Montag, 10. Februar 2020
Es gilt das gesprochene Wort.
Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, woran mich die Diskussion erinnert hat: Ich glaube, vor 25 Jahren war sie, was die sehr konträren Standpunkte anbelangt, nicht viel unterschiedlicher. Sie erinnert mich an den Beginn der Montanunion. Eigentlich müsste diese Frage Italien lösen. All das, was an Versprechen vorhanden ist, ist schon in diesem geografischen Rahmen nicht wirklich erfolgt – weder wirtschaftlich, noch sozial, noch in seiner Struktur. Ich war erst kürzlich in Italien. Es wäre bei uns vollkommen unmöglich, was dort eigentlich üblich ist: dass von 600 Abgeordneten mindestens 200 bis 300 innerhalb einer Periode die Partei wechseln, überhaupt kein Problem haben, sich nach Inhalten und Ausrichtungen anders zu orientieren.
Das bringt mich dazu, dass diese Diskussion in dieser Unfertigkeit meiner Meinung auch zeigt, dass das eigentlich der Zustand Europas ist, und dieser ist nicht so schlecht, wie ich einmal meinen würde; er ist nicht so schlecht für Österreich. Es ist vielleicht ein typisch österreichisches Phänomen, mit diesen halbfertigen Dingen auch halbfertig umzugehen. Es gibt dieses Ideal, etwas nicht zu schnell zu machen. Bürgerbeteiligung stößt immer wieder an Grenzen. Wir sehen das schon bei den Volksabstimmungen. Wir haben immer die Schweiz als Vorbild, sind aber nicht in der Lage, so wie die Schweiz zu agieren, haben ein ganz anderes Idiom. Die Vorstellung einer europäischen Verfasstheit bedarf einer europäischen Volksabstimmung mit einem Quorum von mindestens 60 Prozent, die hingehen müssen, um das auch wirklich als relevant zu sehen.
Ich glaube einfach, für die nächsten 25 Jahre braucht Europa ein neues Narrativ. Warum hat es bisher einigermaßen funktioniert? – Die Erzählung von der Friedensunion, die Erzählung von wirtschaftlichem Wohlstand hat Europa weitgehend einlösen können – nicht für alle, nicht überall und nicht in vollem Ausmaße.
Worum geht es jetzt, wenn diese Erzählungen in Ihrer Generation, wie es angesprochen wurde, längst nicht mehr in Erinnerung sind? Unter den Dreißigjährigen besteht die Frage: Warum fühlt man sich nicht als Europäer? Gleichzeitig sagen aber 80 Prozent der Europäer, das europäische Kulturgut – was immer das aus ihrer Sicht auch ist – ist das, was sie an Europa denken lässt und was sie für sich, für ihre Region, für ihr Land, für Europa wichtig finden.
Ich sehe, dass sich in dieser ganz entscheidenden Frage ein Dreieck gebildet hat: Das Erste ist die Frage der Sicherheit. Gehirnforschung und Typologien zeigen hinlänglich, dass 60 Prozent der Menschen bei Veränderungen einfach Sorge haben. Das heißt, für sie ist das Sicherheitsmoment – und das beruht nicht nur auf innerer und äußerer Sicherheit, sondern es betrifft viele Lebenslagen – ganz entscheidend dafür, wie sie sich verhalten. Das Zweite ist letzten Endes die Frage der Stärke Europas. Das wurde im Zusammenhang mit der Frage der weltpolitischen Auseinandersetzung sehr klar angesprochen. Und das Dritte ist meiner Meinung nach die Frage der Identität.
Im Bereich der Sicherheit stellt sich zum Beispiel die Frage der Cybersicherheit. Wir sind da in allen Belangen weit hinter Amerika und letzten Endes auch schon hinter China gelandet. Das hat in den Neunzigerjahren begonnen. Wir haben keine Ratingagentur, unsere Banken müssen sich ausschließlich an Amerika orientieren. Die EZB spielt nicht wirklich die Rolle, die sie spielen sollte. Wir haben keinen Social-Media-Konzern, der weltpolitisch auch nur annähernd eine Bedeutung hätte, und wir sind dabei, das letzte Rennen auf dem Feld Big Data beziehungsweise Artificial Intelligence auch noch zu verlieren.
Dieses Rennen verliert nicht so sehr Europa, sondern man gibt vor allem den Unternehmen nicht die Möglichkeit, sich zu etablieren. Meiner Meinung nach braucht es für Unternehmen eine radikale Ermöglichung, sich in diesen Feldern zu bewegen und auch weltpolitisch aufzutreten. Da bedarf es auf der einen Seite Geld und entsprechender Rahmenbedingungen. Es braucht auf der anderen Seite vor allem Konzentration, damit wir unseren Forschern und Entrepreneuren, unseren Visionären auch eine Möglichkeit geben, sich wirklich zu betätigen – auch im Falle des Scheiterns. In Europa gibt es im Vergleich zum angloamerikanischen Raum keine Kultur des Scheiterns.
Stärke hängt für mich vor allem auch mit der Frage zusammen, wie man sich in kulturpolitischen Fragen verhält. Haben wir Angst vor Migration? Wie können wir mit Migration umgehen? Wir wissen, dass wir demografisch ein schrumpfender Kontinent sind. Wie gehen wir mit diesem Schrumpfungsprozess um? Haben wir die Möglichkeit, zu integrieren? Ist das gleichzeitig in der Identität abbildbar? Ich denke, da stehen wir vor vielen Fragen.
Die heutige Diskussion wollen wir im Parlament auf vielen Ebenen fortsetzen. Ich denke, sie ist insofern ganz befruchtend, weil sie viele Verantwortungsträger – Abgeordnete, Unternehmer, Diplomaten – dazu bringt, diese Inhalte auch weiterzudenken und da weiter zu überlegen. Wir haben von der spannungsgeladenen Diskussion profitiert, davon, dass wir nicht alle einer Meinung sind. Viele würden eine europäische Verfassung sehr begrüßen, viele würden dagegen massiv aufstehen. Warum ist dieser Spannungsbogen so groß? – Ich schätze das so ein: Wo Europa den Menschen keine Vision vorgibt, worauf man sich wirklich gemeinsam einigen kann, beginnen die Regionalismen, die Chauvinismen und die Nationalismen.
Wir müssen also alle gemeinsam ein Interesse daran haben, wieder ein Projekt voranzutreiben. Das heißt, wir müssten einmal die Einstimmigkeit aufgeben, damit wir in der Außenpolitik, in der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu einer Mehrstimmigkeit kommen – das gibt der Vertrag von Lissabon her. Auch dieser Vertrag ist nicht fertig, auch er gibt nicht alles her, aber es würde wieder einen Schritt nach vorne bedeuten. Ich denke, dass wir als Europäer – und ich glaube, dass sich sehr viele Menschen als Europäer fühlen und auch europäisch denken – dort auch einen Ansatz für die nächsten Generationen finden.
Auch Macron ist sich heute bewusst, dass er, auch wenn er noch so stark ist, alleine in dieser großen weltpolitischen Auseinandersetzung keine Rolle spielt, dass er letzten Endes nicht in der Lage ist, die sozialen Spannungen in der eigenen Republik alleine zu lösen, dass er auch nicht in der Lage ist, alleine für Sicherheit zu sorgen. Aufgrund dieser Situation, dass diese Erkenntnis auch bei den sogenannten Großen in Europa einkehrt, sehe ich auch eine Chance für Österreich, aus dieser Isolierung auszubrechen und unterschiedliche, wechselnde Koalitionen zu finden.
Gerade bei der Erweiterung ist es uns, glaube ich, gelungen, einen Prozess ein wenig voranzubringen. Stetes Löcken gegen den Stachel bewirkt etwas. Wir sollten nicht mutlos sein. Es ist vielleicht viel unaufgeregter, es ist vielleicht viel mühsamer geworden, europäische Politik zu machen, aber sie ist alternativlos. Wenn man an den Punkt der Entscheidung gerät, ist man eigentlich sehr schnell wieder dort, zu sagen: Ja, wir brauchen trotzdem ein Bekenntnis zu einem gemeinsamen Europa! – Daran arbeiten wir, und der Diskussionsprozess ist Gott sei Dank nicht zu Ende.
Ich möchte noch auf eines hinweisen: Dieselbe Diskussion finden Sie in Amerika zwischen den Bundesstaaten; auch dort ist zwischen West und Ost, zwischen Nord und Süd längst nicht alles so homogen, wie wir uns das permanent von den Vereinigten Staaten vorstellen. Man hat nur eine gemeinsame äußere Form, ein gemeinsames Auftreten nach außen gefunden. Das ist die Chance, die wir wahrnehmen müssen. Ob das in den nächsten 25 Jahren gelingen wird? – Wir hoffen, denn der Friede ist unteilbar. (Beifall.)