European Jewish Congress

Dienstag, 30. Jänner 2024
Es gilt das gesprochene Wort.

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends

wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts

wir trinken und trinken

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland

dein goldenes Haar Margarete

er schreibt es und tritt vor das Haus und es blitzen die Sterne

er pfeift seine Rüden herbei

er pfeift seine Juden hervor lässt schaufeln ein Grab in der Erde

er befiehlt uns spielt auf nun zum Tanz

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich morgens und mittags wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

Ein Mann wohnt im Haus der spielt mit den Schlangen der schreibt

der schreibt wenn es dunkelt nach Deutschland

dein goldenes Haar Margarete

Dein aschenes Haar Sulamith

wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng

Er ruft stecht tiefer ins Erdreich ihr einen ihr andern singet und spielt

er greift nach dem Eisen im Gurt er schwingts seine Augen sind blau

stecht tiefer die Spaten ihr einen ihr anderen spielt weiter zum Tanz auf


Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags und morgens wir trinken dich abends

wir trinken und trinken

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith er spielt mit den Schlangen

Er ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen dann steigt ihr als Rauch in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng

Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts

wir trinken dich mittags der Tod ist ein Meister aus Deutschland

wir trinken dich abends und morgens wir trinken und trinken

der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau

er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau

ein Mann wohnt im Haus dein goldenes Haar Margarete

er hetzt seine Rüden auf uns er schenkt uns ein Grab in der Luft

er spielt mit den Schlangen und träumet der Tod ist ein Meister aus Deutschland

dein goldenes Haar Margarete

dein aschenes Haar Sulamith“

Sehr geehrter Herr Minister! Präsident Muzicant! Präsident Deutsch! Werte Vertreter des European Jewish Congress! Sehr geehrter Herr Präsident außer Dienst! Sehr geehrter Herr Bundeskanzler außer Dienst! Liebe Exzellenzen! Abgeordnete zu den gesetzgebenden Körperschaften!

Vor 51 Jahren haben wir dieses Gedicht im Deutschunterricht analysiert. Es war das Jahr, in dem das Durchgangslager in Schönau geschlossen wurde und Golda Meir nach Österreich fuhr. Wir analysierten dieses Gedicht von Paul Celan, einem aus dem alten Österreich, aus Czernowitz kommenden, der auf unbeschreibliche Weise mit diesem Gedicht, es „Todesfuge“ benennend, sowohl den musikalischen Duktus als auch den Inhalt in besonderer Art und Weise geformt hat – der Dux, der Comes, die Doppelfuge. Die „Engführung“ wurde später ein weiteres Gedicht von ihm, eine komprimierte Form dieser Todesfuge.

Wir, das war der Sprechchor der Opfer, er, das war die Aktion der Täter – Leitmotive, Metaphern, allegorische Bilder –, schwarze Milch der Frühe: ein Oxymoron am Beginn des Gedichts. Milch ist ja grundsätzlich positiv konnotiert, durch die schwarze Milch wird sie zur Milch des Todes. Die Früh ist gleich die unbestimmte Zeit zwischen Leben und Tod. Schwarze Milch der Frühe wird somit zum Sinnbild der Schoah.

Im Abstraktum gewinnt dieser Gedanke an Stärke, an Tiefe – das, was wir bis heute nicht denken können, nicht rational erfassen können, weil es zu monströs, zu unglaubhaft, zu unfassbar gewesen ist. Trotzdem nehmen diese Verbrechen unsere Gedankenräume stets ein. Celan hat in seiner Büchnerpreisrede gemeint, schwarze Milch der Frühe sei keine Metapher, es sei die Wirklichkeit – jene Wirklichkeit, die sich in den Auschwitzprozessen nach 1945 manifestiert hat, die Hannah Arendt so treffend als die Banalität des Bösen beschrieben hat.

Die Fuge ist ein musikalischer Begriff der Selbständigkeit und Celan setzt am Ende der Geschichte dieses Gedichts zwei Erzählstränge: Dein goldenes Haar, Margarete, dein aschenes Haar, Sulamith. Margarete, blauäugig, ist ein Symbol der deutschen Frau. Man hört fast Gretchen aus Goethes „Faust“. Mit Sulamith hört man die Toten der Schoah klagen. Das Paar Sulamith und Margarete reicht entwicklungsgeschichtlich weit zurück und windet sich in der Ecclesia triumphans und in der blinden Synagoge, in Straßburg am Münster, im Bamberger Dom. So lässt sich in diesem Gedicht die ganze Geschichte des Judenhasses deuten, analysieren und interpretieren. Nur im Vers „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“ gibt es keine Interpretationsspielräume. Da gibt es kein Ins-Verhältnis-Setzen. Jörg Baberowski hat in seinem Buch „Räume der Gewalt“ sehr klar formuliert: Wer zum Ungeziefer degradiert wird, wer seiner Würde beraubt wird, wo jedes Mitgefühl ausgeschaltet ist, da braucht die Tötung keine moralische Rechtfertigung. – Und unsere Antwort kann nur Schweigen und bekenntnishafte Stille sein.

Mein Deutschunterricht vor 51 Jahren hat tiefe Spuren bei mir hinterlassen. Er hat mich gelehrt, meine Familiengeschichte zu reflektieren. Mein Großvater, Repräsentant der SA, ein Mittäter, stirbt 1943. Sein jüngster Sohn geht 1943 von der Schule direkt in den Krieg – 1944 schwerst verwundet, ein Jahr im Gips, amerikanische Gefangenschaft. Er wird Lehrer, Demokrat durch und durch, aber er hat sein Trauma niemals verarbeitet.

In meinem Studium der Geschichte war neben dem Mittelalter vor allem die Zeitgeschichte einer meiner Schwerpunkte. Die Arbeit am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes über den Widerstand in den kleinen Regionen des Landes hat mich sehr geprägt. Seit dieser Zeit lässt mich eigentlich die gelebte Verantwortung nicht mehr los – als Lehrer am Gymnasium, als ein Repräsentant des gesellschaftlichen Waidhofens, gegen den immer wieder auftauchenden Alltagsantisemitismus, als Politiker in Niederösterreich, als Innenminister und jetzt als Präsident des Nationalrates mit der Möglichkeit, diese Verantwortung auch aktiv zu leben.

Jetzt kennen Sie meine persönlichen Perspektiven, meine Motivation, historische Verantwortung dort wahrzunehmen, wo die Politik mich hingestellt hat, wo die Politik von mir Verantwortung für Österreich, für ein neues Österreichbild fordert. Lange Zeit lag es auf der Hand, dass Antisemitismus in seiner rassistischen, eliminatorischen Form von der rechtsextremen Seite, von der rechtspopulistischen Seite kommt. Da lag der Fokus. Auch aus der historischen Dimension wurde das mehr als untermauert. Ebenso zeigt die Gleichung aber, ein Antifaschist könne ja kein Antisemit sein, dass es damals keinen linken Antisemitismus gegeben haben könne. Überdies war dieses frühe Israel für die europäische Linke mit seiner Kibbuzbewegung fast eine paradigmatische Form des neuen Zusammenlebens, ein ideales Lebensmodell.

Die Migration aus dem arabisch-muslimischen Raum spielte in den Siebziger- und Achtzigerjahren keine wesentliche Rolle. Heute verdanke ich vor allem der Sprachforscherin Monika Schwarz-Friesel sehr viel, um einen umfassenden Blick auf die – wie sie es formuliert – jahrhundertelange negative kulturelle Haltung zu haben, die uns quält und uns bis heute als Geisel nimmt. In ihren Forschungen beginnt sie mit der klaren Haltung bereits in der Bibel im Neuen Testament bei Johannes 8,44, wo sich die Gruppe um Jesus von dieser traditionellen jüdischen Gruppe in der Art abgrenzt, dass sie sie als Kinder des Teufels benennt. Dort beginnt die erste Dehumanisierung der Juden, die nicht an den Messias glaubten. Wer das nicht in dieser alten Spur gesehen hat, der hat vielleicht im letzten Jahr die Bilder auf der Documenta in Kassel gesehen. Dort wurde die Dehumanisierung der Juden und Jüdinnen nochmal sichtbar: israelische Soldatinnen und Soldaten in den Gewändern der SS mit Wolfskopf.

Der Antijudaismus ist tief in der Mitte der Gesellschaft verankert, aber an den Rändern wird er sichtbar. Schwarz-Friesel wörtlich: Judenhass ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Er kommt von Linken, Rechten, Moderaten, von Gebildeten und Ungebildeten, von Muslimen, von Christen, von Atheisten und auch manchmal von Juden selbst, die keine andere Möglichkeit bei ihrer Identitätssuche finden, als in Einklang mit ihrem jeweiligen Lebensumfeld die Hassprojektionen zu übernehmen, um mit ihrer nichtjüdischen Sozialisierungsumgebung konform leben zu können.

Judeophobe Stereotype werden nahezu unverändert über all diese Jahrhunderte verwendet: die Verschwörer, die Kindermörder, die Brunnenvergifter, die Pestverursacher, die Wucherer, die Zerstörer und Zersetzter unserer Gesellschaft, raffsüchtig, intrigant – ganz einfach das Übel dieser Welt, ein Phantasiekonstrukt, das eine flächendeckende Sündenbockfunktion einnahm.

Im modernen Diskurs nach 1945 kommt dazu die Antisemitismusleugnung, die Täter-Opfer-Umkehr und vor allem der israelbezogene Antisemitismus, und wieder die gleichen Stereotype: Israel als der kollektive Jude, der ewige Jude, ein Terror- und Unrechtsstaat, ein Apartheid- und Rassismusregime, ein Kindermörderstaat, ein neokolonialer Unterdrücker, ein zionistischer Imperialist, Israel als der Teufel der Länder und der Erde. All das ist nicht nur im Internet, sondern auch in vielen Schriften nachzulesen.

Deshalb müsse Israel boykottiert werden. Sie alle kennen die BDS-Bewegung. Wir haben sie verboten. Israel müsse man ausschließen, Sie haben es vielleicht auch gehört: „From the River to the Sea“. Was wir seit dem 7. Oktober 2023 sehen, das ist nicht nur das schwerste Verbrechen an Jüdinnen und Juden seit der Schoah durch bewaffnete Terroristen, sondern auch durch die Zivilbevölkerung gefilmt und gepostet. Das hat auch einen weltweiten Anstieg des Antisemitismus nach sich gezogen, den wir so in dieser Form nicht mehr für möglich hielten.

Wenn Kinder am Schulweg angegriffen werden, jüdische Studentinnen und Studenten an den Universitäten verbal und auch physisch attackiert werden, wenn Jüdinnen und Juden wieder beginnen, Koffer zu packen, wenn im Web 2.0 eine Aggressivität Platz greift, die unüberbietbar scheint, und wenn unverhohlen in den Metropolen der freien demokratischen Welt Menschen auf die Straße gehen und „From the River to the Sea“ skandieren, dann ist das für uns nicht tolerabel, nicht begreifbar und Anlass, auch alles zu tun, um das zu bekämpfen.

Diese Täter-Opfer-Umkehr ist unbegreiflich. Es ist unbegreiflich, dass sich gegen den IS-Terror alle – oder fast alle – Nationen geeint ausgesprochen haben, während der Hamas-Terror mit einer Freiheitsbewegung verglichen wird. Es ist unvorstellbar, dass seit mehr als 100 Tagen Geiseln nicht freigelassen werden. Es ist unvorstellbar, dass sie gegen Verbrecher ausgetauscht werden sollen. Und es ist unvorstellbar, dass Kriegsverbrechen dergestalt stattfinden, dass man Frauen und Kinder als Schutzschild nimmt. Es ist unvorstellbar, dass wir Waffendepots unter Schulen und Krankenhäusern errichtet sehen. Es ist unvorstellbar, dass wir Raketenbasen in Wohnkomplexen sehen. Und es ist unvorstellbar, dass die Friedensorganisation UNO mit ihren Mitgliedern der UNRWA bei diesen Angriffen aktiv dabei war. Es ist unglaublich, dass Israel zwischen 2015 und 2022 140 Mal in Resolutionen verurteilt wurde und alle anderen Staaten in derselben Zeit nur 68 Mal. Was noch alles? –Wir könnten die Liste noch lange fortführen.

Resignation, Entmutigung, Achselzucken sind aber sicherlich keine Alternative. Daher haben wir uns zu fragen: Was müssen Demokratinnen und Demokraten und die Demokratien heute tun? Haltung zeigen heißt: Halt geben, Empathie und Unterstützung für die Opfer, keine Toleranz den Intoleranten gegenüber und eine strikte, bedingungslose Verurteilung jedweden Terrors, kein Relativieren.

Auch diese Frage bekamen wir gestellt: Was tut die palästinensische Bevölkerung, um sich vom Terror der Hamas zu befreien? Auch wir in Österreich haben diese Frage – in einem anderen Zusammenhang – gestellt bekommen. Insbesondere in Österreich und der Europäischen Union haben wir alles zu tun, um den Antisemitismus zu benennen, zu bekämpfen, jüdisches Leben zu stärken und sichtbar zu machen.

Neben den Gedenkveranstaltungen, den Untersuchungen und Analysen ist vor allem eines wichtig: Aufzuklären, die Fakten zu benennen, zu bilden, öffentlich zu werden und aufeinander zuzugehen. In Österreich gibt es eine Reihe von Organisationen: Das ist die Regierung mit ihrem Plan, ihrer nationalen Strategie, Antisemitismus zu bekämpfen, das ist gerade dein Ministerium mit erinnern.at, das ist unser Gedenkort in Mauthausen, das ist die Israelitische Kultusgemeinde – nicht ihre Aufgabe, aber –, die sich hier mit Likrat und vielen anderen Bewegungen einreiht, das sind zahlreiche Vereine, das ist der Nationalfonds des Parlaments und das sind viele Menschen, die sich hier zusammenfinden, um Menschen zu bilden, denn eines zeigt sich sehr klar: Junge Menschen, die gebildet sind, sind weniger antisemitisch.

Du hast es ausgesprochen: Wir dürfen ein wenig zufrieden sein, in dieser Situation in Österreich zu leben. Es war ein langer Weg, diese Verantwortung zu finden, und wir kennen noch die Zeiten – und sie sind beileibe noch nicht historisch aufgearbeitet – der schamvollen Urteile so mancher Gerichte bezüglich der NS-Verbrechen, die uns heute noch die Schamröte ins Gesicht treiben.

Wir kennen noch die Minister und Mandatare mit NS-Vergangenheit, die in Funktion waren. Wir kennen den Streit zwischen Wiesenthal und Kreisky und wir kennen die Aussage Waldheims: Ich habe ja nur meine Pflicht getan. Wir kennen aber auch die Rede Vranitzkys, der erstmals den Opfermythos durchbrach und auch von Tätern sprach, deren nicht zu wenige aus Österreich kamen. Wir kennen auch die Nationalfondsgründung. Wir kennen Schüssels Washingtoner Abkommen, wir kennen aus der Regierung Kurz die Strategie gegen den Antisemitismus und vor allem die Staatsbürgerschaft für die Opfernachkommen des Holocausts.

Heute erst konnte ich 25 davon aus allen Ländern weltweit auch im Parlament begrüßen. Es war eine besondere Art der Begegnung. Sie haben nicht vergessen, aber sie haben den österreichischen Weg in besonderer Art und Weise respektiert und auch dankbar angenommen.

Wir kennen das Verhalten der derzeitigen Regierung, die strategische Partnerschaft mit Israel und vor allem unser Stimmverhalten bei den letzten Abstimmungen in der UNO.

Zum Schluss: Bei vielen Diskussionen früher in meiner Jugendzeit wünschte ich mir jüdische Großeltern. Heute sehe ich den großen Mehrwehrt, den Jüdinnen und Juden für unsere Gesellschaft bringen – nicht nur, dass ihr im Siddur das Bekenntnis zu Staat und staatlichen Organisationen abgebt, sondern auch eure besondere Fähigkeit, Herausforderungen lösen zu können. Trotz der 613 Regeln in der Thora findet ihr immer einen besonderen Weg. Es heißt nicht umsonst: Fragt den Rabbiner eurer Zeit, er wird euch einen Rat geben.

Ich bedanke mich. Ich bedanke mich bei dir, Herr Präsident, und bei allen, die im Komitee dafür gestimmt haben. Es ist eine große Freude und es ist eine unbeschreiblich Ehre, diese höchste Auszeichnung zuerkannt bekommen zu haben. Ich nehme sie als Auszeichnung für das offizielle Österreich mit großem Respekt, mit der Verpflichtung für ein weiteres Engagement entgegen, denn gerade hier gilt: Antisemitismus ist antidemokratisch. Wer die Demokratie schützen will – und wer, wenn nicht wir? –, darf den Kampf gegen den Antisemitismus nie scheuen und nie aufhören. (Beifall.)