ein Zugeständnis Von der Leyens an die Franzosen war, um im Parlament gewählt zu werden.
Stefan Lehne: Ich glaube, die Zukunftskonferenz ist in der Tat eine Nebenfront, das ist nicht das zentrale Thema. Das, was Herrn Hahn macht, das Programm für die nächsten sieben Jahre, die Prioritätensetzung, die sich sozusagen im Budget ausdrückt, ist unvergleichlich wichtiger. Und auch die Themensetzung von von der Leyen hinsichtlich der Prioritäten für die nächsten Jahre hat einen ganz anderen Stellenwert. Ich glaube, man muss sich überlegen: Was sind die Themen, die die Stellung der Europäischen Union im Jahr 2050 wirklich prägen werden? Und das ist zum Ersten der Klimawandel, ganz ohne Zweifel, und dazu muss man sagen, dass Europa zuständig ist für 11 Prozent der Emissionen weltweit. Also, es wird weitgehend darum gehen, wie Europa mit der Handelspolitik, mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, die anderen Regionen dazu bringt, dieses Thema ebenso in Angriff zu nehmen.
Ein anderes zentrales Thema ist die Migration. – Der Druck wird bleiben, er wird sich manchmal erhöhen, wird manchmal geringer werden: Wir sind nicht weiter gekommen in der europäischen Asylpolitik, wir sind nach wie vor weit entfernt von einer besser koordinierten Migrationspolitik, und das ist ein toxisches Element in jeder Gesellschaft in Europa, das sicher blockiert und die Leute auseinandertreibt. Ein drittes ganz wesentliches Thema, Herr Hahn hat es angesprochen, ist das digitale. Wenn man sich die 20 wichtigsten Firmen in Artifical Intelligence and Robotics anschaut, das sind entweder chinesische Firmen oder amerikanische Firmen. Da geht es aber nicht um technologische Fortschritte die Wirtschaften etwas weiter bringen, sondern da geht es letztlich auch um Werte, um die Organisation von Gesellschaften. Und wenn Europa da völlig abgekoppelt wird von der Entwicklung, wenn wir da nicht nachziehen können, dann wird der europäische Way of Life nicht mehr erkennbar sein in 30, 40 Jahren, wir sind dann abhängig von dem, was die Amerikaner und die Chinesen uns anbieten können.
Ein letzter Punkt, wovor sich die Leute, mit denen ich in Brüssel rede, schrecklich fürchten, ist die G2-Welt, eine Welt die im Grunde genommen von Amerika und China weitgehend dominiert wird. Wenn Europa nicht zu einem Spieler wird, wird es zu einem Spielfeld, dann sind wir sozusagen diesen beiden großen Kräften ausgeliefert. Wir haben das erlebt im Fall des iranischen Nuklearprogramms, es gab keine Möglichkeit für uns, die Sekundärsanktionen aufzufangen. Jede europäische Firma kann nicht auf den amerikanischen Markt verzichten und ist deshalb aus dem Iran weggegangen, wir merken das bei den Sanktionen gegen Nord Stream, die Weaponization of the Dollar, die Nutzung der Dominanz im Finanzsektor durch die USA ist ein unglaublicher Schwächebereich für Europa, da gibt es keine Antwort in den nächsten fünf Jahren, aber in den nächsten zehn Jahren muss es eine Antwort geben.
Dieselbe Stellung Europa China gegenüber. – Wir sind jetzt etwas weniger naiv, was die chinesischen Investition anbelangt, wir haben bis jetzt keine wirklich brauchbare Antwort gefunden für die Seidenstraßen-Initiative. Da sind die zentralen Themen, und wenn man die überlegt, dann muss man sagen, das Problem sind nicht die großen Politiken, sind nicht die Instrumente, weil in diesen Bereichen hat die EU schon die Instrumente, das Problem liegt mehr in der Methodik. Die Art wie wir Politik machen in Europa, ist im Grunde genommen die Monnet Methode, dass wir depolitisieren, dass wir uns viel Zeit nehmen, dass wir technokratische Verhandlungen haben, bis dann irgendwann ein Ergebnis da ist. Wir haben auch die schlechte Eigenschaft, dass wir alle Politiken quasi segmentiert parallel laufen lassen, getrieben von nationalen Interessen und getrieben von Lobbys. Aber in einer Welt der Machtblöcke muss man völlig anders an die Themen herangehen, man muss die Instrumente zusammenfassen, man muss sie bündeln, man muss politisch entscheiden, man muss normalerweise unter einem Zeitdruck entscheiden. Und das ist das Problem: Das Geschäftsmodell der Europäischen Union, die Art, wie wir mit Themen umgehen, ist in einer anderen Welt entstanden, in einer viel, viel freundlicheren Welt. Wir leben jetzt in einer Welt von rivalisierenden Machtblöcken, und wir müssen diese Methodik der neuen Welt anbieten. Und das ist nicht etwas, was die Konferenz entscheiden kann, sondern da gibt es viele Hebel, es braucht viel guten Willen, es ist viel, viel Arbeit, aber die Konferenz ist wirklich eher ein Nebenthema. (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen Dank.
Ganz kurz noch, Frau Guérot.
Ulrike Guérot: Ich war ja bei der AVCO-Anhörung am 4. Dezember eine der beiden Expertinnen, sofern können Sie im Internet nachlesen, wie ich mich zu der Konferenz verhalte; ich habe da einen Text eingestellt in Englisch, Deutsch und Französisch, und ich wiederhole noch einmal: Gerade wenn Sie zustimmen, was Herr Lehne gesagt hat, dass wir ein Problem haben, ist übrigens auch - - Ich habe Ihnen auch die neue Bertelsmann-Studie mitgebracht, die sagt, das größte Problem der Europäer ist, dass wir uns zwischen China und den USA noch irgendwo wiederfinden. Aber wenn das unser größtes Problem ist, und wenn wir eine Geoökonomie und eine Geostrategie wollen und wenn wir unter Sachen wie Geoökonomie und Geostrategie solche Dinge verstehen, wie ein europäisches GAFA, für das ja Macron wirbt, ja, Google, Amazon und so weiter, eine europäische Armee und so weiter, dann kann ich nur sagen, dann habe ich trotzdem recht, nämlich dann ist die letztliche Frage , die wir uns in dieser Konferenz stellen: Gründen wir jetzt einen europäischen Staat oder gründen wir einen europäischen Staat? Und entscheiden wir, wer in Europa entscheidet.
Das größte Problem in Europa, in der Eurokrise wie überhaupt, war, dass wir bis heute nicht wissen, wer in Europa entscheidet? – Die Nationalstaaten, die EU, irgendein Kommissar und so weiter. Von dem Budget wurde viel geredet, ich sage nur en passant, dass die Budgetpläne ja wirklich nicht ambitioniert sind, sondern im Moment auf Budgetreduktion, übrigens auch von den Österreichern und den Deutschen befürwortet. Aber lassen wir diese ganzen Kleinigkeiten. Diese Zukunftskonferenz wird insofern über die Zukunft Europas entscheiden, warum? – Weil hier gerade gesagt wurde, dass wir jetzt die Bürger mitnehmen. Und wenn wir die Bürger mitnehmen, die Bürgerinnen und Bürger, dann nehmen wir sie mit als Bürgerinnen und Bürger und nicht in irgendeiner Konsultationsfunktion, sondern weil wir ihnen, wenn wir die Frage beantworten wollen „Wer ist der Souverän?“, nur den europäischen Bürgerinnen und Bürgern diese Funktion des Souveräns zubilligen können, weil kein anderer Souverän ist. Souverän ist immer - - wie sagte Kurt Tucholsky? – Souveränität geht vom Volke aus und kommt so schnell nicht wieder! Was ich damit sagen will: Der EU-Rat ist nicht Souverän, Frau Von der Leyen ist nicht Souverän oder im besten Fall nachgeordnet, und selbst das Europäische Parlament ist es nicht.
Das heißt, wenn wir die Fragen von Herrn Lehne beantworten wollen, diese US-China-Geschichte, dann müssen wir die Frage nach der Souveränität und damit nach der Verfassung klären, und dafür reicht wahrscheinlich diese Schaufensterkonferenz – danach wurde ich ja gefragt – nicht, und wenn ich so rede, dann verstehen Sie das bitte weder als Zynismus noch als Fatalismus, sondern dann verstehen Sie das als eine der größten Tragödien, von denen ich eine wahnsinnige Angst habe, dass die EU auf sie zurast. Ich habe nicht umsonst seit 1992 mein Leben im Grunde den europäischen Fragen gewidmet, um in den nächsten zwei Jahren zu sehen, dass die EU sich zersetzt und am Ende mit Erwartungshaltungen gegenüber den BürgerInnen dasteht, die sie wieder einmal nicht einlösen kann. Das ist für mich die allergrößte Sorge. Denn, wenn wir das nicht klar haben, werden wir überhaupt nichts entscheiden.
Moderator Gerald Groß: Was würde es denn bedeuten, Frau Professor, wenn es tatsächlich, was wir ja nicht hoffen wollen, so passiert, wie Sie das prophezeit haben, dass nämlich dieses Papier, das dann entstehen wird, am Ende dieser Konferenz in den Schubladen verschwindet? Was würde das in der Wahrnehmung der Menschen bedeuten? Was würde das bewirken?
Ulrike Guérot: Also, erst einmal habe ich auch ein kleines Hoffnungsding , das habe ich Ihnen auch noch mitgebracht, das ist nämlich das Europe Court of Justice-Urteil, genau vom 7. Februar, also von vor drei Tagen. Und in einem Urteil C-789/19 entscheidet hier der Europäische Court of Justice – und da liegt für mich der Hoffnungsschimmer –, dass die EU-Staatsbürgerschaft oder die european union citiziens` rights nicht abhängig sind von der de facto Teilnahme des EU-Staates an der EU. Soll heißen: Großbritannien als Staat kann raus, aber die britischen Bürger bleiben european citizens. Das ist die Frage, die der Europäische Court of Justice hier in diesem Urteil brandaktuell versucht zu entkoppeln. Und wenn das Urteil belastbar ist, dann ist dieses Urteil für mich die entscheidende Piste für das Neudenken Europas, nämlich dass wir im Rahmen dieser Zukunftskonferenz eine entscheidende Frage zu lösen haben: Sind wir eigentlich europäische Bürger und Bürgerinnen gleichen Rechts? Wenn ja: machen wir eine Demokratie?, und wenn ja: wie konstitutionalisieren wir diese Demokratie, und dann, aber auch erst dann, reden wir über Fragen, wie wir uns zwischen USA und China stellen, welches Budget wir haben, wer darüber abstimmt, welche Armee wir gründen, mit welcher Geopolitik und mit welchem Geld wir auch noch so ein europäisches GAFA machen, denn ich habe auch keine Lust auf chinesische 5G-Netze.
Moderator Gerald Groß: Die Frage ist nur, ob die Chinesen und die Amerikaner so lange warten werden.
Paul Schmidt: Ich glaube das auch nicht. Es gibt Themen, die sind jetzt auf der Tagesordnung, die müssen jetzt gelöst werden. Um sie zu lösen, brauchen wir ein Bewusstsein dafür in den Hauptstädten, nämlich, dass man diese nur gemeinsam lösen kann, wir brauchen Gestaltungswillen in den Hauptstädten, wir brauchen eine Europapolitikfähigkeit in den Hauptstädten – gegen die Hauptstädte geht es derzeit nicht, so schnell gelingt die Revolution nicht. Das sind Themen, die jetzt anstehen, und das andere wird nicht von heute auf morgen gehen.
Ulrike Guérot: Warum sollen meine Themen nicht jetzt anstehen? Und Sie tun vor allen Dingen so, dass Sie Ihre Themen lösen können, ohne dass Sie mein Problem lösen. Ich sage Ihnen, es ist genau umgekehrt. Wir können natürlich verhandeln, dass wir in Europa demnächst nicht mehr demokratisch sind, zeichnet sich ja eh am Horizont ab.
Paul Schmidt: Das sehe ich nicht ganz so.
Ulrike Guérot: Aber solange wir verhandeln, dass wir - - Ich sehe das nicht unbedingt, das ist ja nicht allgemein bekannt, aber Macron hat 29 Prozent Zustimmungswert, Marine Le Pen übrigens auch, wir können nicht davon ausgehen, dass Macron bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im Mai 2022 gewinnt, das ist noch vor dem Ende der EU-Zukunftskonferenz, preisen Sie einmal ein bisschen ein, was in den EU-Nationalstaaten heute so los ist, da wissen wir doch gar nicht, unter welchen Bedingungen wir das Ende dieser Konferenz verhandeln, und solange das nicht gelöst ist, wie wir das auf europäischer Ebene rekonstitutionalisieren, werden diese Sachen, von denen Sie ja sachgerecht sagen, dass sie richtig sind und gegen die ich ja nichts habe – weder habe ich etwas gegen ein europäisches GAFA noch gegen eine europäische Armee und so weiter und so fort, ich sage nur: Sie werden das nicht bekommen, oder Sie werden es nicht demokratisch legitimiert bekommen, wenn Sie nicht zuvor die Frage eines institutionellen Neuaufbaus der Europäischen Union endlich einmal lösen, und zwar zugunsten der Bürgerinnen und Bürger Europas.
Paul Schmidt: Ich glaube, es ist umgekehrt. Ich glaube, dieser Konstitutionalisierungsprozess wird länger dauern als wir Zeit haben, um genau auf diese Probleme Antworten zu finden.
Ulrike Guérot: Wo wollen Sie denn die Antworten finden? – Sagen Sie mir das!
Moderator Gerald Groß: Lassen Sie uns an diesem Punkt vielleicht ganz kurz über das Thema reden, bei dem wir ohnedies schon sind, versuchen wir es einfach ganz nüchtern und sachlich anzugehen: Was bedeutet der Brexit für die Neuformierung der verbliebenen 27? Wenn man sich anschaut – Sie haben das vorhin angesprochen – Macron, der sicher hier seine Chance irgendwo gesehen hat oder sieht, ist bis zu einem gewissen Grad innenpolitisch schwer angeschlagen, wenn wir uns aber auch die Situation in Deutschland anschauen, wo wir heute erlebt haben, dass Frau Kramp-Karrenbauer angekündigt hat, auf die Kandidatur zu verzichten und auch den Vorsitz der CDU nicht mehr haben, will – also, die beiden großen verbliebenen Player sind in einer schwierigen Situation –: Haben wir eine Art Macht-Vakuum in Europa im Moment?
Ulrike Guérot: Aber das ist doch das, was ich sage, und deswegen verstehe ich jetzt den Konflikt auf dem Panel nicht. Meine Rede ist, und tun Sie Belgien noch drauf: ohne Regierung, tun Sie Spanien rauf: ohne Regierung, gucken Sie nach Tschechien, gucken Sie nach Polen, Ungarn, da wollen wir gar nicht hingucken - -
Moderator Gerald Groß: Was sind nicht so gewichtige Länder, nicht?
Ulrike Guérot: Irland wissen wir jetzt auch nicht - - Ja, aber Brexit ist draußen, Macron könnte scheitern, und das, was in Deutschland passiert, weiß ja im Moment auch noch keiner.
Insofern, wenn Sie sagen, die EU war ein Tisch, der im Wesentlichen drei stabile Beine hatte, kann man nur sagen, von diesen stabilen Beinen ist schon einmal eines weg. Und auf diesem deutsch-französischen Tandem würde ich im Moment auch keine stabile EU mehr bauen wollen. Vor diesem Hintergrund glaube ich eben nicht, dass diese Sachthemen jetzt durchgewunken werden – mit welchen Mehrheiten, mit welchem Geld, womit? Ich glaube, Sie sind mir die Antwort schuldig, wie Sie Ihre Sachpolitiken eben mal schnell in den nächsten Jahren - -
Moderator Gerald Groß: Dann geben wir den beiden Herren die Chance. –Bitte.
Stefan Lehne: Ich kann mit der bundesstaatlichen Zukunft der Europäischen Union durchaus etwas anfangen. Für mich gibt es ein echtes Spannungsverhältnis zwischen dem Markt und der Demokratie. Wenn man den Markt ernst nimmt, dann werden manche Regionen sehr reich, andere werden immer ärmer. Manche, und das merkt man in Bulgarien, in Rumänien, werden bevölkerungsarm, welche alle Leute in die reichen zehn - - Also, da ist ein massives Ungleichgewicht, und das ist auf die Dauer schwer zu vereinbaren mit Demokratie, die wirklich nur auf nationaler Ebene lebbar ist. Da gibt es ein Spannungsverhältnis, das wirklich schmerzlich ist und weh tut.
Auf der anderen Seite, was man nicht vergessen kann, die europäischen Staaten sind teilweise Hunderte Jahre lang, teilweise nur hundert Jahre lang im Bewusstsein der Menschen verankert. Wenn man die Leute fragt, wie sich identifizieren: über 90 Prozent identifizieren sich primär mit ihrem Nationalstaat. So knapp um die 50 Prozent haben auch eine Art von europäischer Identifikation.
Ulrike Guérot: Was machen Sie mit den Katalanen, was machen Sie mit denen?
Stefan Lehne: Ja, okay, es gilt nicht für alle gleich. Aber man muss die Leute dort abholen, wo sie sind. Die Leute, die heute bereit sind, einen europäischen - - die Republik auszurufen, die bringen sie vermutlich in der Wiener Stadthalle unter. Das ist einfach eine winzige Minderheit. Und die Vorstellung, dass man wichtige sachliche Prioritäten aufschieben muss, bis man dieses Wunder der europäischen Tatwerdung erreicht hat, ist im Grunde genommen das, was die Legitimation und die Akzeptanz der Europäischen Union innerhalb von Tagen vernichten würde. Sehr viel Legitimation kommt eben auch aus dem Erfolg, aus dem Lösen von Problemen, und darum geht es auch, wenn man dieses Ziel eines europäischen Bundesstaates haben will. Da muss man zuerst einmal zeigen, was dieses Ding auf dem Weg, dort hinzukommen, leistet. Also, die Vorstellung, dass man das umdreht, jetzt machen wir eine europäische Revolution und dann werden sich die Probleme ziemlich von selbst lösen, ich glaube, die ist einfach relativ weltfremd.
Moderator Gerald Groß: Herr Schmidt, gibt es von Ihrer Seite noch etwas dazu zu sagen? Lösen von Problemen. – Die großen Probleme, wenn ich an die Migrationskrise denke, die wurde ja von der EU nicht gelöst, jetzt hat man sich auf das Thema Klimakrise geworfen, Green Deal, wir haben es gehört. Die Frage ist: Wird Europa das lösen können? Das wird schwer machbar sein beziehungsweise auch nachvollziehbar sein, wenn wir es hoffentlich alle mitsammen gelöst haben werden. Woran wird der Erfolg Europas und der Europäischen Union in den nächsten Jahren gemessen werden für die Bürgerinnen und Bürger? Woran werden Sie erkennen, dass diese Europäische Union handlungsfähig ist, umsetzungsstark ist?
Paul Schmidt: An der Problemlösungskapazität.
Moderator Gerald Groß: Eben. Aber an welchen Problemen würden Sie das festmachen? Welche Probleme müssten da gelöst werden?
Paul Schmidt: Na ja, auf jeden Fall zumindest die zwei, die Sie gerade angesprochen haben. Lösen ist ein dehnbarer Begriff, aber ich glaube, wir müssen Fortschritte in Richtung einer Lösung machen. Ich glaube nicht, dass diese Themen, die Sie angesprochen haben, in ein, zwei Jahren wirklich lösbar sind, aber ich glaube, dass den Ziele, die wir uns gesetzt haben, näher kommen in der Umsetzung der Politik, sind wir einen großen Schritt weiter. Die Frage ist: Schaffen wir das?
Ich kann nur sagen, wir hatten heute hier am Nachmittag schwedische, finnische Vertreter, die von sich aus ihre Klimaziele präsentiert haben, hin zu einer Klimaneutralität, und die waren extrem ambitioniert. Auch die Ziele Österreichs sind sehr ambitioniert, und wenn es hier kein Race to the Bottom gibt, aber einen Wettbewerb der Frontrunner, dann kann hier etwas entstehen, eine Dynamik entstehen, wo man dann eine gesamte Klammer findet und sagt, gemeinsam macht man hier wirklich etwas, auch wenn Europa, wie wir gehört haben, im globalen Vergleich vielleicht klein ist, aber hier kann man auch Standards setzen, und hier kann man auch einen Unterschied machen.
Ich bin überhaupt gegen das, was Ulrike Guérot gesagt hat, ich glaube nur nicht, dass wir hier so schnell zum Ziel kommen. Jetzt ist das andere Argument: Wir kommen bei den anderen Themen auch nicht weiter. Aber dagegen verwehre ich mich. Wir müssen es probieren, wir müssen optimistisch sein, und wir müssen hier miteinander gemeinsam gehen und schauen, dass wir das auf den Boden bringen, denn nur dann erfüllen wir annähernd die Erwartungen, die an diese europäische Politik, aber auch an die nationale Politik gesetzt sind – die sind ja nicht voneinander zu trennen. Die Frage für mich ist: Versteht das Gros der nationalen Politik, dass man hier gemeinsam gehen muss, über seinen Grenzschatten springen muss, um in gemeinsamer Zusammenarbeit hier Fortschritte zu erreichen? Und ich glaube, da ist noch viel Arbeit.
Ulrike Guérot: Es gibt keine intakten Nationalstaaten mehr, das möchte ich gerne einmal sagen. Großbritannien ist kurz davor auseinanderzufliegen, das wollen wir sehen, was im Dezember, wenn dann dieser Brexit wieder einmal nicht funktioniert, was passiert. Ich kann Ihnen sagen, es wird demnächst – ich habe ihn nämlich gerade unterschrieben – einen Aufruf von Schotten geben, die jetzt die EU fragen werden ... die möchten die Unterstützung der EU, das nächste Unabhängigkeitsreferendum abhalten zu dürfen, noch bevor der Brexit sich vollzieht, und sie möchten eine Garantie, dass die EU sie dann aufnimmt. Und diesen Aufruf habe ich gestern unterschrieben, also insofern: Great Britain was yesterday! There is no such thing than Great Britain.
Moderator Gerald Groß: Aber Brexit hat sich schon vollzogen.
Ulrike Guérot: Das ist aber wichtig! Weil in dem Moment, wo die Schotten austreten, sind die Katalanen die nächsten, das kann ich Ihnen sagen. Die Zerreißprobe von Deutschland ... da müssen wir noch einmal genau hinschauen. Wenn Sie den Brief gelesen haben ... der Bürgermeister von Bratislava, Budapest und so weiter, werden Sie klar haben, dass es in Ungarn, Polen, Tschechien, Slowakei Kräfte gibt, die überhaupt nicht einverstanden sind, dass irgendeine Entscheidungsfindung über den europäischen Rat läuft, aber über den Europäischen Rat müsste die Entscheidungsfindung laufen, die Sie immer einfordern mit dieser policy-orientierten Politik. Ich sage nur, meine Informationen sagen mir, dass das europäische Budget de facto noch nicht einmal auf die 1,09 Prozent verhandelt wird, das die Finnen haben wollten. Meine Informationen sagen mir seit gestern, dass die Deutschen ihre Analyse der CO2-Emissionen nicht rechtzeitig der Kommission überliefert haben, was heißt, dass es eine riesengroße Zeitverzögerung gibt, dass die EU jetzt ihre Daten nicht zusammenstellen kann und dass der Glasgow-Gipfel deswegen in Frage ist. Das heißt, die pragmatische Lösungsorientiertheit, von der wir morgen wunderbare, optimale europäische Politiklösungen erwarten können, die sehe ich genauso wenig, wie Sie in mir sehen, dass ich zum Zuge komme.
Aber das, was ich gerne sagen möchte, ist – ich möchte auch keine Revolution, damit das einmal klar ist, aber was ich gerne sagen würde, ist: Geschichte funktioniert nicht, weil kluge Leute sie planen, Geschichte funktioniert meistens, weil irgendetwas passiert, worauf keiner vorbereitet ist, zum Beispiel, dass Herr – wie hieß er ? – Kemmerich einfach einmal Ja sagt: Ich nehme die Wahl an. Da hat ja keiner damit gerechnet, es hat auch keiner damit gerechnet, dass die AfD ihren eigenen Kandidaten fallen lässt, wie auch immer. So, jetzt haben wir den Salat, und dich sage Ihnen, dass morbide Systeme, und die EU ist ein strukturell morbides, schwaches System, immer bedroht werden, nicht von den hehren Planungen, wie man das jetzt alles machen kann, sondern von Momenten, in denen etwas passiert, woran keiner denkt.
Der 9. November der Wiedervereinigung war so ein Moment. Und in diesem Moment sind einfach Sachen passiert oder durch die Tür gekommen, von denen gestern noch keiner gedacht hat, dass sie passieren.
Moderator Gerald Groß: Das ist nicht wichtig.
Ulrike Guérot: Das ist mir ganz wichtig, denn der Euro, von dem wir heute so toll - -: Der Euro, der Euro, der Binnenmarkt! Der Euro ist nicht durch die Tür gekommen, weil Herr Werner den Werner-Plan gemacht hat und weil Kohl das mit Mitterand verhandelt hat, sondern er ist durch die Tür gekommen, weil die Wiedervereinigung passiert ist und auf einmal etwas geschehen konnte, wovon am Vortag noch alle gesagt haben, es wird nie passieren. Und deswegen stehe ich hier und sage noch einmal: Die Zukunft der Europäischen Union hängt an ihrer Legitimität, hängt an einem politischen System, hängt an einer Verfassung, von der wir heute vielleicht zu Recht sagen, das sehen wir alles noch nicht. Aber wir sprechen uns wieder am Tag X plus eins, wenn irgendetwas passiert ist, von dem heute noch keiner weiß, dass es passieren wird, und an dem Tag hoffe ich nur, dass wir etwas durch die Tür bringen, von dem wir heute noch glauben, es ist unmöglich, und dieses etwas müsste heißen: eine europäische Verfassung. Und sollen wir uns verfassen, dann verfassen wir uns seit 200 Jahren auf diesem Kontinent als Republiken (Gerald Groß: Frau Professor - -) das würde ich gerne dazusagen. (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen Dank! Kurze Atempause.
Paul Schmidt: Darf ich nur eine kleine Fußnote dazu anbringen?
Moderator Gerald Groß: Eine kleine Fußnote – bitte.
Paul Schmidt: Ganz klein, weil sonst kann ich heute nicht nach Hause gehen, ich habe zu Hause eine spanische Familie, und die würde das nicht akzeptieren, wenn man von „den Katalanen“ spricht, es gibt in Katalonien keine Mehrheit für eine Unabhängigkeit und auch die katalanischen - - oder es gibt unterschiedliche Vorstellungen, wie die Rolle Kataloniens in Europa dann ausschauen würde. Da müssen wir präzise sein, oder ich muss präzise sein, weil sonst muss ich heute ins Hotel.
Moderator Gerald Groß: Ich möchte gerne wieder zurückkommen nach Wien, nach Österreich. Wir haben die Rolle Österreichs angesprochen, auch Hahn hat sie angesprochen und hat von einer Vermittlerrolle gesprochen. Das hören wir ja sehr oft, ich möchte das gerne hinterfragen. Wie sehen denn Sie, Herr Lehne, die Rolle Österreichs in Zukunft? Frau Guérot hat die Visegrádstaaten. Wir erleben ja diese Spaltung Europas beziehungsweise der EU zunehmend zwischen Westen und Osten, wenn ich es jetzt einmal ganz, ganz vereinfacht sagen darf. Wo sehen Sie denn da Österreich erstens einmal selber, wo stehen wir? Und wo sehen Sie die Rolle konkret in einer möglichen Vermittlung?
Stefan Lehne: Wir sind ein interessantes Mitgliedsland der Europäischen Union. Wir sind einerseits sehr erfolgreich, ich bin ganz bei Herrn Hahn, auf der anderen Seite sind wir interessanterweise das Land, das nach Großbritannien am meisten überstimmt wird in der Europäischen Union, und wir sind nach dem ECFR – Koalitionsstudie –, wird sind eines der isoliertesten Länder in der Europäischen Union. Also, das sind ganz interessante Kombinationen von Fakten.
Moderator Gerald Groß: Isoliert in welchem Sinn?
Stefan Lehne: Dass wir relativ wenig Koalitionspartner haben. Das liegt einerseits daran, dass sich die nordischen an die nordischen Staaten - -, die Visegrádstaaten haben einander, Benelux existiert noch immer - -
Moderator Gerald Groß: Also, wir sitzen zwischen den Stühlen irgendwie
Stefan Lehne: Und wir sitzen irgendwie so dazwischen, meistens im Mainstream, es gibt ein paar Ausnahmen, bei der Atompolitik zum Beispiel, aber im Großen und Ganzen sind wir ein Mainstreamland, aber nicht eines der bestvernetzten und auch nicht eines der effektivsten, glaube ich, im Durchbringen der eigenen Interessen. Aber das hat viele Gründe. Das liegt teilweise
Ulrike Guérot: Das ist aber nicht das Ziel Europas, das Durchbringen österreichischer Interessen.
Stefan Lehne: Insofern können Sie ja ganz glücklich darüber sein. Interessant ist aber - -
Paul Schmidt: Da sieht man, wie europäisch wir sind.
Moderator Gerald Groß: Eben, das macht uns umso europäischer. Interessant ist natürlich die Positionierung der neuen Bundesregierung. Einerseits war sehr viel Positives zu Europa zu lesen: Für ein starkes Europa, ein klares Eintreten, aber dann war sehr viel Ambivalenz auch spürbar. Wir wollen einen Vertrag, aber der Vertrag soll möglichst über das Subsidiaritätsprinzip sein, und wir wollen, dass das Gold Plating von Regulierungen aufhört. Also, es ist auch sehr viel – wenn man genauer liest – Skepsis drinnen, und einige Formulierungen, die ich schon im letzten Regierungsprogramm einer ganz anderen Koalition gelesen habe. Und das wird sehr interessant sein in den Jahren, wie die echte Politik ausschaut. Also, wird sich Österreich positionieren tatsächlich als ein Land, das Reformen anstrebt, das mitmachen will, oder wird es ein Land sein, das gewisse Vorbehalte hat und ein bisschen am Rand steht?
Interessant ist natürlich, unmittelbar gefordert ist die Positionierung zur Budgetpolitik, und hier ist es wirklich faszinierend zu sehen, dass bei diesem wichtigsten Thema des Jahres 2020 in der Europäischen Union im Regierungsprogramm überhaupt nichts zu lesen ist, weil in diesem Punkt die beiden Partner völlig unterschiedliche Positionen haben und es deshalb klug erschienen ist, dazu gar nichts zu sagen.
Moderator Gerald Groß: Einen Punkt hätte ich noch ganz zum Schluss, wir haben aber nur mehr wenige Minuten, ich bitte Sie daher wirklich um Kürze und Präzision, aber wir können so einen Abend nicht beenden, ohne über das Thema Erweiterung gesprochen zu haben; die stagniert ja jetzt, wenn man das so sagen kann: Albanien, Nordmazedonien – Österreich unterstützt das, es gibt aber Länder, wie wir wissen, die dagegen sind, die hier bremsen: Frankreich, Niederlande, Dänemark zum Beispiel. Wie soll es hier weitergehen?
Paul Schmidt: Gar nicht!
Moderator Gerald Groß: Gar nicht geht es weiter. Aber man kann ja diese Länder nicht ewig vor den Kopf stoßen.
Stefan Lehne: Ich glaube, die Glaubwürdigkeit des Erweiterungsprozesses ist nahe dem Nullpunkt, das hat sich in eine Art double bluff verwandelt: Die Europäische Union tut so, als würde sie neue Staaten aufnehmen, und die Staaten tun so, als würden sie notwendigen Reformen machen.
Trotzdem glaube ich, was klar ist, diese Länder, das sind weniger als 20 Millionen Menschen und es werden dieser Tage immer weniger, weil immer mehr individuell Erweiterung vollziehen, indem sie in die EU übersiedeln, diese Länder haben keine strategische Alternative, sie sind eine Enklave in der Europäischen Union. Langfristig gesehen gibt es keine Alternative zu einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Moderator Gerald Groß: Was ist langfristig?
Stefan Lehne: Und was diese beiden Länder anbelangt, Nordmazedonien und Albanien, das ist eine schlichte Frage des Einhaltens von Versprechungen. Beide Länder haben das gemacht, was man ihnen vorgegeben hat als Hausaufgaben: Justizreform, Namensänderung et cetera, und die Europäische Union war nicht in der Lage, ihren Teil des Versprechens zu halten, und das kann sich einfach eine Organisation wie die Europäische sehr schwer leisten.
Paul Schmidt: Vielleicht ein kurzer Zusatz dazu: Ich glaube, der Erweiterungsprozess war tatsächlich ziemlich eingefroren, aber ich glaube, das die Stagnation mit dem neuen Methodologievorschlag der Kommission eigentlich aufgehoben ist, weil wenn man sich die Rückmeldung aus den einzelnen Hauptstädten der Länder, die eigentlich hier blockiert haben, ansieht, dann finden Sie sich da wieder, und das heißt eigentlich, bei allem Porzellan, das zerschlagen wurde, keine Frage, dass der Prozess jetzt Richtung Europäischer Rat im Mai in Zagreb sich zumindest positiv entwickelt, sagen wir es so, sich von einer großen Schwierigkeit wieder ein bissel erholt, und es führt letztlich kein Weg daran vorbei. Diese individuelle Erweiterung, die findet statt, das sehe ich auch so, aber wir werden im Sommer die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien sehen, und dann sind wir zumindest hier einen Schritt weiter. Das heißt noch lange nicht, auch wenn die EU-Erweiterung dann wieder irgendwo auf Schiene ist, dass wir uns erweitern, beziehungsweise, dass die Europäische Union auch annähernd in der Lage wäre, so eine Erweiterung auch zu absorbieren, das ist wieder etwas ganz anderes. Ich würde nur meinen, dass die - - ich würde die Entwicklung realistisch, aber nicht ganz so negativ beurteilen.
Moderator Gerald Groß: Vielen Dank.
Frau Guérot, Sie haben quasi das Schlusswort hier auf dem Podium, bitte gehen Sie verantwortungsvoll damit um.
Ulrike Guérot: War ich unverantwortlich?, wäre schon einmal die - - Ja, das müssen wir gleich diskutieren. Ich finde nicht, dass es unverantwortlich ist, einfach einmal die Dinge anders zu benennen, und insofern ist mein Schlusswort, dass die Europäische Union ihre beste Chance hätte, wenn wir nicht mehr von Staaten reden sondern von Bürgern. Es soll jetzt um europäische Bürgerinnen und Bürger gehen und nicht mehr um Staaten. Und es gibt nicht mehr die Franzosen, im Moment gibt es Macronisten und Gelbwesten und Streikende und Le-Penisten und keine Ahnung.
Ich wüsste auch nicht zu sagen, wer die Deutschen, ich würde auch nicht behaupten, dass die Deutschen eine Position zu Europa haben, genauso wie die Österreicher, im Grunde ist das die Piste für die Zukunft Europas, dass wir die Vision, die wir von Europa haben, oder genauer, die die Bürgerinnen und Bürger von Europa haben, von der Frage der Herkunft lösen. Und in dem Moment, wo das gelänge, und wo es gelänge, dass wir uns tatsächlich als 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger neu aufstellen, eine Zukunft bewerten, sie konstitutionalisieren, ist die Erweiterungsfrage eigentlich kein Problem mehr, dann reden wir von 14 Millionen auf dem Balkan, die schlucken wir auch noch in den 500 Millionen, die wir sind.
Das ist aber eine ganz andere Frage, als wenn ich diskutieren muss, ob jetzt Kosovo und Mazedonien und Serbien noch einen Kommissar bekommen und ob die dann für Weißwein zuständig sind und so weiter und so fort. In dem Moment, wo ich diese Frage aus dem System nehme, weil ich darüber einmal konstruktiv zulasse, neu zu denken, in dem Moment hätte Europa eine Chance.
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank, Frau Guérot, meine Herren, danke schön. (Beifall.)
*****
Ich darf zum Schluss das Wort übergeben an den Präsidenten des Nationalrates Wolfgang Sobotka.
Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, woran mich die Diskussion erinnert hat: Vor 25 Jahren war sie nicht viel unterschiedlicher, was die sehr konträren Standpunkte anbelangt hat, und eigentlich erinnert es mich an den Beginn der Montanunion. Eigentlich müsste diese Diskussion Italien per se lösen. All das, was an Versprechen da ist, ist schon in einer Geographie nicht wirklich erfolgt – weder wirtschaftlich noch sozial noch in seiner Struktur.
Ich war erst kürzlich in Italien, dort ist üblich, was bei uns vollkommen unmöglich wäre: dass bei 600 Abgeordneten mindestens 200 bis 300 in einer Periode die Parteien wechseln, überhaupt kein Problem haben, sich anders zu orientieren, nach Inhalten, nach Ausrichtungen. Das bringt mich dazu, diese Unfertigkeit, die auch diese Diskussion für mich zeigt, das ist eigentlich der Zustand Europas, und er ist nicht so schlecht, wie ich einmal meinen würde, er ist nicht so schlecht für Österreich. Das ist vielleicht ein typisch Österreichisches Phänomen mit diesen halbfertigen Dingen auch so halbfertig umzugehen, es gibt dieses Ideal nicht so schnell zu haben, Bürgerbeteiligung stößt immer wieder an Grenzen. Wir sehen das schon bei den Volksabstimmungen. Wir haben immer die Schweiz als Vorbild, sind aber nicht in der Lage, so wie die Schweiz zu agieren, haben ein ganz anderes Idiom. Die Vorstellung einer europäischen Verfasstheit bräuchte eine europäische Volksabstimmung mit zumindest einem Quorum von 60 Prozent, die hingehen müssen, um das wirklich dementsprechend als Relevanz zu sehen.
Ich glaube einfach, die nächsten 25 Jahre braucht Europa ein neues Narrativ, weil warum hat es bisher so einigermaßen funktioniert: die Erzählung von der Friedensunion, die Erzählung von wirtschaftlichem Wohlstand, die hat es weitgehend einlösen können, nicht für alle, nicht überall und nicht in diesem Ausmaße. Jetzt, wo diese Erzählungen längst nicht mehr in der Erinnerung sind, bei Ihrer Generation, die Sie angesprochen haben, unter den Dreißigern, ist die Frage: Warum fühlt man sich nicht als Europäer? Gleichzeitig sagen aber 80 Prozent der Europäer, das europäische Kulturgut, was immer das auch aus ihrer Sicht ist, ist das, was sie ein Europa denken lässt, und was sie wichtig finden für sich, für ihre Region, für ihr Land, für Europa.
Ich sehe, dass sich in dieser ganz entscheidenden Frage so ein Dreieck für mich formuliert hat, das ist die Frage der Sicherheit, dass man dem Menschen Sicherheit gibt. Das zeigt hinlänglich Gehirnforschung und die Typologien, dass 60 Prozent der Menschen einfach immer Sorge haben bei Veränderungen. Das heißt, für sie ist der Sicherheitsmoment, und das ist nicht auf innere und äußere Sicherheit beschränkt, sondern es betrifft viele Lebenslagen, ein ganz entscheidendes Momentum, wie sie sich verhalten. Das Zweite ist letzten Endes die Frage der Stärke Europas, das haben Sie sehr klar angeschnitten in der Frage der weltpolitischen Auseinandersetzung, und das Dritte ist die Frage der Identität für mich. Und in der Sicherheitsfrage gibt es zum Beispiel die Frage der Cybersicherheit. Wir sind dort in allen Belangen weit hinter Amerika und letzten Endes auch schon hinter China gelandet. Es hat begonnen in den 90er Jahren, wir haben keine Rating-Agentur, unsere Banken müssen sich ausschließlich nach Amerika orientieren, die EZB spielt nicht wirklich diese Rolle, die sie spielen sollte, wir haben keine Social-Media-Konzern, der nur annähernd weltpolitisch eine Bedeutung hätte, und wir sind dabei, das letzte Rennen auf diesem Feld, Big Data und die Künstliche oder Artificial Intelligence, auch noch zu verlieren. Das verliert aber nicht so sehr Europa, sondern das verlieren vor allem - - dass man den Unternehmen hier nicht die Möglichkeit gibt, sich zu etablieren. Das heißt, für mich braucht es eine radikale Ermöglichung für Unternehmen sich in diesen Feldern wirklich zu bewegen und dort weltpolitisch auch auftreten zu können. Da bedarf es auf der einen Seite Geld, es braucht Rahmenbedingungen und es braucht vor allem die Konzentration, dass wir unseren Forschern, unsere Entrepreneuren, unsere Visionären auch hier eine Möglichkeit geben, sich zu betätigen, auch im Falle des Scheiterns. Auch Scheitern ist in Europa keine Kultur im Vergleich zum angloamerikanischen Raum.
Stärke heißt für mich vor allem auch die Frage, wie man sich in der kulturpolitischen Situation verhält. Haben wir Angst vor einer Migration? Können wir mit Migration umgehen, obwohl wir ein schrumpfender Kontinent sind, und wir wissen das, in der Demographie sind wir ein schrumpfender Kontinent: Wie gehen wir mit diesem Schrumpfungsprozess um, haben wir die Möglichkeit zu integrieren? Ist das gleichzeitig in der Identität abbildbar? Ich denke, hier stehen viele Fragen vor uns. Die Diskussion heute wollen wir im Parlament auf vielen Ebenen fortsetzen. Ich glaube, sie ist insofern ganz befruchtend, weil sie viele Verantwortungsträger, Abgeordnete, Unternehmer, Diplomaten dazu bringt, diese Inhalte auch weiterzudenken und weiter zu überlegen.
Ich glaube, wir haben profitiert von der spannungsgeladenen Diskussion, dass nicht alle einer Meinung sind, viele würden eine europäische Fassung sehr, sehr begrüßen, viele würden dagegen massiv aufstehen. Warum ist dieser Spannungsbogen so groß? Ich orte es ganz einfach dort, wo Europa den Menschen keine Vision vorgibt, wo man sich wirklich gemeinsam nicht einig ist, beginnen die Regionalismen, die Chauvinismen und die Nationalismen, also müssten wir alle gemeinsam eine Interesse daran haben, ein Projekt wieder voranzutreiben. Das heißt, wir müssen die Einstimmigkeit einmal aufgeben, dass wir zu einer Mehrstimmigkeit kommen in der Außenpolitik, in der gemeinsamen Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitik. Das gibt der Vertrag von Lissabon her, auch der ist nicht fertig, auch der gibt nicht alles her, aber das würde wieder einen Schritt nach vorne bedeuten, und ich denke, dass wir als Europäer, und ich glaube, dass sich sehr viele als Europäer fühlen und auch sehr viele europäisch denken, dort auch einen Ansatz für die nächsten Generationen finden.
Auch Macron ist heute bewusst, dass er, auch wenn er noch so stark ist, in dieser großen weltpolitischen Auseinandersetzung keine Rolle spielt, dass er nicht in der Lage ist, seine eigenen sozialen Spannungen in der Republik letzten Endes zu lösen, dass er auch nicht allein in der Lage ist, schlussendlich für Sicherheit zu sorgen. Und aus dieser Situation – dass das auch bei den sogenannten Großen in Europa einkehrt – hege ich eine Chance für Österreich, aus dieser Isolierung auszubrechen, unterschiedliche wechselnde Koalitionen zu finden, gerade in der Erweiterung, glaube ich, ist es uns ein wenig gelungen – steter Stachel löckt etwas – etwas voranzubringen. Wir sollten nicht mutlos sein. Es ist vielleicht viel unaufgeregter, es ist vielleicht viel mühsamer geworden, europäische Politik zu machen, aber sie ist alternativlos. Und dort, wo man an den Rand der Entscheidung gerät, dort ist man sehr schnell wieder dort, dass man sagt: Ja, wir brauchen trotzdem ein Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa. Ich glaube, an dem arbeiten wir, und der Diskussionsprozess ist nicht zu Ende, Gott sei Dank nicht.
Ich möchte noch darauf hinweisen, dieselbe Diskussion finden sie in Amerika zwischen den Bundesstaaten, auch dort ist zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd längst nicht dieses homogene Bild, das wir uns permanent von den Vereinigten Staaten vorstellen, ich glaube, man hat nur eine gemeinsame äußere Form gefunden, und man hat hier ein gemeinsames Auftreten nach außen gefunden. Das ist die Chance, die wir noch brauchen, ob das gelingen möge in den nächsten 25 Jahren – wir hoffen, denn der Friede ist unteilbar. (Beifall.)
Moderator Gerald Groß: Vielen herzlichen Dank auch Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse und für Ihr Durchhaltevermögen.