Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises 2023

Dienstag, 12. März 2024
Es gilt das gesprochene Wort.

Präsident Mag. Wolfgang Sobotka: 197 Einreichungen – der Jüngste ist 17, die Älteste 103 –, Beteiligungen weltweit aus 31 Ländern, zehn Zeitzeugen, die wir heute ehren dürfen: Ist das genug, was wir tun?

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Sie schon begrüßt sind! Sehr geehrte Frau Kreisberg! Es ist für uns eine ganz große Ehre und Freude, dass Sie zu Ehren Ihres Großvaters wieder hier sind und uns diese Kooperation angeboten haben. Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin! Herr Bundesminister! Ich freue mich ganz besonders über Herrn Mansour, der sich seit dem 7. Oktober in einer ganz besonderen Situation befindet und es trotzdem auf sich genommen hat, nach Österreich zu kommen. Es ist für uns eine große Freude, dass Sie, wie so viele andere, hier sind.

Vor allem auch der Jury ein herzliches Dankeschön, denn ohne die Jury könnten wir die Nominierten, die aus den verschiedensten Regionen Europas gekommen sind, heute nicht auszeichnen. Wir dürfen uns für Ihr Engagement und für Ihr heutiges Hiersein bedanken. Nehmen Sie das auch als einen Impuls, weiterzuarbeiten!

Ich freue mich, dass so viele Gäste gekommen sind, dass unsere Abgeordneten zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrates hier sind und damit zum Ausdruck bringen: Es ist eine Veranstaltung des österreichischen Parlaments.

Unsere Antwort auf meine anfangs gestellte Frage muss heute mehr denn je sein: Zur Bekämpfung des Antisemitismus können wir nie genug tun. Wir müssen unsere Stimme erheben, Vorschläge einbringen, Gesetze beschließen und Maßnahmen setzen.

„Jeder Tag ein Gedenktag“, so heißt ein Buch, das Simon Wiesenthal 1987 veröffentlicht hat. Vom 1. Jänner bis zum 31. Dezember dokumentiert dieses Buch für jeden Tag des Jahres Ereignisse über die gesamte Geschichte des jüdischen Volkes hinweg, Ereignisse, oder doch klarer ausgedrückt, um sie beim Namen zu nennen: Morde, Pogrome, Massaker. Kein Tag im Jahr vergeht, an dem es in der Geschichte nicht zu einem Verbrechen am jüdischen Volk gekommen ist.

So ist jeder Tag – gestern wie heute, morgen und übermorgen – ein Gedenktag. Am 7. Oktober 1939 wurden 48 Juden in Nordpolen von den Nazis ermordet. Am 7. Oktober 1941 wurden 7 000 Juden in Weißrussland in einer Schlucht hingemetzelt. Am 7. Oktober 1942 ermordete die SS 700 Juden in Suwałki in Ostpolen und 3 600 im Vernichtungslager Treblinka. Nur 33 von den am 7. Oktober 1943 aus Frankreich nach Auschwitz deportierten 1 000 Juden gelang es, nach der Befreiung des Lagers 1945 noch am Leben zu sein. Am selben Tag fuhr ein Transport mit 21 Juden aus Wien nach Auschwitz und ein weiterer mit 1 260 Kindern nach Theresienstadt. Am 7. Oktober 1944 brannten die Häftlinge des jüdischen Sonderkommandos das Krematorium in Auschwitz nieder, durchschnitten den Stacheldrahtzaun, erschossen ihre Bewacher und flohen. Die meisten von ihnen wurden auf der Flucht von der SS ermordet, nur wenige haben überlebt.

Und nun, am 7. Oktober 2023, hat sich die islamistische Terrororganisation Hamas in diese Chronik Simon Wiesenthals mit den abscheulichsten Verbrechen an Jüdinnen und Juden seit der Schoah eingeschrieben. „Jeder Tag ein Gedenktag“ – und nicht nur das: Seit dem 7. Oktober des vergangenen Jahres vergeht kaum ein Tag, an dem es nicht irgendwo auf der Welt in irgendwelchen Organisationen, in Dörfern, Städten, Universitäten, Firmen zur Hetze, zu Übergriffen, zu Angriffen, ja auch wieder zu Morden gekommen ist. Jüdinnen und Juden haben auch in Europa wieder Angst.

Die barbarische Terrorattacke und ihre Folgen haben unsere schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Antisemitismus und unser Kampf dagegen, meine sehr geehrten Damen und Herren, waren über viele Jahre hinweg beinahe eine akademische Diskussion, fest verortet in einer nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoah gewachsenen Gedenkkultur unseres Landes. Generationen von Politikern vor mir, auch meine Generation und ich selbst haben in zahllosen Ansprachen zu ebenso vielen Gedenktagen in unseren Reden das Nie-wieder beschworen und uns dem Kampf gegen den Antisemitismus verpflichtet gefühlt.

Und heute? – Heute sind die Worte der Reden verklungen, und wir alle spüren, mehr als wir uns je vorzustellen vermochten, die Dringlichkeit ihrer Relevanz, denn das Grauen ist wieder in der Realität unserer Gegenwart angekommen und die vielköpfige Hydra des Antisemitismus reckt sich heute erneut und sehr frech in unsere Gesellschaft hinein, zeigt ihre hässlichsten Fratzen. Schlägt man ihr den einen Kopf ab, so wachsen beständig neue. Man sieht sie auf den Straßen Europas, in Teilen unserer migrantischen Community, in Teilen unserer europäischen Medien, in Teilen der Wissenschaftskommunität, in Teilen der Kunstszene und auch in den politischen Parteien, besonders an ihren Rändern des Spektrums.

Wir lernen dabei mit Erstaunen und Befremden: Ein lautstarker Antifaschist zu sein schützt auch nicht jeden davor, als Antisemit oder Antisemitin zu agieren. Es ist eine verkehrte, ja pervertierte Moral, die sich da breitmacht, und so ist es wohl an der Zeit, den Begriff des Antisemitismus aus dem Wissenschaftsturm akademischer Betrachtung, aus der Gefälligkeit angemessener Gedenkreden herauszureißen und die Dinge beim Namen zu nennen: Antisemitismus, Antizionismus – das ist alles zusammen nichts anderes als Judenhass; und das seit mehreren Hundert Jahren.

Judenhass, wie wir ihn heute erfahren müssen: Von rechts sieht man, wie dumm er daherkommt. Von links sieht man, wie er sich scheinbar intellektuell überhöhen möchte. Von migrantischer Seite sieht man, wie eruptiv, aggressiv und unbändig From the River to the Sea!, skandiert wird. Diesem Judenhass werden wir entschieden entgegentreten, uns ihm entgegenstellen, wo möglich mit den Mitteln der Erziehung und der Verständigung und wo nötig mit der Klarheit des Gesetzes und mit dem Gewaltmonopol des Staates.

Heute zeichnen wir ganz im Sinne des Namenspatrons jene Organisationen und Persönlichkeiten aus, die sich im Besonderen durch Bildung, durch Wissensvermittlung, durch Forschung, durch Erziehung und durch ein besonderes Engagement in Beständigkeit für jüdisches Leben, für Vielfalt und für Verständigung in unseren Gesellschaften eingesetzt haben.

Ich spreche für alle: Wir geben nicht auf, Menschen für das Gute gewinnen zu wollen und dem Hass die Alternative der Verständigung anzubieten. Unser Ziel und das Ziel aller demokratischen Kräfte dieses Landes muss sein, den Kräften des Anstands Raum zu geben, auch an sich selbst für ein Klima des Respekts zu arbeiten, für ein Klima, in dem das Eigene sich nicht durch die Vielfalt bedroht sieht, in dem Antisemitismus jedenfalls keinen Platz hat.

Die Preisträger des heutigen Abends sind unsere starken Partner in dieser Arbeit. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Ländern: aus Österreich, aus Europa und aus Übersee. So wie wir den Geist dieses Simon-Wiesenthal-Preises tragen wollen, mögen Sie diesen Geist auch von dieser Preisverleihung hier dorthin mitnehmen: Wir geben nicht auf – niemals! (Beifall.)