3. Mai 2024

Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

Stenographisches Protokoll

 

 

 

verfasst von der Abteilung 1.4/2.4 – Stenographische Protokolle

 

Freitag, 3. Mai 2024

11.04 Uhr bis 12.24 Uhr

Bundesversammlungssaal des Parlaments

 


Beginn der Gedenkveranstaltung: 11.04 Uhr

Die Veranstaltung beginnt mit der musikalischen Darbietung des Stückes „Sonett für Violine und Klavier“ von Walter Arlen, dargebracht von Karla Križ, Violine, und Anastasija Richter, Klavier, von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik der mdw. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer (Moderatorin): Das war ein Sonett von Walter Arlen, einem jüdischen Komponisten und Holocaustüberlebenden, der erst im vergangenen Jahr 103-jährig verstorben ist. Präsentiert wurde das Sonett von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik. An der Violine war Karla Križ, am Klavier Anastasija Richter.

Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident! Sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin! Hochverehrte Mitglieder der Bundesregierung! Vertreterinnen und Vertreter der Politik, des Diplomatischen Corps sowie der Kirchen und Religionsgemeinschaften! Sehr geehrte Festgäste hier im Saal und vor den Bildschirmen! Ich darf Sie ganz herzlich zur heutigen Gedenkveranstaltung gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begrüßen.

Ich freue mich sehr, dass ich Sie heute durch diese Veranstaltung begleiten darf, und es ist mir eine besondere Ehre und Freude, Überlebende des Holocaust und des NS-Terrors sowie Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in unserer Mitte begrüßen zu dürfen – herzlich willkommen! (Beifall.)

Im Besonderen möchte ich auch die Beitragenden zur heutigen Gedenkveranstaltung begrüßen: die Antisemitismusforscherin und Professorin an der Technischen Universität Berlin Monika Schwarz-Friesel, deren Keynote wir in Kürze hören werden, und die Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen Barbara Glück, die in einem Gespräch ihre Gedanken zur Vielfalt des Gedenkens mit uns teilen wird – herzlich willkommen! (Beifall.)


 

Eröffnungsworte des Präsidenten des Nationalrates

Mag. Rebekka Salzer (Moderatorin): Damit darf ich den Präsidenten des Nationalrates Wolfgang Sobotka um seine Eröffnungsworte bitten. (Beifall.)

Mag. Wolfgang Sobotka (Präsident des Nationalrates): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werte Ministerinnen und Minister! Werte Präsidentin des Bundesrates! Frau Präsidentin, Herr Präsident des Nationalrates! Werte Vertreter der Opfergruppen! Herr Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses Dr. Muzicant! Herr Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Oskar Deutsch! Herr Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz Dr. Rosen! Herzlich willkommen, Frau Dr.in Glück! Und vor allem: große Freude darüber, dass Prof. Monika Schwarz-Friesel heute in unserer Mitte sein kann und uns mit ihrer Keynote vielleicht das mitgeben kann, worauf es in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren in ganz besonderer Art und Weise ankommen wird!

Es war das Jahr 1921 und damit 20 Jahre, ehe im Jahre 1941 die Gaskammern von Auschwitz ihren mörderischen Betrieb aufnahmen, als die Mitglieder der deutschen Gesellschaft für Rassenhygiene ihr Grundlagenwerk, den „Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene“, in seiner Erstausgabe veröffentlichten.

Es war das Jahr 1922 und damit 19 Jahre, ehe die ersten Menschen in Auschwitz von nationalsozialistischen Schergen vergast wurden, als der Rektor der Universität Wien eine jüdische „Invasion“ an seiner Universität beklagte, die er als „den wahren Krebsschaden unserer akademischen Verhältnisse“ anprangerte.

Es war das Jahr 1923 und somit 18 Jahre, ehe Mütter mit ihren Kindern, Großmütter und ihre Enkel, Väter und Großväter, Söhne und Töchter, Brüder und Schwestern in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurden, als an der Universität München erstmals ein Lehrstuhl für Rassenhygiene besetzt wurde.

1929 schließlich, zwölf Jahre, ehe die Schornsteine der Krematorien von Auschwitz Tag und Nacht rauchten, noch vier Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wurde als beratendes Gremium der Reichsregierung in eugenischen und rassehygienischen Fragen ein Reichsausschuss für Bevölkerungsfragen gegründet.

1932, im Oktober, ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers, sechs Jahre vor dem Anschluss Österreichs und nur mehr neun Jahre vor den Gaskammern von Auschwitz, griff ein bewaffneter Nazimob das Anatomische Institut in Wien an und jüdische Studenten mussten sich über die Fenster in Sicherheit bringen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Waren es in den 1920er-Jahren vor allem die Naturwissenschaften, die mit ihren Überlegungen zur Eugenik den späteren Gräueltaten des Nationalsozialismus eine pseudowissenschaftliche Legitimation gaben, ihren rassistischen Antisemitismus auszuleben, so ist es heute der Postmodernismus in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, wo Fakten scheinbar beliebig interpretierbar werden, wo Israel zum Apartheidsstaat stilisiert und als postkolonialer Staat denunziert wird.

Der Antisemitismus zeigt sich heute in Österreich, in Europa, ja, weltweit mit den unterschiedlichsten Gesichtern. Die rechtsextreme rassistische Fratze kennen wir seit Jahrzehnten. Die Linksextreme artikuliert sich in einem offenen Antiisraelismus und einem kruden Antizionismus. Und mit der Migration aus islamischen Staaten haben wir einen Judenhass importiert, der die Straßen der europäischen Kapitalen flutet.

Ich brauche nicht zum x-ten Male darauf hinzuweisen, dass Antisemitismus in jeglicher Form antidemokratischen Einstellungsmustern folgt, aber wenn wir das Nie-wieder, das zur geistigen Gründungscharta der Zweiten Republik wurde, ernst nehmen, dann muss heute Israel unsere uneingeschränkte Solidarität gelten, damit wir das Schutzversprechen an die Jüdinnen und Juden, wie es der deutsche Wirtschaftsminister Robert Habeck so treffend formulierte, am Staate Israel auch einlösen.

Geben wir uns keiner Illusion hin. Der Konflikt hat weitgehenden Einfluss auf uns, auf uns in Europa. Heinz Theisen, Professor für Politikwissenschaften in Köln, beschrieb das am 29. April, vor wenigen Tagen, in der „Neuen Zürcher Zeitung“ als „Weckruf“ für Europa.

„Der sich an Israels Existenz entzündende Judenhass ist nach Europa übergeschwappt.“ Der Antisemitismus stieg seither weltweilt exponentiell, und im Internet entlud er sich in unvorstellbar gewalttätigen Worten und Bildern.

War die Europäische Union in der Verurteilung von Terrororganisationen wie IS, Taliban oder Hisbollah noch schnell und einig, so galt das für die Terrororganisation Hamas nicht mehr.

Trotz ihres unvorstellbaren Verbrechens vom 7. Oktober 2023, trotz der von ihr bis heute gehaltenen Geiseln, trotz ihrer täglichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die eigenen Frauen und Kinder als Schutzschilde zu missbrauchen, und trotz des permanenten Bruchs des internationalen Kriegsrechtes, indem man Raketenbasen und Kommandozentralen unter Schulen, Krankenhäusern und Wohnhäusern errichtet hat, trotz alledem wird Israel, das sein Selbstverteidigungsrecht in Anspruch nimmt und sich totalitären Regimen entgegenstellt, an den Pranger gestellt.

Selbstverständlich ist jedes tote Kind, jeder verletzte Mensch, egal auf welcher Seite, einer zu viel. Ungeheures Leid, Vertriebene, Verletzte, Waisen und Traumatisierte auf beiden Seiten, all das hat einen Verantwortlichen: die Terrororganisation Hamas.

Würden die 133 Geiseln, die am 7. Oktober gekidnappt wurden, ohne Bedingung freigelassen und würde die Terrororganisation gänzlich entwaffnet und ausgeschaltet, wäre die humanitäre Lage sofort besser und der Krieg wäre zu Ende. Der Gottesstaat der Hamas kann nicht Teil einer Zweistaatenlösung sein.

Vor diesem Hintergrund bin ich diesem Hohen Haus, bin ich allen Parteien im Hohen Haus, bin ich jedem Abgeordneten sehr dankbar, dass es nach dem 7. Oktober so selbstverständlich war, die Gräueltaten der Hamas einstimmig als das Verbrechen zu verurteilen, das sie waren und bleiben – klar, unmissverständlich und ohne jedes Aber. (Beifall.)

Und ja, ich bin auch dankbar, dass diese grundsätzliche Haltung bis heute Bestand hat und dass sich die österreichische Bundesregierung unter Bundeskanzler Nehammer so klar positioniert hat. Vor dem Hintergrund unserer Geschichte haben wir ein sensibles Bewusstsein entwickelt, wohin Hetze und Entmenschlichung führen. Auch deshalb war und ist die Pflege der Gedenkkultur dem österreichischen Parlament ein beständiges und starkes Anliegen.

Angesichts der immer geringer werdenden Zahl der Zeitzeugen müssen wir mit unseren Partnern, der IKG, den Gedenkstätten, erinnern.at, dem Nationalfonds und vielen anderen die nächsten Generationen mobilisieren, das erinnernde Gedenken stets zu erneuern.

Unsere permanente Ausstellung im Besucherzentrum, „Tacheles reden“, und unsere Aktion Zikaron BaSalon geben unter anderem davon ein beredtes Zeugnis.

Unerlässlich für ein erinnerndes Gedenken sind wohl die zu Gedenk- und Bildungsstätten transformierten Orte des Grauens. Besucht man etwa die Gedenkstätte des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz, so ist es, als tauche man mit jedem Schritt ein Stück tiefer in eine jener Schwarz-Weiß-Fotografien ein, die wir aus unseren Geschichtsbüchern kennen.

So schwierig die Konfrontation mit dieser Vergangenheit auch sein mag, so bleibt das Grauen doch ein wenig abstrakt. Die Wunden dieser Jahre, sie bluten immer wieder, und doch zeigen sie auch Narben, und der eigene Bezug zum Geschehenen ist am Ende zeitlich und moralisch etwas distanziert.

Und tatsächlich: Ja, wir, die wir hier sitzen, verweisen alle miteinander auf die Gnade der späten Geburt, und wären wir gefordert gewesen, ein klein wenig Haltung zu zeigen, ganz sicher hätten wir die Dinge nie so weit kommen lassen! Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, politisch Andersdenkenden, Homosexuellen, Zeugen Jehovas, Behinderten und Menschen, die aus der Bahn geworfen wurden – allen wäre kein Leid angetan worden. Oder?

Meine Damen und Herren! Nie wieder!, und: Wehret den Anfängen!, hieß es immer, und das haben wir verinnerlicht. Doch ich darf Ihnen eines sagen: Die Anfänge haben wir alle miteinander in Europa, in den USA, in Kanada, an den Universitäten und teilweise auch in Österreich längst verschlafen. Das Nie-wieder ist Geschichte.

Die Eskalation – im Internet wie im realen Leben – von Hetze zu Gewalt und Mord, sie hat längst wieder begonnen. Vor wenigen Tagen wurde ein jüdisches Reisebüro im 2. Bezirk hier in Wien mit den Parolen „Victory to Palestine“, „Death to Zionism“ beschmiert, unmittelbar vor dem Schoahtempel hat man die Fahne der Palästinenser aufgerichtet und den den Juden geltenden Vernichtungsruf: From the River to the Sea!, den vernimmt man immer wieder bei einschlägigen Demonstrationen.

Yuval Haran, der Schwager des österreichischen Israeli Tal Shoham, der bis heute in der Hand der Hamas ist, führte uns auf meiner kürzlich absolvierten Israelreise durch die Trümmer und die Asche seines Elternhauses. Einzig die Spülmaschine in der Küche hat die Feuersbrunst gerade so überstanden. Sie birgt in sich noch die Reste des letzten gemeinsamen Essens der Familie. In diesem Haus wurde sein Vater ermordet, von dort aus wurden seine Mutter, sein Schwager, seine Schwester und deren Kinder nach Gaza entführt.

Unsere Familie hatte Glück, sagte er, indem er auf die übrigen Häuser der Nachbarschaft deutete: Bei uns haben wenigstens ein paar überlebt. Die Familien unserer Nachbarn, meine Freunde, mit denen ich aufgewachsen bin, es gibt sie nicht mehr.

Es waren die, die den Frieden suchten, die sich für den Frieden einsetzten, die die Palästinenser von Gaza immer wieder zu sich holten: Sie sind ausgelöscht. Dieser Satz bezieht sich auf die Gegenwart, er ist keine Reflexion ferner Vergangenheit, er beschreibt das Hier und Jetzt.

Wenn es Europa, und das gilt auch für Österreich, nicht gelingt, ein positives, kritisches Verhältnis zu seiner Geschichte und zu seiner Kultur zu finden, zu artikulieren, worauf wir zu Recht stolz sein dürfen, und gleichzeitig zu erkennen, was wir ändern müssen, den Unterschied zwischen der eigenen und den anderen Kulturen zu begreifen und die richtigen und nachhaltigen Schlüsse daraus zu ziehen, wenn uns dies nicht gelingt, wird das erinnernde Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus diesen und ihren Nachkommen nicht gerecht und mutiert zu einem sinnentleerten Ritual. (Anhaltender Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.

Es folgt das „Intermezzo“ aus „Vier Klavierstücke für die linke Hand allein“, Opus 30, des jüdischen Komponisten Walter Bricht.

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Es folgt die musikalischen Darbietung des Stückes „Intermezzo“ aus „Op. 30 – Vier Klavierstücke für die linke Hand allein“ von Walter Bricht, dargebracht von Anastasija Richter, Klavier, von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik der mdw. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank für diese wunderbare Musik.

Gespräch

Mag. Rebekka Salzer: Ich darf jetzt Barbara Glück zu mir aufs Podium bitten. Sie leitet seit fast 20 Jahren die Gedenkstätte Mauthausen und wir wollen uns jetzt gemeinsam zum Schwerpunkt dieser heutigen Veranstaltung unterhalten, nämlich zur Vielfalt des Gedenkens.

Frau Glück, die Vielfalt des Gedenkens, wie ist denn das zu verstehen?

DDr. Barbara Glück (Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen): Es ist natürlich jetzt sehr schwer, auch nach den bedrückenden Worten von Präsident Sobotka, sehr positiv von der Vielfalt zu sprechen, aber ich glaube, das ist vielleicht auch immer wieder unsere Aufgabe, der Grund, warum wir hier sind, dass wir Mut machen, dass es sich auszahlt, dass wir über Vielfalt sprechen, und dass wir auch einen positiven Anknüpfungspunkt geben. So versuche auch ich jetzt gerade, mich auf das Gespräch einzustellen, weil es mir wirklich schwerfällt.

Ich glaube, Vielfalt bringen wir alle, die wir an die Gedenkorte kommen, mit. Im KZ-System Mauthausen waren knapp 200 000 Menschen inhaftiert, die Hälfte davon ist ermordet worden. Sie waren aus über 40 Nationen, waren aus unterschiedlichen Haftgründen, die mit den Winkeln auf den Häftlingskleidungen gekennzeichnet waren, dort, und hinter jeder dieser einzelnen Personen steckt eine eigene, eine individuelle Lebensgeschichte. Je mehr wir darüber forschen und wissen, umso mehr können wir individueller und vielfältiger gedenken.

Gleichzeitig haben wir auch am Ort Mauthausen gesehen, wie sich dieser Ort verändert, von einem Friedhof zu einem Gedenkort, zu einem lebendigen Begegnungsort mit vielschichtigen Vermittlungsprogrammen. Auch die unterschiedlichen Zeichen, die an diesem Ort gesetzt werden: Es sind schlussendlich auch heute die Menschen, die diesen Ort so vielfältig gestalten – unterschiedlichst, woher sie auch kommen, international, aus der ganzen Welt, von Opferverbänden, von einzelnen Familien –, die ihre eigenen Gedenktraditionen und Rituale, die teilweise über Generationen gehen, mit zu uns an diesen Ort bringen.

Auch die am Sonntag stattfindenden Befreiungsfeiern, die vom Mauthausen-Komitee organisiert werden, bringen wieder unglaubliche Menschen aus der ganzen Welt zusammen, die mit ihrer Vielfalt diesen Ort gestalten, aber nicht nur an diesem einen Tag, sondern jeden Tag an der Gedenkstätte, weil Vielfalt für uns auch Vermittlungsarbeit bedeutet, die wir an diesen Orten mit jungen Menschen machen können.

Da kommt vielleicht der andere Aspekt dazu, der auch eine Vielfalt mit einbringt, und das ist der Generationenwechsel, in dem wir ja ständig sind. Ich bin Vertreterin der dritten Generation und wir haben heute auch einige Schulen bei uns, die schon die vierte Generation sind. Wir müssen uns aber zuerst Gedanken darüber machen, was für uns wichtig ist, und dann können wir es der nächsten Generation weitergeben.

Schließlich ist das gemeinsame Nachdenken über Gusen für mich auch Gedenken.

Mag. Rebekka Salzer: Da kommen wir dann später noch dazu.

Wie wichtig ist denn das Gedenken auch in Zusammenhang mit den aktuellen Ereignissen, Krieg in Nahost? Wie kann man das Gedenken da auch ins Hier und Jetzt übersetzen?

DDr. Barbara Glück: Das versetzt uns natürlich auch in eine Fassungslosigkeit, und ich glaube, ich brauche das nicht zu wiederholen, was auch Präsident Sobotka in aller Deutlichkeit gesagt hat. Bei uns kommt auch noch zusätzlich eine persönliche Komponente dazu, weil wir doch noch mit einigen Überlebenden, mit Angehörigen, mit Partner:innen in Yad Vashem zum Beispiel in ständigem Kontakt stehen.

Darüber hinaus, es ist schon angesprochen worden, in Wien, in Österreich, in Europa, wo Antisemitismus nach dem 7. Oktober noch einmal stärker und vor allem auch sichtbarer geworden ist: Das erschüttert uns, und wir müssen uns fragen, ob wir ausreichend tun. Wir müssen uns fragen, in welchem Geiste unsere Kinder heranwachsen.

Da können wir für uns als Gedenkstätte ganz klar sagen: Unsere Aufgabe, die wir wahrnehmen müssen, ist die Vermittlungsarbeit, ist die Bildungsarbeit, bei der wir einen dialogorientierten, einen multiperspektivischen Ansatz gewählt haben und bemüht sind, dass Menschen ihre eigenen Gedanken, ihre Perspektiven mit an den Ort bringen und in die Aufarbeitung einbringen, geleitet von zwei Fragen: Wie konnte es sein, dass inmitten einer zivilisierten Gesellschaft Millionen von Menschen – und für Mauthausen gesprochen: knapp 100 000 Menschen – ermordet worden sind?, und den Gegenwartsbezug fördernd von der Frage, die ich hier immer stelle: Was hat das mit mir zu tun?, und auch von dieser Frage, um die es vorhin schon gegangen ist: Dieses Aus-der-Geschichte-Lernen: Wie ist das möglich? Wie können wir das schaffen?

Mag. Rebekka Salzer: Sie haben vorhin von Schulkassen gesprochen. Auch heute sind einige Schulklassen hier. Es kommen sehr viele Schulklassen zu Ihnen nach Mauthausen. Wie wichtig ist denn da nicht nur der Besuch der Gedenkstätte an sich, sondern auch die Vorbereitung auf diesen Besuch von den Lehrern und Lehrerinnen und auch die Nachbereitung?

DDr. Barbara Glück: Wir haben etwa 300 000 Menschen, die jährlich die Gedenkstätte besuchen, davon sind über 50 000 junge Menschen, die in mehr als 4 000 pädagogischen Programmen von uns begleitet werden, und die Tendenz ist steigend. Wir haben seit Anfang April täglich circa 1 500 Menschen, die an die Gedenkstätte kommen, wir haben es auch gestern wieder gesehen, aber was wir wissen, ist, dass für uns der Besuch der Gedenkstätte nicht alleine stehen kann, sondern es braucht im besten Fall immer eine Vorbereitung und eine Nachbereitung, eine Reflexion danach.

Da sehen wir, dass die Schnittstellen zu den Schulen, zum Unterricht immer enger geworden sind. Lehrkräfte sind sensibilisierter, als es vielleicht auch noch zu meiner Schulzeit war. Es gibt Materialien zur Vor- und Nachbereitung, die man sich bei uns auch kostenlos herunterladen kann, und vieles, vieles mehr, differenzierte Bildungsprogramme.

Ich glaube aber, dass ein Aspekt ganz besonders wichtig ist, und das ist die Zusammenarbeit aller in Österreich engagierten Institutionen, Vereine, Verbände, lokalen Initiativen, die vor Ort in den Gedenkstätten sind, bis hin zu den ehrenamtlichen Einzelpersonen, die sich tagtäglich engagieren – es sind ja auch viele heute hier, habe ich gesehen –: das Mauthausen-Komitee Österreich mit der Vermittlungsarbeit an den Orten ehemaliger Außenlager, erinnern.at ist schon angesprochen worden, unser Netzwerk, wo das Dokumentationsarchiv dabei ist, das Simon-Wiesenthal-Institut, das Jüdische Museum, das Haus der Geschichte, aber auch der Nationalfonds, der Zukunftsfonds.

Das ist das Essenzielle, dass wir da gemeinsam und nicht isoliert arbeiten, und ich glaube, dann schaffen wir, um auch etwas Positives zu sagen, wirklich diese gemeinsame Bildungsarbeit, die wir auch in die Gesellschaft einbringen können.

Mag. Rebekka Salzer: Wie kann man denn die jungen Leute erreichen? Jetzt sagen Sie natürlich: Kommt zu uns in die Gedenkstätte!, das ist toll, aber reicht das oder sollte man, muss man auch, um das Ziel zu erreichen, die Leute, die jungen Leute zum Beispiel über Social Media – etwa Tiktok – ansprechen?

DDr. Barbara Glück: Also wir wissen, unsere Arbeit alleine ist zu wenig, und wir wissen auch, dass der alleinige Besuch der Gedenkstätte zu wenig ist. Wir haben es uns wahrscheinlich auch über die Jahrzehnte zu einfach gemacht, sind an unseren Gedenkorten gewesen, haben auf die Menschen gewartet, die sowieso zu uns kommen, und sind mit ihnen ins Gespräch gekommen.

Wir wissen aber auch, dass wir auch mit jenen Menschen ins Gespräch kommen müssen, die nicht unsere Meinung haben, die nicht zu uns kommen und die vielleicht das Gedenken, so wie wir es sehen, nicht unterstützen – und dann haben wir erkannt, dass wir aus unseren Orten hinausgehen müssen, dass wir in die Schulen, in die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, in die Erwachsenenbildung gehen müssen, dass wir uns viel stärker vernetzen müssen, dass wir die regionale Bevölkerung an den Orten, an denen die Verbrechen stattgefunden haben, einbinden müssen und, ja, auch, dass wir in den sozialen Netzwerken kommunizieren und, wie wir es seit zwei Jahren machen, zum Beispiel auch auf Tiktok mit Videos präsent sein müssen.

Das Feedback, das wir von Lehrkräften und von Jugendlichen bekommen, ist, dass sie diese Videos – das war wahrscheinlich auch durch die Covid-Zeit bedingt – auch zu Hause oder im Unterricht verwenden und jetzt mittlerweile auch in der Vor- und Nachbereitung von Schulbesuchen an der Gedenkstätte.

Mag. Rebekka Salzer: Was ist denn da die Herausforderung bei Social Media? Das ist ja nicht ganz einfach.

DDr. Barbara Glück: Also zuallererst einmal haben wir ein halbes Jahr gebraucht, um uns vorzubereiten, dass wir überhaupt diesen Schritt wagen, auf Tiktok zu gehen – das klingt jetzt sehr kompliziert –, für uns zu überlegen, dass wir eine eigene Sprache, ein eigenes Auftreten haben, dass wir es uns auch trauen, dass wir hinausgehen und die Botschaft, die wir haben, auch vermitteln. Da sind wir in einem internationalen Netzwerk von Gedenkstätten, wo wir uns das gemeinsam überlegt haben.

Nun gut, vor zwei Jahren haben wir uns getraut, und der nächste Schritt, die nächste Herausforderung ist der Content, das heißt, komplexen Inhalt in kurzer Zeit zu transportieren bedarf des nötigen Handwerks. Da haben wir bei uns sehr viele Schleifen und Diskussionsrunden, dass wir das überhaupt schaffen.

Der weitere Schritt ist dann natürlich auch der Austausch, den wir ja haben wollen, der dann nicht immer, aber doch auch in Kommentaren, in Foren stattfindet. Ja, wir bekommen sehr viel positives Feedback, wir kommen aber auch ins Gespräch mit Menschen, die nicht unsere Meinung haben, die eine andere Meinung haben, und zwar jene Meinung, dass man die Geschichte doch endlich ruhen lassen sollte.

Ich glaube, da müssen wir dranbleiben, dieses Gespräch fortführen und uns trauen, unsere Bildungsarbeit auch außerhalb unserer Orte zu machen, uns genau da engagieren und mit Überzeugung, mit Argumenten kommen und auch diese Kommunikation als Chance sehen, dass wir wahrscheinlich oder ziemlich sicher auch Menschen erreichen, die sich noch nie aktiv mit der Geschichte auseinandergesetzt haben.

Mag. Rebekka Salzer: Jetzt befindet sich in unmittelbarer Nähe zu Mauthausen das ehemalige KZ Gusen, wo Sie jetzt einen Beteiligungsprozess gestartet haben, der die Weichen für eine künftige Neugestaltung stellen soll. Warum haben Sie sich entschieden, alle Stakeholder, alle Beteiligten einzubinden? Das wäre ja eigentlich gar nicht notwendig gewesen.

DDr. Barbara Glück: Na ja, ich sage, es ist immer notwendig, miteinander zu reden, und wer die Geschichte dieses Ortes kennt, weiß, dass sich der Ort des ehemaligen KZ Gusen ja nach 1945 völlig anders entwickelt hat als Mauthausen selber, wo 1949 ja schon die Gedenkstätte eröffnet worden ist. In Gusen ist hingegen sehr viel abgetragen worden, in Vergessenheit geraten, und auf dem ehemaligen Lagerareal ist eine Wohnsiedlung entstanden.

Man muss wissen und man kann es nicht oft genug betonen, dass es ohne die Initiative der Überlebenden selber wahrscheinlich heute in Gusen nichts mehr geben würde. Ohne das Engagement dieser so vielen zivilgesellschaftlichen Institutionen vor Ort würden wir wahrscheinlich das Gedenken heute gar nicht weitertragen können. Und genau in diesem Wissen, in dieser Nachgeschichte, die an diesem Ort ganz speziell ist, 79 Jahre, in denen nichts passiert ist, in denen viel passiert ist – und wir sind der Bundesregierung dankbar, dass sie diese Grundstücke angekauft hat –, können wir heute nicht einfach nach St. Georgen oder nach Langenstein fahren und sagen: So, jetzt planen wir, dann bauen wir, und dann eröffnen wir die Gedenkstätte! Das wäre komplett der falsche Weg.

Wir sind den Weg gegangen, dass wir alle einbinden. Ich glaube, dass das genau das Entscheidende ist: Wir haben alle mit an Bord geholt. Ich bin mir ziemlich sicher, schlussendlich ist es wahrscheinlich weniger wichtig oder genauso wichtig, wie am Ende unsere Gedenkstätte Gusen aussehen wird, das Entscheidende ist, dass alle mit dabei sind, das Entscheidende ist, dass wir es uns gemeinsam ausverhandeln und dass wir dann garantieren können, dass dieser Ort zum Leben erweckt wird, nämlich von den Menschen, die dort leben und die dort hinkommen.

So haben wir unsere neuen Nachbarn, die Anrainer, die lokale Bevölkerung, alle national Interessierten und international Involvierten, die Opferverbände, alle Opfernationen, deren Vertretungen an einen Tisch gebeten, haben sie eingeladen, dass wir gemeinsam darüber reden – ganz einfach.

Es hat sehr lange gedauert, weil wir alle sehr viel zu sagen haben. In der ersten Runde war einmal die Frage: Was bedeutet das für jeden Einzelnen? Wie wichtig ist es, ist es weniger wichtig, wie sehen wir diesen Ort? In der zweiten Runde haben wir uns getraut, gemeinsam Werte auszuverhandeln. Das klingt jetzt auch so: Ja, braucht man das überhaupt?, aber das war unglaublich wichtig, weil wir einander auf Augenhöhe und mit Respekt alle miteinander begegnet sind und einen Wertekatalog für Gusen, für diesen Ort, für uns selber ausverhandelt haben.

Darüber hinaus sind wir auch noch gesessen und haben auf den Plänen geschaut und gezeichnet und überlegt, wie dieser Ort gestaltet werden kann.

Wenn ich noch etwas sagen darf: Ich glaube, ich persönlich und wahrscheinlich alle, die wir gemeinsam an diesem Tisch gesessen sind, haben erkannt, dass das nur gemeinsam geht. Es geht nur gemeinsam, wenn wir überlegen, wie wir für uns das Gedenken gestalten wollen. Die Frage ist überhaupt: Was ist denn Gedenken?, aber das würde jetzt zu weit führen. Wir wissen ganz genau: Das ist nicht nur die Idee des gemeinsamen Gedenkens, sondern es muss auch unser Anliegen sein. Da sagt Guy Dockendorf, der Präsident des Internationalen Mauthausen-Komitees, immer, dass Gedenken eine Herzensangelegenheit ist, und da hat er vollkommen recht. Ich wünsche mir, dass wir diesen Weg nie wieder verlassen. (Anhaltender Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank.

Ein schönes Abschlusswort war das: Gedenken ist eine Herzensangelegenheit.

Es folgt jetzt ein Film, in dem es um die Vielfalt des Gedenkens geht. Es geht eben nicht nur um Kranzniederlegungen, Gedenken hat sehr, sehr viele Facetten; wir haben jetzt gerade darüber gesprochen.

Es sind sehr, sehr viele verschiedene Opfergruppen gewesen, die in der Zeit des Holocausts verfolgt wurden, auch als Roma und Sinti, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, Kriminelle und Asoziale. Sie alle haben in diesem Kurzfilm, den wir Ihnen jetzt präsentieren, eine Stimme bekommen.

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Es folgt die Einspielung des Films „Die Vielfalt des Gedenkens“.

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Keynote

Mag. Rebekka Salzer: „Die Menschheit hat nach Auschwitz nichts gelernt“, das ist ein Satz, den Monika Schwarz-Friesel gesagt hat. Sie ist Professorin an der Technischen Universität Berlin und Antisemitismusforscherin und sie ist aus Deutschland angereist, um die heutige Gedenkrede im Parlament zu halten.

Der Titel der Keynote ist: „‚Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?‘ (Nelly Sachs, 1961) Eruptionen der alten Judenfeindschaft und die Israelisierung des Antisemitismus“. – Bitte sehr. (Beifall.)

Prof. Dr. Monika Schwarz-Friesel (Antisemitismusforscherin und Professorin an der Technischen Universität Berlin): Meine Damen und Herren! Ich begrüße Sie. Es ist mir wirklich eine große Ehre, heute hier vor Ihnen zu sprechen.

In einem Gedicht fragte Nelly Sachs 1961: „Warum die schwarze Antwort des Hasses auf dein Dasein, Israel?“

Zwar existierte der Staat Israel damals schon, doch Nelly Sachs bezog sich mit dem Wort Israel zeitlebens allgemein auf die jüdische Existenz. Und so führt die Frage genau in die Mitte meines Vortrags, denn Judenhass und Israelhass bilden eine untrennbare Symbiose.

Ich war gebeten worden, über den Antisemitismus nach dem 7. Oktober 2023 zu sprechen. Ich forsche seit 20 Jahren zum Thema Judenfeindschaft und bin mit den Abgründen und allen Manifestationen dieses kulturellen Hasses vertraut. Dennoch ist es mir noch nie so schwergefallen, einen Vortrag hierzu zu formulieren – dies nicht nur aufgrund der Bestialität des Massakers, sondern auch, weil die Reaktionen auf diese Monstrosität selbst monströs waren und sind, weil uns drastisch vor Augen geführt wird – es wurde gerade schon erwähnt –, dass Teile der Menschheit tatsächlich nichts aus der Geschichte gelernt haben.

Der 7. Oktober zeigte die Quintessenz von Judenhass, seine Ultima Ratio, seinen unbedingten Willen, die jüdische Existenz auszulöschen. Hier begegnen wir nicht der Banalität des Bösen, sondern dem antisemitischen Bösen per se, und zwar in seiner grauenerregendsten Eigenschaft, so wie die Nationalsozialisten glaubten, Juden müssten als Weltenübel zum Wohle der Menschheit ausgerottet werden.

Am 7.10. zelebrierte und sakralisierte man genau diesen eliminatorischen Antisemitismus.

Eine Szene verdeutlicht dies: ein mitgeschnittenes Handygespräch, bei dem man die stolz-erregte Stimme eines jungen Palästinensers hört – Zitat –: Mutter, dein Sohn hat heute zehn Juden getötet! Ich rufe dich vom Telefon eines toten Juden an. Sag’s dem Vater! Ihr Blut ist an meinen Händen. Mutter, dein Sohn ist ein Held! – Und der Vater ruft freudig: Töte! Töte! Töte!

Entsprechend mahnte der Holocaustüberlebende und Literaturnobelpreisträger Imre Kertész – Zitat –: „Und der Antisemit unserer Zeit will nicht mehr seine Abneigung gegenüber Juden ausdrücken, er will Auschwitz“.

Am 7. Oktober 2023 wurden über 1 200 Menschen jedweden Alters gefoltert, verstümmelt, verbrannt – mit Jubelgeschrei! Nur durch die explizite Nennung dieser Gräueltaten ist das Ausmaß des moralischen Versagens weiter Teile der Weltbevölkerung zu verstehen.

Es hätte einen internationalen Aufschrei geben müssen, doch stattdessen kam das zum Teil ohrenbetäubende Schweigen ausgerechnet von denen, die sonst lautstark als Erste sich empören. Es schwiegen die Feministinnen zu den Massenvergewaltigungen, es schwiegen die progressiven Akademien und Kunstszenen zu den grausamen Ermordungen junger Menschen, es schwiegen die Friedensaktivisten und Antirassisten zu den Bestialitäten des Pogroms.

Die politisch korrekten Moralisten, die bei jeder Minderheitendiskriminierung aufschreien, sie verhöhnten die Opfer und deren Familien durch judenfeindliche Täter-Opfer-Umkehrungen, auch – und besonders virulent – an Universitäten, wie man gerade besonders deutlich in den USA sieht. Die Ja-aber-Rhetorik des pseudointellektuellen und politischen Diskurses bis hinauf zur UN-Ebene reproduzierte unter dem Schlagwort Kontextualisierung das alte antisemitische Argument, die Juden seien selbst schuld an ihrem Unglück.

Verstand, Anstand und Mitgefühl wurden zugunsten ideologischer Verblendung, zugunsten eines antiisraelischen Narrativs aufgegeben.

Und nicht nur in Israel, sondern in den jüdischen Gemeinden weltweit kam mit Wucht die Retraumatisierung und mit ihr die sehr bittere Erkenntnis, wie einsam man im 21. Jahrhundert trotz aller Beteuerungen des floskelhaften Nie-wieder blieb und bleibt.

In den sozialen Medien gab es einen Post in Anlehnung an das berühmte Zitat von Niemöller, der die Fassungslosigkeit insbesondere junger progressiver Juden widerspiegelt, den ich hier verlesen möchte – in Übersetzung, Zitat –:

Sie attackierten Lesben und Schwule und ich stand dagegen auf, sie attackierten die schwarze Gemeinschaft und ich stand dagegen auf, sie attackierten die Migranten und ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich, aber ich stand allein, denn ich bin jüdisch. – Zitatende.

Überraschend kamen die Empathieverweigerung und auch die Hasseruptionen keineswegs. Der Boden dafür war seit Jahren längst gelegt. Ähnliches erlebten wir schon anlässlich der Gazakrise 2014, als auf den Straßen Europas: Hamas, Hamas, Juden ins Gas!, gegrölt wurde und im Internet verbale Gewaltexzesse stattfanden.

Wir warnen in der empirischen Forschung seit Langem immer wieder und öffentlich vor einem Antisemitismus, der im medialen Diskurs, der in der Öffentlichkeit ein Feind- und Zerrbild des jüdischen Staates etabliert.

So war das Fazit unserer Konferenz Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte – Zitat –:

Der israelbezogene Antisemitismus ist heute die frequenteste Form der aktuellen Judenfeindschaft und doch ausgerechnet dieser wird in Politik und Zivilgesellschaft der wenigste Widerstand entgegengesetzt. Hier liegt die Gefahr der Ausweitung und der Habitualisierung in der Mehrheitsgesellschaft. – Zitatende.– Das war vor 15 Jahren!

Aktuell konstatiere ich vier politisch-ideologische Formen der Judenfeindschaft: den linken, den rechten, den muslimischen und den mittig-gebildeten Feuilleton-Antisemitismus.

Trotz aller ideologischen Divergenzen weisen alle vier Synergien auf, bilden zum Teil Allianzen, so seit Längerem schon der linksextreme und der islamistische Antisemitismus. Alle treffen sich in der Dämonisierung Israels.

Dabei legt seit jeher der gebildete und moralisch integer auftretende Antisemitismus mit seiner polierten Rhetorik, der als Sorge um den Weltfrieden daherkommt, die geistige Brandstiftung, denn er setzt die Ideen in die Köpfe. Die Radikalen, die Naiven, die Indoktrinierten, die Ignoranten, die Studierenden, sie fungieren lediglich als Brandbeschleuniger.

Nach dem Pogrom deutete die bekannte amerikanische Genderikone Judith Butler das Massaker als Aufstand, als bewaffneten Widerstand. Sie sah keinen Terror und keinen Antisemitismus, und die Hamas hatte sie einst als eine linke soziale Bewegung bezeichnet.

Inwiefern das Köpfen und Verbrennen von Säuglingen Widerstand sei, erklärt sie nicht. Stattdessen bringt auch sie durch ihre Prominenz das alte antijüdische Kausalargument in das kollektive Bewusstsein der Öffentlichkeit, wenn Juden Gewalt zugefügt wird, liege dies am Verhalten der Juden.

Niemanden sollte es wundern, Antisemitismen bei hochgebildeten Menschen zu sehen. Man denke an die judenfeindlichen Äußerungen von Augustinus, Luther, Voltaire, Fichte und Hegel. In den Bildungsromanen der liberal-progressiven Autoren Dickens, Wilde und Dostojewski finden sich die Topoi des bösen, gierigen Juden fest verankert. Ihre Schriften träufelten das Gift in das Bewusstsein von Millionen Lesern. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war der Anteil gebildeter Antisemiten höher als der ungebildeter, denn das judenfeindliche Ressentiment ist kein Vorurteil unter vielen und es ist auch nicht bloß Rassismus, sondern ein kollektiver Denk- und Gefühlshabitus, und leider ist Bildung kein absoluter Garant dagegen.

Jahrhundertelang glaubten Antisemiten, der kollektive böse Jude schlachte Kinder und paktiere mit Satan. Heute glauben sie in direkter Anlehnung an dieses Zerrbild, der jüdische Staat sei ein rassistisches Apartheidsregime, das Kinder ermorde.

Gebildete und progressiv auftretende Personen mit Doktoren- und Professorentiteln sind deshalb so gefährlich, weil die Menschen ihnen ohne Verdachtsmoment zuhören, weil sie den moralischen Anspruch nach außen tragen, die Guten zu sein. Deshalb erhalten ihre Texte und ihre zahlreichen Unterschriftenlisten so viel Gewicht in der Öffentlichkeit. Der woke Manichäismus pflegt mit großer Toleranz gegenüber dem jüdischen Staat Intoleranz.

Publiziert werden dabei auch von den Medien selbst die krudesten Ideen, zum Beispiel seit einigen Jahren Aussagen des sogenannten postkolonialen Ansatzes, der die Schoah relativiert und Israel delegitimiert. Diese geschichtsverfälschende Schablone liefert längst nicht nur israelfeindliche, sondern auch kollektiv gegen alle Juden gerichtete Diskreditierungen, wenn zum Beispiel Anne Frank posthum als weißes Kolonialmädchen bezeichnet und ihr Tagebuch verbrannt wird.

Das saliente Symbol für jüdisches Leben und Überleben in der Welt ist Israel und deshalb der Stachel im Geist aller modernen Antisemiten. Israelbezogener Antisemitismus ist weder ein neuer noch ein politischer Empörungsantisemitismus und er liegt auch nicht im Nahostkonflikt begründet.

Er hat keine andere Kausalitätsstruktur als den alten Antijudaismus, wobei der Konflikt als Katalysator fungiert. Zu betonen ist daher ausdrücklich, dass Israelhass als antijüdische Weltanschauung auch ohne Krisen, Kriege und ohne Siedlungsbau artikuliert wurde und wird.

Wer glaubt, Israelhass sei gespeist von der aktuellen Konfliktsituation, der lese die Hassbotschaften, die Asher Ben-Natan, der erste Botschafter Israels in Deutschland, bereits erhielt. Seit seiner Gründung wird der jüdische Staat gehasst, weil er existiert, und nicht, weil er etwas tut oder nicht tut.

Was ich die Israelisierung des Antisemitismus nenne, zeichnet sich dadurch aus, dass klassische Stereotype wie Kindermörder, Landräuber und Volkszerstörer, allesamt übrigens schon seit Jahrhunderten Stereotype des Judenhasses, zeitgemäß angepasst auf Israel projiziert werden und dass Juden überall auf der Welt kollektiv unter dem Vorwand des Konfliktes attackiert werden.

Wir sehen hierbei in der Forschung alle Merkmale des klassischen Antijudaismus. Antisemitische Konzepte ziehen sich dabei auch durch die massiv zugenommen habenden Abwehr- und Leugnungsprozesse im öffentlichen Diskurs.

Das vielbeschworene Kritiktabu ist eine krude Kopfgeburt, denn kein Land der Erde wird nachweislich so heftig und so oft kritisiert wie Israel. Legitime Kritik und Antisemitismus werden auch selbstverständlich nicht gleichgesetzt und aufgrund klarer Kriterien gibt es für uns auch keine Grauzonen bei der Abgrenzung.

Alle diese Phantasmen werden produziert, damit man sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus immunisiert. Auch dies ist nichts Neues: Wilhelm Marr, Verfasser der einflussreichsten antisemitischen Hetzschrift im 19. Jahrhundert, beteuerte, sich nicht vom Judenhass leiten zu lassen, aber er müsse doch – Zitat – wahrheitsgemäß aufdecken, wie schädlich Juden agierten.

Wir stoßen hier auf Deutungskämpfe, die, so nannte es einst Franz Kafka, „die Lüge zur Weltordnung“ machen wollen. Die Weltlüge über das jüdische Israel ist schon weit und breit etabliert in der ganzen Welt. Sie wird zu oft von zu vielen geglaubt und sie hat furchterregende Konsequenzen. Wir alle stehen vor der Herausforderung, diesem Lügengeflecht Fakten entgegenzusetzen.

Nelly Sachs schrieb: „Land Israel, nun wo dein Volk aus den Weltenecken verweint heimkommt“. Und sie rief: „Völker der Erde [...] zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses“.

Ich danke Ihnen sehr, dass Sie mir heute zugehört haben. (Anhaltender, teilweise stehend dargebrachter Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Monika Schwarz-Friesel, für diese außergewöhnliche Gedenkrede.

Hier folgt wieder Musik, dieses Mal auch mit Gesang, von Aleksandra Dimić. Das Lied „Er hot mir zigesugt“ des jüdischen Musikers Wilhelm Grosz ist eigentlich ein Schlaflied für Kinder. – Bitte sehr.

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Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Er hot mir zigesugt“ von Wilhelm Grosz, dargebracht von Aleksandra Dimić, Gesang, Karla Križ, Violine, und Anastasija Richter, Klavier, von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik der mdw. – Beifall.

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank.

Abschlussworte der Präsidentin des Bundesrates der Republik Österreich

Mag. Rebekka Salzer: Ja, liebe Festgäste, wir nähern uns dem Ende der Veranstaltung. Ich darf jetzt noch die Präsidentin des Bundesrates Margit Göll um ihre Abschlussworte bitten!

Margit Göll (Präsidentin des Bundesrates): Sehr geehrte Damen und Herren! Am heutigen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus haben wir uns an die unsäglichen Gräueltaten erinnert, die im Namen von Hass und rassistischen sowie antisemitischen Vorurteilen begangen wurden.

An diesem Tag zeigen wir Solidarität und bekennen uns zu den Werten von Toleranz, Mitgefühl und Menschlichkeit. Wir erinnern uns an die unzähligen unschuldigen Menschen, die unter dem grausamen Regime des Nationalsozialismus gelitten haben.

Wir gedenken der Millionen –Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, politische Dissidenten, Menschen mit Behinderungen und viele andere –, die Opfer von systematischer Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung wurden.

Im Besonderen gedenken wir der Opfer des Konzentrationslagers Mauthausen, wo unzählige Männer, Frauen und Kinder unter unmenschlichen Bedingungen gelitten haben und ihr Leben lassen mussten.

Ihre Namen und ihre Geschichten dürfen niemals in Vergessenheit geraten, denn sie sind Mahnung und Verpflichtung für uns alle zugleich.

Unsere Erinnerung umfasst auch jene, die zunächst im Schatten der Geschichte verborgen blieben, die Opfer der sogenannten NS-Euthanasie, in deren Rahmen Menschen mit Behinderung unter anderem in Schloss Hartheim grausam ermordet wurden. Ihre Namen mögen nicht so bekannt sein, aber ihre Leiden und ihr tragisches Schicksal verdienen ebenso unsere Erinnerung und unseren Respekt.

Die Frage, ob Gedenken an bestimmte Objekte oder an einen bestimmten Ort gebunden ist, ist sicherlich sehr komplex. Gewiss haben Orte wie die Konzentrationslager und Gedenkstätten eine einzigartige Bedeutung als direkte Zeugen des Leids, doch das Gedenken sollte nicht auf diese Orte beschränkt sein. Es kann überall stattfinden, wo Menschen sich versammeln, um der Opfer zu gedenken und sich gegen Hass und Vorurteile zu stellen. Das Gedenken kann sowohl im Stillen als auch im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen stattfinden. Beides hat seinen Wert.

Stilles Gedenken ermöglicht individuelle Reflexion und persönliche Verarbeitung, während öffentliche Veranstaltungen Solidarität zeigen und somit ein starkes Zeichen gegen Gewalt und Rassismus setzen können.

Denkmäler, Rituale und künstlerische Interventionen spielen dabei eine bedeutende Rolle beim Gedenken. Sie dienen als sichtbare Erinnerungen, die das Bewusstsein für die Vergangenheit schärfen und Emotionen ansprechen können. Denkmäler und Rituale bieten einen Rahmen für das Gedenken, während künstlerische Interventionen neue Perspektiven eröffnen und zum Nachdenken anregen.

Insgesamt ist das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus eine wichtige Verpflichtung, die wir gemeinsam tragen. Es erfordert eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Geschichte und ein aktives Engagement für die Werte von Toleranz, Mitgefühl und Menschlichkeit. Unser Engagement ist 79 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen mehr gefragt denn je!

Leider sehen wir, dass der Antisemitismus in vielen Ländern der westlichen Welt ein Ausmaß angenommen hat, das wir kaum für möglich hielten. Protestzüge in unseren Städten fordern ein Palästina frei von Juden, an Universitäten werden Jüdinnen und Juden daran gehindert, ihrem Lehrauftrag nachzukommen oder den Vorlesungen zu folgen.

Und gerade unter jenen, von denen wir erwarten, die Zukunft unserer Gesellschaft zu gestalten, üben sich dort viele in argloser Naivität, ahnungsloser Dummheit und verabscheuungswürdigem Antisemitismus.

Das Gedenken des Jahres 2024 muss daher ein lautes sein, geradezu ein Aufschrei gegen den Anstieg an antisemitischen Vorfällen, die auf Onlineplattformen und in sozialen Medien oder auf Demonstrationen stattfinden, die diese Bezeichnung nicht einmal verdienen, weil dort keine Meinung geäußert wird, sondern lediglich Hass und der Aufruf zu Gewalttaten verbreitet werden.

Wir müssen uns fragen: Was hast du 2024 getan? Dieser Frage werden wir uns gegenüber unseren Kindern und Enkeln eines Tages stellen müssen und wir sollten ohne zu zögern darauf eine klare Antwort finden. – Vielen Dank. (Beifall.)

Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Bundesratspräsidentin Margit Göll.

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Ja, und wir schließen die Veranstaltung wieder mit Musik, wieder mit Gesang, präsentiert von unserem Ensemble von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik, erneut mit einem Lied von Wilhelm Grosz. „Sizen sizen siben wáber“ heißt es.

Ich darf mich an dieser Stelle von Ihnen verabschieden. Ich hoffe, Sie haben von dieser Gedenkveranstaltung auch etwas persönlich für sich mitnehmen können. Gedenken ist vielfältig, Gedenken ist individuell. Danke für Ihre Aufmerksamkeit, auf Wiedersehen. (Beifall.)

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Es folgt die musikalische Darbietung des Liedes „Sizen sizen siben wáber“ von Wilhelm Grosz, dargebracht von Aleksandra Dimić, Gesang, Karla Križ, Violine, und Anastasija Richter, Klavier, von Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik der mdw. – Beifall.

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Schluss der Gedenkveranstaltung: 12.24 Uhr