Transkript
der Veranstaltung:
Podiumsdiskussion zum Internationalen Holocaust-Gedenktag
Rebekka Salzer: Einen schönen Vormittag, meine sehr geehrten Damen und Herren an diesem 27. Jänner 2021. Genau heute vor 76 Jahren hat die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit, und deshalb gedenkt heute an diesem internationalen Tag des Gedenkens die ganze Welt den Opfern des Holocausts.
Niemand soll vergessen und alle sollen davon erfahren, welche Gräueltaten das Naziregime vor allem in den Jahren zwischen 1938 und 1945 begangen hat. Die traditionelle Gedenkveranstaltung des österreichischen Parlaments kann coronabedingt leider nicht stattfinden, deshalb nehmen Nationalrat und Bundesrat an der digitalen Kampagne #WeRemember des World Jewish Congress und der Unesco teil.
Wir wollen heute darüber sprechen, wie wichtig es ist, dass auch die nachfolgenden Generationen erfahren, was damals passiert ist, wie man dem Antisemitismus in seiner heutigen Gestalt begegnen kann und muss, und wir werden auch persönliche Geschichten hören. Für viele ist der Holocaust sehr weit weg, sehr abstrakt, für einige meiner Mitdiskutanten ist das Thema sehr konkret und hat mitunter auch das eigene Leben mehr oder weniger massiv beeinflusst.
Ich darf ganz herzlich Mag. Wolfgang Sobotka begrüßen. Er ist nicht nur Nationalratspräsident, sondern auch Historiker und beschäftigt sich nicht zuletzt auch wegen seiner eigenen Familiengeschichte intensiv mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust.
Ich freue mich, dass MMag. Elie Rosen, Präsident der Jüdischen Gemeinde in Graz, heute hier ist. Erst kürzlich wurde er Opfer von Judenhass, im August des Vorjahres ist er vor dem jüdischen Gemeindehaus attackiert worden.
Universitätsprofessorin Dr.in Mag.a Barbara Stelzl-Marx ist Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung und Professorin für Zeitgeschichte an der Uni Graz und als solche auch österreichische Wissenschafterin des Jahres 2019. Sie forscht vor allem zu den Folgen des Zweiten Weltkriegs.
Eine wirklich außergewöhnliche Lebensgeschichte hat die Autorin Jennifer Teege. Sie hat mit 38 Jahren in einer Bibliothek durch ein Buch erfahren, dass sie die Enkeltochter von Amon Göth ist. Vor allem jenen, die den Film „Schindlers Liste“ gesehen haben, ist dieser Name wohl ein Begriff, er war SS-Hauptsturmführer und Lagerkommandant des polnischen Konzentrationslagers Plaszów. (Redaktionelle Anmerkung: Der verwendete Begriff „polnisches Konzentrationslager“ ist historisch unzutreffend. Die KZ auf dem Gebiet des während des Zweiten Weltkriegs besetzten Polen wurden vom nationalsozialistischen deutschen Regime errichtet und betrieben.) Er hat Tausende Menschen auf dem Gewissen, im Lager wurde er der Schlächter von Plaszów genannt. Jennifer Teege hat ein Buch geschrieben: „Amon: Mein Großvater hätte mich erschossen“.
Bevor wir in dieser Runde zu diskutieren beginnen, sehen wir noch einen kurzen Film über die damaligen Ereignisse und über Amon Göth.
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Es folgt eine Videoeinspielung:
Sprecher: We Remember: Unter diesem Motto steht der heurige Internationale Holocaustgedenktag. Alle Parteien im Nationalrat haben schon vergangene Woche daran erinnert.
September 1939: Die deutsche Wehrmacht überfällt Polen. Nach drei Wochen ist alles vorbei, für die Menschen ist alles anders. Die Nazis fühlen sich als Herrenmenschen und benehmen sich auch so. Die Polen sind plötzlich Bürger zweiter Klasse, und darunter sind noch die Juden. Im Zentrum Polens haben die Nazis ein Gebiet eingerichtet, das sie Generalgouvernement nennen, mit Krakau als Hauptstadt. Das Ziel ist: Die Polen vertreiben, die Juden vernichten, um Deutsche anzusiedeln. In den Straßenbahnen gibt es getrennte Eingänge für Juden und Nichtjuden.
Im März 1941 wird in Krakau ein Ghetto eingerichtet, das Stadtviertel wird abgemauert. Juden müssten mit ihrem ganzen Hab und Gut dorthin übersiedeln. Kinder übersiedeln ihre Schulklassen. Im Ghetto leben verschiedene Familien zusammengepfercht in kleinen Wohnungen, manche auch in Kellern. Es ist die ausdrückliche Maxime der Nazis, die Juden im Ghetto ihrem Schicksal zu überlassen. Manche verhungern auf den Straßen. Abertausende andere werden in Vernichtungslager deportiert – hier heimlich gemachte Aufnahmen – und dort vergast.
Neben Krakau gibt es das Lager Plaszów. Im Februar 1943 übernimmt hier der aus Wien stammende Amon Göth das Kommando, er ist ein blutrünstiger Sadist und wird der Schlächter von Plaszów genannt. Ein Überlebender ist der vor zwei Monaten im Alter von 97 Jahren verstorbene Aba Lewit. Er berichtet über eine persönliche Begegnung mit Amon Göth.
Aba Lewit: Ich hatte einmal Nachtdienst, und der Göth ruft an: Seine Toilette funktioniert nicht. Muss ich raufgehen. Ich muss ehrlich gestehen, ich habe bis dahin so eine Toilette nie gesehen. In Działoszyce, wo wir gewohnt haben, ist man rausgegangen in den Hof, wo ein Hütterl gewesen ist. Und ich stehe dabei – das müssen Sie sich vorstellen –, ich habe es zerlegt, ich habe mir jedes Detail gemerkt und habe es zusammengestellt, und es hat funktioniert. Wieso, weiß ich nicht. Das war meine erste, direkte Begegnung mit dem Göth. Und als Belohnung habe ich einen Eimer mit Futter, was die großen Hunde, die Doggen, bekommen haben, erhalten. Das waren Spezialhunde.
Der Göth in Plaszów hat auch gesagt, ihm schmeckt das Frühstück, wenn er acht, neun Juden umgelegt hat.
Sprecher: Tatsächlich hat Göth vom Balkon seiner Villa im KZ mehr als 500 Menschen mit seinem Gewehr erschossen. Göth ist verheiratet, hat aber im Lager eine Geliebte, Ruth Irene Kalder. Mit ihr hat er eine Tochter, Monika. Sie lebt in Bayern. Monika hat aus einer kurzen Affäre mit einem Nigerianer auch eine Tochter. Diese Enkelin von Amon Göth heißt Jennifer Teege und lebt in Hamburg. In einem Buch hat sie ihre Familiengeschichte verarbeitet. Amon Göth selbst wird in Polen der Prozess gemacht, er wird im September 1946 in Krakau gehängt.
Die Villa von Amon Göth steht heute noch in Plaszów. Alle anderen Gebäude des Konzentrationslagers sind geschliffen. Ein riesiges Mahnmal erinnert an das frühere KZ.
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Rebekka Salzer: Ich möchte die Diskussion gleich mit Ihnen starten, Frau Teege. Wie geht es Ihnen, wenn Sie so einen Film sehen? Ist der Mann in dem Film Ihr Großvater oder ist das eine historische Figur für Sie, der Tausende Menschen umgebracht hat?
Jennifer Teege (Autorin): Das kommt immer ein bisschen auf den Kontext an. Wenn ich so einen Beitrag sehe, dann ist das eine historische Figur. Wenn ich es innerhalb meiner Familiengeschichte und jetzt auch in Bezug zu meinen eigenen Kindern sehe, dann wird das doch greifbarer.
Rebekka Salzer: Inwiefern greifbarer?
Jennifer Teege: Dann ist diese Distanz nicht mehr so möglich. So betrachte ich ihn von außen, weil ich mich ja über viele Jahre mit ihm als Figur beschäftigt habe, auch als historische Figur, aber der Bezug, das innere Leben – was hat das mit einem selbst zu tun, wie viel ist das Teil von der eigenen Identität? –, das kommt durch, aber nicht in so öffentlichen Momenten.
Rebekka Salzer: Sie haben mit 38 Jahren 2008 davon erfahren, dass Amon Göth Ihr Großvater ist, ganz allein in einer Bibliothek. Können Sie uns diesen Moment kurz schildern?
Jennifer Teege: Das war ein Moment, der das Leben verändert hat. Man kann sagen, man hat das in ein Davor und Danach unterteilt, denn ich bin aufgewachsen ohne das Wissen über meine Familiengeschichte. Ich bin im Alter von sieben Jahren adoptiert worden, ich bin im Kinderheim aufgewachsen und hatte nur rudimentäre Kenntnisse von meiner Ursprungsfamilie und habe in einer Bibliothek, in einer sehr großen Bibliothek in Hamburg, wo ich lebe, aus dem Regal ein Buch gezogen. Das war ein Buch, das ich nicht kannte, es war ein ganz gewöhnlicher Tag, ein sonniger Sommertag im August, und ich sah ein Buch in der Bibliothek – nicht einmal im Regal stehen, sondern man sah das Buch, man sah nur den Buchrücken – und habe es herausgezogen und habe beim Durchblättern dort Fotos gesehen, Fotos von Menschen, die ich erstmals nicht kannte, und das ist eine lange Geschichte, ich beschreibe das sehr ausführlich.
Um es zusammenzufassen: Ich habe in diesem Buch für mich entdeckt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Familie Göth und meiner eigenen Geschichte gibt und dass Amon Göth mein Großvater ist, mein leiblicher Großvater.
Das war sehr irritierend deshalb, ich war damals schon fast 40 Jahre alt, so lange ohne dieses Wissen aufwachsen, dann wird die ganze Identität infrage gestellt, auch die Figur Amon Göth. Wir haben ja ein bisschen was gesehen, das ist ja eine sehr monströse Figur, auch eine sehr beängstigende Figur aufgrund der Taten, die er begangenen hat.
Viele kennen ihn ja nur als Filmfigur aus „Schindlers Liste“, es ist ein sehr bekannter Film gewesen, der heute auch noch viel in der Schule und auch für die Erziehung eingesetzt wird, aber er ist keine Filmfigur, sondern er ist eine historische Figur, ein Kriegsverbrecher, der auch hingerichtet worden ist nach dem Krieg, er ist 1946 gehängt worden, nicht unweit vom ehemaligen Konzentrationslager. Es ist so vielschichtig, bei dem, was ich schon geschildert habe, dass es nicht immer nur eine Zuordnung gibt.
Rebekka Salzer: Sie sind zwar adoptiert worden, aber haben Ihre Großmutter noch kennengelernt. Jetzt haben Sie Ihre Großmutter als liebenswerte Person kennengelernt, wir haben sie auch im Film gerade gesehen, sie war die Geliebte von Amon Göth, Ihre Mutter ist dann 1946, glaube ich, auf die Welt gekommen. Wie sehen Sie denn jetzt Ihre Großmutter, die Sie ja noch gekannt haben, die Sie ja auch sehr gemocht haben?
Jennifer Teege: Meine Mutter ist 1945 geboren, 1946 ist Amon Göth erhängt worden. Meine Großmutter kannte ich, ich habe kurz erzählt, ich bin adoptiert worden, ich bin die ersten Jahre im Kinderheim aufgewachsen und hatte meine Mutter und meine leibliche Großmutter sporadisch gesehen. Aber ich hatte die Erinnerung an sie als eine Frau, die nichts mit diesen Dingen zu tun hatte, von denen ich dann später erfahren hatte, also eine ganz gewöhnliche Frau, und es war sehr schwierig, weil es eine Art von Entzauberung war, die stattgefunden hat, nämlich diese alten Erinnerungen an eine Frau, die ich gerne mochte.
Ich hatte ja wenig Bezugspersonen, ich bin erstens im Kinderheim aufgewachsen – es ist also wirklich sehr kompliziert –, und diese guten Erinnerungen, die ich an meine Großmutter hatte, also diese zugewandte Person, die ich kennengelernt hatte, war so wenig vereinbar mit diesen Dingen, die ich dann vor mir liegen hatte, nämlich eine Frau, die an der Seite von Amon Göth über viele Jahre nicht im Konzentrationslager, sondern in der Villa, die angegrenzt war, gelebt hatte und die Augen verschlossen hatte. Und sie musste etwas gesehen haben, aber das ist eine große Frage: Wie viel wusste man? Meine Großmutter war im Lager auch gewesen, also sie hatte vor Ort Dinge sehen müssen und – und das sage ich immer, das finde ich ganz entscheidend, denn es ist eben nicht nur Theorie – sie lebte auch in der Villa und es gibt Helen Rosenzweig, das ist eine Überlebende, deren Geschichte auch in dem Film „Schindlers Liste“ vorgestellt wird, und sie muss auch im Alltag das tägliche Grauen gesehen haben.
Helen beschreibt diese unvorstellbare Angst, die sie tagtäglich empfunden hatte, denn es hätte ja täglich der letzte sein können. Es war ja so willkürlich, sie war ja dem so ausgeliefert. Und meine Großmutter hat nichts getan, sie hat eine Beziehung schon zu Helen gehabt und war jetzt nicht selbst ein Täter, der wie Amon Göth geschossen hat, aber sie war involviert, hat die Augen verschlossen, und das war für mich ganz, ganz schwierig, das zusammenzubekommen mit den Erinnerungen an die Frau, die ich als kleines Kind kannte.
Und dann – das ist aber das Letzte, was ich dazu sagen möchte – auch in der gefühlsmäßigen Auseinandersetzung diese Gefühle zu vereinbaren, auf der einen Seite die guten Erinnerungen, auf der anderen Seite plötzlich das, was man ablehnt, und das ist im größeren Kontext ja auch für viele - -, meines ist ja ein Einzelschicksal, aber das ist ja eine deutsche Geschichte, vielleicht auch eine österreichische Geschichte: Wie geht man mit der Vielfalt der Gefühle um?
Herr Sobotka, Sie werden ja gleich auf Ihre Familiengeschichte zu sprechen kommen, das ist so einfach nicht.
Rebekka Salzer: Danke schön. Das wäre genau meine nächste Frage gewesen: Herr Sobotka, auch Ihr Großvater war ein Nationalsozialist. Er war bei der SA, aber war Ihr Großvater ein strammer Nazi sozusagen, der an das geglaubt hat, oder war er ein Mitläufer?
Wolfgang Sobotka (Nationalratspräsident): Er war mit Sicherheit kein Mitläufer, er war mit Sicherheit einer - -, und das hat sich erst jetzt für mich so wirklich auch inhaltlich erschlossen. Das Buch von Frau Teege hat mich motiviert, zwei Tage jetzt wirklich Dutzende Briefe zu lesen, nicht von ihm, sondern von der Großmutter und von den Kindern. Da war auch ein Brief von ihm darunter, drei Tage vor seinem Tod am 16. November 1943, wenn man am Ende noch – weil ich auch Kurrent wieder aufgefrischt habe –, wenn man zum Schluss so quasi ein Resümee zieht und einen Brief an die Kinder schickt, die er liebt, und sagt: Ich habe versucht, euch zu ordentlichen Menschen zu erziehen, zu aufrechten, zu standhaften, die nicht glauben sollen - -, auf keine Menschen hereinfallen sollen. Aber dann schließt er damit: Haltet am Führer fest, an seinen Ideen, steht zum deutschen Volk und seid euch bewusst, dass ihr Deutsche seid! – Als Urösterreicher seine eigene Identität wegverleugnet hat oder gar nicht gespürt hat in diesem Sinne – und natürlich war er durchaus auch gebildet –, wo ich mich immer frage: Wie kommt man zu dem? Er war natürlich ein - - Ich habe ein Foto auch gefunden in dieser Zeit, wo er im Eingang zu Waidhofen voranschreitet und hinter ihm die SA in diesen braunen Uniformen.
Das macht natürlich was mit einem, und er ist nicht einer gewesen, dem das als Zufall passiert ist oder weil er arbeitslos gewesen ist oder aus persönlichem Schicksal. Er war in den Gedanken wirklich ein Nationalsozialist – für mich immer unvorstellbar. Er ist mir auch immer geschildert worden als ethisch oder moralisch hochstehende Person, der sehr korrekt gewesen sein muss. Es ist ja auch dieses Ambivalente, diese Ordnungssucht auf der einen Seite, diese ungeheure Präzision, und auf der anderen Seite die vollkommene Irrleitung in den Gedanken, was letzten Endes für Millionen Menschen zur Katastrophe und zum Tod geführt hat; sicherlich nicht als einer der Täter im Sinne - - – ich habe keine Kunde, dass er jemandem physische Gewalt angetan hat –, aber ich bin sicher, dass ich jetzt auch motiviert bin, diese Familiengeschichte noch intensiver aufzuarbeiten, weil es einfach auch für mich notwendig ist.
Ich bin mit 14 Jahren als Nazibua tituliert worden, das hat mich in meinem Studium beschäftigt, darum habe ich auch Geschichte unter anderem studiert und mich mit dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus auseinandergesetzt, denn ich hätte auch so gern jemanden in der Familie gehabt, der diese Fackel hochgehalten hätte – war nicht so.
Rebekka Salzer: Frau Stelzl-Marx, Sie recherchieren viel auch über die Menschen, die im Zweiten Weltkrieg gelebt haben, auch über Nazis als Opfer und Täter, jetzt hören wir aber eigentlich mehr über die Nachkommen der Opfer und weniger über die Nachkommen der Täter. Warum eigentlich?
Barbara Stelzl-Marx (Zeithistorikerin, Universität Graz): Ich glaube, in Österreich hängt das ganz stark mit der Opferdoktrin zusammen, die auf die Moskauer Deklaration von 1943 zurückgeht, wo die Alliierten gesagt haben, Österreich ist das erste Opfer des Anschlusses, aber in der Moskauer Deklaration steht auch drinnen, Österreich trägt Mitschuld und muss einen Beitrag leisten bei seiner Befreiung. Im Laufe der Nachkriegszeit, also ab 1948, nach dieser ersten Phase der Entnazifizierung, auch als die großen Prozesse dann stattgefunden haben, hat eine Amnestie stattgefunden und es ist diese Opferdoktrin immer mehr in den Vordergrund gerückt, sodass 1955 im letzten Moment dieser Passus der Mitschuld auch aus dem Staatsvertrag herausgenommen wurde. Dann, in den folgenden Jahrzehnten hat sich das so etabliert: Österreich als erstes Opfer, und das war etwas, was natürlich auch für die Menschen selbst eine Erleichterung war.
Es ist leichter zu sagen, ich bin ein Opfer, als ich bin ein Täter oder ich komme aus einer Täterfamilie. Das große Umdenken hat dann 1986 mit der Waldheim-Affäre stattgefunden, und heute ist es breiter, gesellschaftlicher Konsens: Österreich war das erste Opfer, aber Österreich hat auch Mitschuld und wir haben die gesamte Bandbreite an Opfern, Tätern und natürlich auch den Mitläufern.
Rebekka Salzer: Das heißt, die Waldheim-Affäre hat im Prinzip auch die Forschung in diese Richtung beflügelt.
Barbara Stelzl-Marx: Das war auf jeden Fall ein Wendepunkt in Österreich. In Deutschland war das ja etwas anders, auch vor diesem Hintergrund der Opferdoktrin. Von da weg hat sich die Forschung auch auf die vielen negativen Aspekte des Nationalsozialismus konzentriert. Es ist ja dann auch viel passiert: die Zwangsarbeiterentschädigung, die Gründung des Nationalfonds für die Opfer des Holocaust und, und, und.
Das heißt, in der Forschung werden jetzt diese unterschiedlichsten Facetten des Nationalsozialismus beleuchtet, und gerade auch die Tätergeschichte spielt jetzt eine Rolle – etwas, was in die Familien hineinspielt, weil in Österreich und in Deutschland die Geschichte des Nationalsozialismus, die Geschichte des Holocaust, des Zweiten Weltkriegs eine Familiengeschichte ist.
Rebekka Salzer: Herr Rosen, Sie sind Präsident der Jüdischen Gemeinde in Graz, Sie beschäftigen sich sehr, sehr viel mit dem Judentum, auch mit dem Holocaust. Wie soll denn die zweite, dritte, vierte Generation damit umgehen, wenn der Großvater ein Täter war, ein Nationalsozialist war?
Elie Rosen (Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz): Grundsätzlich ist einmal festzustellen, dass wir nach dem Zweiten Weltkrieg immer die Problematik festzustellen hatten, dass ein großer Widerstand war, von einer historischen Schuld zu sprechen, die Deutsche oder Österreicher zu tragen hatten. Ich glaube, dass es gar nicht um eine Schuld oder Unschuld geht. Diese Frage so zu bezeichnen oder das so zu benennen wäre grundlegend einmal falsch, dass die zweite oder dritte Generation eine Schuld an den Taten ihrer Großeltern oder Urgroßeltern trägt. Ich glaube, darüber braucht man nicht reden, dass dem nicht so ist.
Ich glaube aber, wer sich mit dem Holocaust oder im Bewusstsein mit der Geschichte des Holocaust auseinandersetzt, der trägt jedenfalls Verantwortung, und genau um diese Verantwortung geht es, Verantwortung für Reflexion mit dem Geschehenen, weil wir nur durch eine derartige Reflexion nicht Gefahr laufen, dass sich Geschichte wiederholt in einer, wenn auch mutierenden Form, und sie wiederholt sich bereits, sie wiederholt sich, weil wir erzogen wurden zum Schweigen, weil wir erzogen wurden zum Nichtreflektieren. Ich gehe so weit zu sagen, dass uns die Tradition des Schweigens nach dem Zweiten Weltkrieg anerzogen wurde. Das heißt, es geht darum, dieses Schweigen zu durchbrechen.
Ich habe mir ein Zitat vom Richard von Weizsäcker, der ja am 8. Mai 1985 eine historische Rede anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes gehalten hat, ausgesucht. Weizsäcker sagt: „Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsverfahren.“ – Ich glaube, er hat da sehr recht. Wenn wir heute auf die Entwicklungen in Europa unser Augenmerk richten, dann sehen wir, dass wir sehr gut unterwegs sind, dass sich diese Geschichte wiederholt.
Rebekka Salzer: Auf das Thema möchte ich danach noch kommen. Vielleicht noch vorab zum Thema Schuld und Verantwortung: Frau Teege, Sie sind die dritte Generation. Was hat denn das Verhalten Ihres Großvaters mit Ihnen zu tun? Fühlen Sie sich irgendwie mitverantwortlich oder haben Sie auch vielleicht einmal mitunter Angst gehabt, dass Sie Ähnlichkeiten mit Ihrem Großvater haben?
Jennifer Teege: Ja, die Auseinandersetzung, die dauert ja schon ziemlich lange. Anfangs war auch dieses Element der Angst: Was steckt von ihm in mir? Das ist mittlerweile verloren gegangen, denn es wäre ja fatal, das zu wiederholen. Es waren damals sehr irrationale Zeiten, mit irrationalen Gedanken, denn wäre das so, dass etwas von ihm, also charakterlich, in mir stecken würde, dann würde das ja die Naziideologie unterstreichen, und das wollen wir ja nicht.
Ich glaube, dass die Auseinandersetzung wichtig ist. Ich möchte einmal kurz darauf eingehen, was Sie, Herr Rosen, gesagt haben, weil ich fand diesen Begriff mutierend so schön; mutierend deshalb, weil es ist ja heute in einem anderen Gewand. Wir haben zwar ähnliche Probleme, aber in einer anderen Darstellungsweise. Deshalb kann man auch sagen, dass der Antisemitismus fast so etwas wie ein Virus ist. Das ist ein Virus, der nach Europe geschwappt ist, der eigentlich in die ganze Welt geschwappt ist, und es ist nicht nur der Virus des Antisemitismus, sondern es ist auch der Virus des Faschismus oder des Beginns oder der Anfänge des Faschismus.
Rebekka Salzer: Sie wollten etwas dazu sagen?
Wolfgang Sobotka: Um zu diesem Opfermythos zu kommen: Es hat nicht nur seit 1986 begonnen, ich habe das schon als Student in den Demonstrationen gegen das faschistische Spanien erlebt. Ich habe schon erlebt, dass es einen massiven Diskurs in den Siebzigerjahren gegeben hat, auf der zivilgesellschaftlichen Ebene. Und erinnern wir uns an den Ungarnstreit zwischen Kreisky und Wiesenthal, wo Wiesenthal gemahnt hat und klar eingefordert hat: Wir sind Täter!, und das ist beiseitegeschoben worden. Es war so ein politisches Konsensdenken der beiden großen Parteien, das nicht anzurühren. Das begann natürlich 1945 und hat sich bis in die Siebzigerjahre, wo es erodiert ist - - Wirklich deutlich vorher – auch durch den Fall Borodajkewycz und viele andere Momente – ist das schon aufgebrochen und ist dann natürlich bis zu den Erklärungen Vranitzkys und bis zum Washingtoner Abkommen durch Schüssel auch von der offiziellen politischen Seite in eine andere Richtung gekommen.
Der Antisemitismus aber, ich glaube, das ist nicht ein damals aufkommendes Phänomen gewesen, und das muss uns gerade in Mitteleuropa so bewusst sein und das macht es auch in Europa nicht leichter: eine jahrhundertelange antikulturelle Haltung, der Jude als das Böse schlechthin. Das hat die Forscherin Schwarz-Friesel wirklich sehr, sehr deutlich herausgearbeitet in ihrem Buch über Hass im Internet gegenüber den Juden oder Antisemitismus im Internet. Dieser Antisemitismus kommt aus der Mitte der Gesellschaft, er kommt nicht von den Rändern, dort wird er sichtbar, er ist in der Mitte der Ränder, und das durch Jahrhunderte. Er wird epigenetisch damals sehr stark durch die katholische Kirche und auch durch die protestantische Kirche vorangetrieben und geht dann in die nationalen Strömungen im 19. Jahrhundert, geht dann dort auch in die christlich-soziale Bewegung, und Sie finden ihn natürlich auch in den sozialdemokratischen Strukturen, auch bei Renner haben wir diese Phänomene. Das heißt, sie durchdringen dann alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche.
Und dieses Gift ist zutiefst antidemokratisch, dieses Gift hat zutiefst unsere Haltung in diesen letzten Jahren und auch heute noch beeinflusst, und das ist das, wo ich Rosen recht gebe: Dieses Schweigen dazu darf nicht überhandnehmen, sondern es muss der klare Blick auf das sein, dass wir das nachhaltig bekämpfen, und zu dem bekennt sich das österreichische Parlament. Darum machen wir die Studien, darum wollen wir daran in der Demokratiewerkstätte arbeiten – das Mindset zu ändern. Das ist, glaube ich, unsere Aufgabe.
Rebekka Salzer: Herr Rosen, Sie waren mit diesem Gift konfrontiert, erst kürzlich im August. Die Synagoge in Graz wurde beschmiert, die Fenster wurden eingeschlagen, Sie wurden attackiert. Das Ganze hatte eben einen antisemitischen Hintergrund. Welchen Schaden, nämlich nicht nur materiell, sondern auch immateriell, hat denn das angerichtet?
Elie Rosen: Ich würde gerne ganz kurz noch auf den Herrn Präsidenten und Frau Stelzl-Marx replizieren. Ich kann aus eigener Erfahrung auch sagen, dass mit der Causa Waldheim sehr, sehr stark die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit eine Wende erfahren hat. Wenn man sich jetzt auch die zeitgeschichtlichen Publikationen zu den Geschichten der jüdischen Gemeinden anschaut, dann wird man potzblitz feststellen, dass die Publikationsdichte in der Zeit danach deutlich höher ist als in der Zeit davor, und nicht von ungefähr.
Auch die Bereitschaft - - Oder was jetzt die legislative Entschädigung der Opfer des Nationalsozialismus anbelangt, hat die deutlich höher in der Zeit eingesetzt, wo teilweise die Skartierungen der Rückstellungsakten schon im Gange waren – unter Schwarz-Blau, das muss man auch sagen, hat das begonnen oder ist das eingeleitet worden. Da braucht man sich gar nichts schönreden, da sind die Schritte gesetzt worden, nicht davor. Hier hat es begonnen. Das heißt, das muss man deutlich sehen, dass da ein zeitlicher Abstand war, und ich glaube, dass hier auch der Generationenwechsel und immer mehr der Generationenwechsel es leichter macht, diese Auseinandersetzung auch einzuleiten. Das möchte ich schon hervorkehren.
Das Dritte ist, wenn jetzt vom Antisemitismus die Rede ist: Ich höre immer vom Wiederaufkeimen des Antisemitismus. Der Antisemitismus war nie weg und keimt auf, er wird wieder offener.
Kreisky ist angesprochen worden: Kreisky hat zwar einerseits gegen den Antisemitismus gesprochen, auf der anderen Seite war gerade Kreisky jemand, der den Antisemitismus kräftig bedient hat. Wenn man sich die Affäre Peter anschaut oder die Wiesenthal-Auseinandersetzung anschaut, war Kreisky einer, der um nichts nachgestanden ist, genau die Klischees zu bedienen, die den Antisemitismus kräftig in die Höhe gebracht haben oder mit diesen Ressentiments gearbeitet haben.
Was jetzt meine persönlichen Erfahrungen anbelangt, so haben die nicht mit den Geschehnissen in Graz begonnen, die habe ich schon als Schüler erfahren. Wir haben uns ja im Vorfeld zu dieser Sendung unterhalten. Ich kann mich an ein für mich sehr einschneidendes Erlebnis im Gymnasium erinnern, das war rund um die Ära Waldheim. Ich hatte einen Mittelschulprofessor in Deutsch, einen römisch-katholischen Kleriker, der also coram publico in der Klasse erklärt hat – auf meine Person gerichtet –: Ja, ihr sult euch ja in der Opferrolle!
Solche Bemerkungen von den Professoren waren an der Tagesordnung. Sie müssen sich vorstellen, das ist für einen Schüler zwischen 13 und 15 Jahren nicht gerade etwas sehr Angenehmes, vor der Klasse eine Bloßstellung, eine Verletzung, eine emotionale Verletzung, und das nicht nur einmal. Das blieb ohne jegliche Konsequenz, was letztendlich auch zu einem Schulwechsel geführt hat.
Wolfgang Sobotka: Aber das zeigt ja: Er ist in der Mitte gewesen, er ist immer da gewesen, und – wie an den Rändern – macht er sich manifest. Dagegen aufzustehen, gegen diesen schleichenden Antisemitismus, der immer da ist, da bin ich ganz Ihrer Meinung, das ist unsere heutige Aufgabe.
Rebekka Salzer: Frau Stelzl-Marx, wo sich ja jetzt auch der Antisemitismus manifestiert hat, zum Beispiel bei diesen ganzen Coronademonstrationen – das treibt ja wirklich absurde, skurrile Blüten. Wir haben auch im Vorgespräch gesagt, wenn sich da zum Beispiel eine Elfjährige mit Anne Frank vergleicht, weil sie sagt, sie ist auch eingesperrt wie damals: Wie kommt man auf so eine Idee? Warum machen die Menschen das? Ist das eine Heischerei nach Aufmerksamkeit, weil man weiß, die Medien berichten darüber, weil es so arg ist, oder warum macht man das?
Barbara Stelzl-Marx: Ich als Zeithistorikerin beobachte jetzt mit großem Interesse, was sich da jetzt gerade so abspielt, und man bemerkt wirklich so eine Inflation von Vergleichen zum Holocaust. Dieses Mädchen, das sagt: Ich bin Jana aus Kassel und ich bin Sophie Scholl, weil sie im Widerstand gegen die Coronamaßnahmen ist, oder ein anderes Mädchen, das aufgrund der Quarantäne sagt, sie ist praktisch Anne Frank, oder auch Arnold Schwarzenegger, der jetzt im Zusammenhang mit dem Sturm aufs Kapitol da den Vergleich zur Reichskristallnacht verwendet hat.
Das heißt, da ist eine gewisse Inflation da. Ich glaube, das hängt damit zusammen, dass die Menschen wissen, dass mit diesen Vergleichen oder auch Gleichsetzungen auf der einen Seite große Aufmerksamkeit da ist – das ist allgemein bekannt, diese Themen. Es ist zum Teil auch eine Provokation. Die wollen in diesen Fällen wahrscheinlich gar nicht eine Relativierung durchführen, aber: Was macht es mit uns? Was machen diese Bilder, wo man bei den Anticoronademonstrationen Menschen mit dem gelben Judenstern sieht oder wo es so Slogans gibt wie: Impfen macht frei?
Ich denke schon, dass man da ganz aufpassen muss und ganz sensibel auch vorgehen muss, weil das zu einer Relativierung des Holocaust führt. Dazu kommt, dass auch jetzt bei diesen Demonstrationen, die stattfinden und die wahrscheinlich noch immer stärker werden, rechte Gruppierungen sich da immer mehr hineinmischen, die antisemitisch sind und wo dann auch der Antisemitismus - - Ich habe das jetzt am Montag mit meinen Seminaristen auf der Uni Graz diskutiert, wie die das sehen, denn die sind viel mehr auf Facebook und so weiter als ich, und die sagen, es ist unglaublich, wie viel Antisemitismus da jetzt in diesen neuen Medien drinnen ist. Und die große Gefahr ist, dass das auch von der digitalen Welt zunehmend in die analoge Welt überschwappt, und deswegen ist dieses Maßnahmenpaket, das jetzt geschnürt worden ist, wo es nicht eine herausragende Maßnahme gibt, sondern eine Fülle von Maßnahmen, wo Bildung dazugehört, wo Integration dazugehört und so weiter, extrem wichtig.
Rebekka Salzer: Dieses Maßnahmenpaket, das da von der Regierung vor zwei Tagen geschnürt wurde, Herr Rosen, reicht Ihnen das? Ist das genug?
Elie Rosen: Ich glaube, es ist ein historisches Paket, das muss man anerkennen. Keine Bundesregierung nach 1945 hat ein Maßnahmenpaket gegen den Antisemitismus geschnürt. Das kann man nicht hoch genug anerkennen. Ganz im Gegenteil: Der Antisemitismus wurde immer verneint. Ich glaube, jetzt schon zu beginnen, zu sagen: Ist das genug? Zu wenig? - - Es ist jedenfalls ein begrüßenswerter Anfang.
Mir ist jetzt daran, zu sagen, da möchte ich replizieren und dafür bin ich mittlerweile bekannt und werde oft schon als türkisnahe angeschmiert: Antisemitismus ist, und ich glaube, das kommt da auch raus aus dem Bericht, keine Frage von rechts. Antisemitismus ist heute eine Frage von rechts und links, der hat kein Mascherl. In meiner täglichen Arbeit ist der linke Antisemitismus heute – und da komme ich auf die Anschläge von Graz zu sprechen – der deutlich dominantere, vor allem der israelbezogene Antisemitismus. Der Antisemitismus sucht sich heute mutierte Formen, kaschierende Formen, mit denen haben wir es im Alltag mehr zu tun, und das sind auch, glaube ich, wenn man jetzt mit den einschlägigen Stellen des Verfassungsschutzes spricht, auch die weitaus größeren Gefahren.
Wir haben die Objektschutze vor den jüdischen Einrichtungen in der Regel nicht, weil wir Angst haben vor den Anschlägen rechter Gruppierungen oder vor Neonazis in der Regel. Da haben wir jetzt in den letzten Jahrzehnten keine eindrucksvollen Bedrohungsszenarien gehabt, weil es neue Formen des Antisemitismus oder des Terrorismus gibt, und das möchte ich schon unterstreichen, weil das ist jetzt wieder bei den Verschwörungstheorien immer so, dass man glaubt, es kommt nur von rechts. Ganz im Gegenteil: Das kommt auch sehr stark von links, wenn man von diesen traditionellen Klischees sprechen soll.
Sie haben mich gefragt, ob das Programm reicht. Ich glaube, das Programm ist ein ganz wichtiger und wesentlicher Schritt. Ich glaube, es ist auch wichtig, dass die Bundesregierung eine Beauftragte für Antisemitismus bestellt hat. Ich glaube, dass Karoline Edtstadler da jemand ist, die das nicht nur engagiert, sondern – und das ist mir persönlich sehr wichtig – auch emotional mit großer Hingabe macht. Ich glaube, vonseiten der jüdischen Gemeinden, auf jeden Fall jener von Graz, kann ich nicht genug danken, dass die Bundesregierung sich dieser Herausforderung stellt.
Rebekka Salzer: Frau Teege, Sie sind in Deutschland geboren, aufgewachsen. Finden Sie, dass in Deutschland politisch genug passiert, um dem Antisemitismus Einhalt zu gebieten, dass da genug gemacht wird?
Jennifer Teege: Nein.
Rebekka Salzer: Das ist eindeutig! Warum nicht?
Jennifer Teege: Es waren so viele Themen. Ich versuche, es einmal zu sortieren. Ich beginne mit einer kleinen Anekdote. Ich habe gestern, vorgestern mit einer Holocaustüberlebenden gesprochen, Rena heißt sie. Sie ist 94 Jahre alt – sie wird jetzt in zwei Tagen 94 Jahre alt –, hat aber den Kopf einer 49-Jährigen und wir haben genau diese Themen diskutiert.
Was ich sage, ist vielleicht auch ein Sprachrohr der anderen Generation, aber auch der jüngeren Generation, denn ich bin so in der Mitte, ich sehe mich als Brücke, und vieles von dem, was Rena mit ihren 94 Jahren sagt, sagt auch die Generation meiner Kinder. Die Kinder sind jetzt nicht mehr fünf oder sechs Jahre, wie in dem Buch, wie ich das beschreibe, sondern es ist die heranwachsende Generation, die jetzt studiert und die später übrigens wahrscheinlich auch die Lasten der Coronakrise tragen wird, eine Generation die ernst zu nehmen ist.
Ich glaube, dass wir sehr viel getan haben, und wir haben sehr viel Gutes getan. Die Erinnerungskultur ist so wichtig, gerade an einem Tag wie heute. Ich meine, ich sitze jetzt hier als Vertreterin der Tätergeneration, auch deshalb, weil die Opfergeneration ja bald nicht mehr da sein wird, und es ist so wichtig, diese Geschichten über einen persönlichen Bezug zu transportieren. Wir haben ein Problem, wir haben die Erinnerungskultur, die ist wichtig, um auch den Opfern Gehör zu geben, und auch diesen Respekt, den wir ihnen zeugen sollen und wollen. Das ist der eine Aspekt. Das andere, was wir gemacht haben, das ist auch essenziell gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg, ist die Aufarbeitung: Fakten schaffen, dass man nicht leugnen kann, dass das da ist, und da haben wir ganz vieles, Großes geleistet.
Aber wieder zu dem Begriff, den Sie hatten, mit der Mutation: Wir leben in anderen Zeiten, wir leben in ganz anderen Zeiten. Zurückblickend jetzt in den letzten Jahren: Wir hatten eine Finanzkrise, dann hatten wir die Flüchtlingskrisen, eine Identitätskrise. Jetzt haben wir Covid. Also es geht unglaublich schnell, und was ich glaube, ist, dass die alten Werkzeuge und die alten Sichtweisen, die wir hatten, nicht mehr ausreichend sind.
Sie sprachen vom Netz, dem Hass im Netz. Heutzutage spielt sich ganz viel da ab, und wenn wir über Antisemitismus reden, dann reicht es nicht aus, den Antisemitismus als Einzelphänomen anzusehen – sondern im gesamten Kontext, auch im globalen Kontext.
Um jetzt zurückzukommen auf Rena, die ich ja vertrete heute auch als Sprachrohr, also meine - - Sie ist übrigens auch auf der Schindler-Liste gewesen, ganz interessant, hat eine Geschichte, wen es interessiert, der kann es sich anschauen, auch in Bezug auf meinen biologischen Großvater; faszinierend die Geschichte, aber die würde zu weit führen.
Ich glaube, es ist wichtig, das, was wir haben, zu behalten und es aber weiterzuführen, es jetzt in die Gegenwart zu bringen, die so verändert ist.
Sie haben gesagt, das Paket, das geschnürt wurde, das wir ja auch haben: Das brauchen wir. Wir brauchen Bildung, wir brauchen Bildung in der Schule, wir brauchen all diese Elemente. Aber viel von dem Hass spielt sich zum Beispiel im Netz ab. Das reicht dann nicht aus, ein neues, vielleicht Curriculum zu entwickeln, sondern man muss mit dem, was jetzt passiert, damit muss man umgehen.
Ich höre gleich auf, ich weiß, ich habe sehr viel Redezeit, aber es ist mir so wichtig, weil ich sprach jetzt über Rena als die Generation der Opfer, die ich hier auch vertrete, indem was ich sage, als Sprachrohr, ihre Gedanken. Aber die jüngere Generation, die hat auch deshalb ein Problem, weil: Schauen Sie in die Welt, schauen Sie, wie sich die Welt verändert hat! Wir sprachen über Rechtsstaatlichkeit oder auch über die Menschlichkeit, das sind Begriffe, und im gesamten Kontext kucke ich mich um, ich schlage die Zeitung auf und Sie sehen – ich möchte keine Dystopie hier an die Wand malen, ich glaube an Utopien, ich glaube, dass man was verändern kann – - -, aber das ist eine Zeit der Ungewissheit und nichts passt zusammen. Auf der einen Seite ist das, was wir wollen, auf der anderen Seite ist das, was salonfähig geworden ist. Wir brauchen da neue Werkzeuge, und die alten sind da, aber die reichen nicht aus.
Rebekka Salzer: Sie wollten etwas sagen, Herr Rosen.
Elie Rosen: Ja, Frau Teege hat das auch angesprochen, dass wir es jetzt, glaube ich, ungleich schwerer haben, weil die neuen Medien einfach, ich sage einmal, Hasstendenzen oder Ideologien Wege eröffnen, die in dieser Art und Weise früher nicht gegeben waren. Mit einem Knopfdruck, wenn Sie wollen, erreichen Sie Menschen, die Sie früher mit Tausenden oder Millionen Flugblättern nicht erreichen konnten. Ich glaube, dass das sehr schwierig ist, dem beizukommen, weil die Technik den staatlichen Maßnahmen, die wir entwickeln können oder den legistischen Maßnahmen, die wir ergreifen können, immer einen Schritt voraus sind, und darin liegt eine große Herausforderung, dem gerecht zu werden. Da müssen wir viel investieren, das sind wirklich Gefahren für demokratische Systeme.
Jennifer Teege: Es ist nicht nur die Technik, sondern es sind vor allem die Inhalte, also was salonfähig ist, zu sagen, und auf was für eine Art und Weise sich die Rhetorik verändert hat.
Elie Rosen: Ja, ja, die werden transportiert, genau, ja. Vielfach traut man es sich zu sagen, im Bewusstsein, dass dem nicht beizukommen ist. Ich merke das im Alltag, Sie kennen das sicher auch, Herr Präsident, was für Schmähbriefe oder Lügen und Beschimpfungen im Netz verbreitet werden können, und ich kann dem nicht rechtlich beikommen, weil sich hinter irgendwelchen E-Mail-Adressen Leute verbergen, deren Identitäten ich nicht kriege oder die - -
Rebekka Salzer: Es müsste dann schärfere Gesetze geben?
Jennifer Teege: Ich muss hier noch einmal einhaken als Sprachrohr. Es geht nicht nur um den Inhalt, es geht auch um die Glaubwürdigkeit und es geht auch darum, dass solche Sachen überhaupt wieder gesagt werden dürfen oder man das Gefühl hat, man darf das auch im Netz sagen, weil es auch andere Personen in Positionen, zum Beispiel, bei denen sie glauben, man wird es nicht öffentlich sagen - - Das ist das politische Klima, in dem wir leben.
Elie Rosen: Da glaube ich nicht mehr an das Gute im Menschen, Frau Teege. Ich muss ehrlich sagen, da bin ich mit 50 des Besseren belehrt, dass ich Menschen bekehre, sich auf das Wahre und Gute einspielen zu lassen.
Rebekka Salzer: Frau Stelzl-Marx wollte etwas sagen.
Barbara Stelzl-Marx: Genau, ich wollte darauf replizieren: Gewalt beginnt mit Worten, und wenn man denkt, Mauthausen ist ja auch nicht aus heiterem Himmel passiert, sondern war das Resultat von einer langen Entwicklung. Am Anfang war das Schweigen, über das wir schon gesprochen haben, das Wegschauen, und dann im Nationalsozialismus – und das sieht man auch aus dem Brief von Ihrem Vater, Herr Präsident –, diese ganz - -
Wolfgang Sobotka: Großvater.
Barbara Stelzl-Marx: Großvater, Entschuldigung!
Wolfgang Sobotka: Das ist ein großer Unterschied. (Heiterkeit.)
Rebekka Salzer: Ihr Vater war ja ein Antifaschist, glaube ich?
Wolfgang Sobotka: Er war ein glühender Antifaschist, der schwerst kriegsverwundet war und natürlich auch mit seiner eigenen Geschichte eine ungeheure Last zu tragen hatte. Da muss man differenzieren.
Barbara Stelzl-Marx: Aber da sieht man so diese Rolle der Propaganda im Nationalsozialismus, die Indoktrinierung. Das Ziel war, von der Wiege bis zur Bahre die Menschen von dieser Ideologie, von der Idee der Volksgemeinschaft, wir und die anderen - - Das ist etwas, was man auch auf das Heute übertragen kann, diese Ausgrenzung von denen, die nicht dazugehört haben, und die Überhöhung von denen, die den Ansprüchen entsprochen haben.
Rebekka Salzer: Aber warum funktioniert das?
Barbara Stelzl-Marx: Warum das funktioniert? Ich glaube, gerade in Extremsituationen – auch wir sind jetzt in einer Extremsituation – ist es einfacher, ein Feindbild zu haben, und Feindbilder führen dazu, dass man die eigene Gruppe abgrenzt. Das ist diese lange Tradition, da sind wir dann auch wieder beim Antisemitismus, dieser Funktion Scapegoat: Also wenn ich jemanden habe, den ich verantwortlich machen kann, für das, was jetzt passiert, ist das schon etwas, womit man die Menschen um sich scharren kann, und das sind so ganz alte populistische Maßnahmen.
Was ich sagen wollte: Diese lange Tradition auch bei Mauthausen, wenn man das sagt, so als Endpunkt, wie die Propaganda dazu geführt hat, dass die Menschen dann davon überzeugt waren – und was hat Täter aus ihnen gemacht? Was veranlasst einen Menschen, der ein liebevoller Familienvater ist – ich habe da auch beim Lager Liebenau so ein Beispiel, also Holocaust vor der Haustür –, der liebevolle Familienvater, der Gedichte schreibt, Briefe schreibt, Zeichnungen macht für die Kinder, und der dann den Auftrag gibt, so wie in dem Fall, die ungarischen Juden, die in Graz im April 1945 waren, zu erschießen – so diese zwei Seiten in einem Menschen. Was bringt Menschen dazu, andere unschuldige Menschen massenhaft umzubringen? Das ist eine Frage, die man sich auch heute immer stellen muss.
Wolfgang Sobotka: Da hat Jörg Baberowski in seinen Analysen, glaube ich, eine treffende gemacht. Er sagt, wenn die Rechtsstaatlichkeit und die rechtstaatliche Ordnung nicht mehr gelten oder keine Sanktionen für ethisch-moralisches Verhalten mehr verhängt wird, dann wird diese Gewalt – und diese Gewalt verhindert diese rechtstaatliche Durchsetzung – zu einer Selbstverständlichkeit. Wenn sie keine Sanktionen mehr hat außerhalb dieser Ordnung, dann ist das fast eine Alltäglichkeit. Wir fragen uns ja immer: Wie kann das in einem Konzentrationslager passieren? Es ist ja für einen ethisch-moralischen Anspruch, den wir alle setzen, unvorstellbar. Das Milgram-Experiment hat gezeigt, dass Menschen so manipulierbar sind und in solche Situationen versetzt werden können.
Ich möchte aber noch eines dazu sagen: Wir diskutieren ja, glaube ich, alle auf einem wichtigen Feld: Wie gehen wir heute mit dem um, wo sind heute die großen Herausforderungen, und wir benennen sie aus unseren unterschiedlichen Erfahrungswelten. Ich glaube, dass wir uns in der Analyse klar sind, dass der Antisemitismus nicht in den 1930er-Jahren aufgetaucht ist, sondern dass das ein leider für uns durch Jahrhunderte geprägtes Denken war. Und das ist, wie sie sagen: Jemand anderer ist schuld. Es musste immer jemand anderes sein, es ist eine Schuldreflektion in die andere Richtung.
Das Zweite ist, dass diese negative Kulturhaltung heute durch das Internet, wo man sich anonym zurückziehen kann, wieder eine ungeheure Verbreitung findet. Wir haben jetzt ein Gesetz im Parlament beschlossen, Hass im Internet zu bekämpfen und auch zu bestrafen, aber das ist nur ein einzelner Teil. Ich habe das seit Langem gefordert. Wir brauchen in diesen Plattformen, wenn sie eine gewisse Reichweite haben, ein Redaktionsprinzip. Das wird natürlich immer mit dem Totschlagargument bekämpft: Dann ist die Meinungsfreiheit in Gefahr.
Dann setze ich dem entgegen: Ist die Meinungsfreiheit, die heute Google und Twitter ausüben, dass sie einmal den Account von Trump aufgemacht haben und dann gesperrt haben - - Sind die durch keine Rechtstaatlichkeit legitimiert? Sind die, die unsere Meinungsfreiheit jetzt beschränken, das Maß der moralischen Wertfeststellung? Da glaube ich schon sehr klar, dass es staatliche und suprastaatliche Organisationen braucht, die dort in Rahmen setzen: Das Internet ist für uns die größte Gefahr. Das ist die größte Gefahr, nämlich für die Demokratie als solches, in seiner Struktur, weil wir keine Instrumente haben, dieser Verbreitung in irgendeiner Form etwas entgegenzusetzen. Sie können es gesetzlich nicht verfolgen, sie können es in der Bildung schwer erreichen. Wir können sie nur dort erreichen, wo diese Gruppen sitzen.
Wir gehen als österreichisches Parlament in die Schulen, als Demokratiewerkstätte, um dort zu zeigen, wie Gesetze entstehen, auch einen eigenen Zweig, um den Ursprung und die Auswirkungen des Antisemitismus in Österreich bis zum heutigen Tag zu erklären. Aber das ist eine bestimmte Gruppe im Internet, ich erreiche die so schwer, erst dann, wenn sie analog werden.
Daher ist natürlich die Frage: Integration. Wir haben heute – in den Studien zeigt es sich – einen Antisemitismus von rechts, von links und wir haben einen, der durch Migration gekommen ist. Das ist Faktum, weil die Leute – und das zeigt ja auch die Anti-Defamation-League – - - Die Einstellung, die antisemitische, in Syrien, in der Türkei ist eine wesentlich höhere, als sie natürlich bei uns ist, und auch bei uns ist sie schon hoch.
Und das jetzt hereinzubekommen hat einen doppelten Aufwand. Es letzten Endes zu bekämpfen geht nur mit Integration, mit Bildung und mit Kommunikation. Ich habe noch kein anderes Werkzeug gefunden, um da wirklich wirksam aufzutreten, denn unsere Studie hat auch gezeigt: Junge Menschen, die gebildet sind, die das wissen, sind weniger antisemitisch. Und das gibt mir die Hoffnung, um mit Rosen zu sprechen, doch schlussendlich an das Gute im Menschen zu glauben. (Heiterkeit.)
Rebekka Salzer: Damit möchte ich zum nächsten Thema kommen, nämlich zur Erinnerungskultur, die ja ganz, ganz wichtig ist. Wie werden sich die kommenden Generationen an den Holocaust, an die Opfer, auch an die Täter erinnern?
Frau Stelzl-Marx, wir haben jetzt noch Zeitzeugen, die werden nach und nach verstummen. Wie will man denn künftig diese Erinnerung wachhalten, auch die Empathie für diese Menschen?
Barbara Stelzl-Marx: Ja, wir haben die Situation, wo es noch die Möglichkeit gibt, mit Zeitzeugen zu sprechen. Zeitzeugen sind natürlich durch nichts zu ersetzen. Wenn die Zeitzeugen weg sind, dieses persönliche Gespräch, die individuelle Geschichte, so wie Sie auch gesagt haben: Das ist durch nichts zu ersetzen.
Deswegen finde ich es ganz wichtig, dass jetzt möglichst viele Interviews noch durchgeführt werden, damit das archiviert wird, denn diese Quelle ist mit dem Sterben, mit dem Tod dieser Menschen, dann weg, die ist unwiederbringlich verloren. Das finde ich ganz wichtig. Ich sage das auch meinen Studierenden: Fragt nach zu Hause, redet mit euren Großeltern oder Urgroßeltern, um die Familiengeschichten auch zu erfahren! Jetzt besteht die Möglichkeit noch.
Das Zweite ist, dass es sehr viele schon geführte Interviews gibt, die sind aber verstreut, und da ist es mir auch ein großes Anliegen, zu schauen, dass man diese sichert, dass die auch auf guten Tonträgern, wie auch immer das dann jetzt passiert, bewahrt werden, dass die auch erschlossen und der Öffentlichkeit generell, der Forschung zugänglich gemacht werden.
Wir haben jetzt zum Beispiel ein Projekt vom Boltzmann-Institut mit der Uni Wien, wo wir diesen großen Bestand von Interviews von Hugo Portisch katalogisieren und dann auch der Öffentlichkeit zugänglich machen. Das sind ganz wichtige Quellen.
Wenn die Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, und ihre eigenen, individuellen Geschichten, mit denen man sich so als junger Mensch, die das selbst in keinster Weise mehr so erlebt haben - -, nicht mehr zur Verfügung stehen, muss man schauen: Wie kann man das vermitteln und wie entwickelt man da auch eine passende Gedächtniskultur? Dieses We Remember, wo wir heute dabei sind, das ist ganz wichtig auch vor dem Hintergrund der Themen, die wir da besprochen haben.
Wolfgang Sobotka: Ich unterstreiche alles, vielleicht auch die persönliche Familiengeschichte: Man muss seine Familiengeschichte kennen, denn ich bin durch die Familiengeschichte auch dazu animiert worden, diese Verantwortung heute zu übernehmen, nicht die Schuld, aber die Verantwortung zu übernehmen, und da gibt es bei jedem, auch wenn sie neutral verlaufen, dann in der Familiengeschichte vielleicht eine emotionale Haltung, und ich glaube, es ist so wichtig, dass wir die wieder hervorbringen.
Rebekka Salzer: Frau Teege, da bin ich auch wieder bei Ihnen. Sie sind ja in der Weltgeschichte unterwegs und erzählen Ihre Geschichte. Wann haben Sie sich entschieden, das wirklich so öffentlich zu machen und welches konkrete Ziel verfolgen sie dahinter?
Jennifer Teege: Es war keine wirkliche Entscheidung, sondern eher ein Prozess, eine Transformation von dem Wissen, das zu verarbeiten, zu sehen, dass es eine wichtige Geschichte ist, eine Geschichte, die man nicht mit ins Grab nehmen darf. Dann die persönlichen Beziehungen, Rena, Lucie, ich könnte andere Namen von Überlebenden - - Es ist eine Art von Vermächtnis, so fühlt sich das auch an.
Was Sie gesagt haben zur Erinnerung: Wir haben ganz tolle Projekte diesbezüglich, jetzt in Deutschland zum Beispiel, aber auch von der UN. Da ist eine Wanderausstellung, Lonka-Projekt heißt das, das sind Fotografen, ich glaube 250 Fotografen weltweit, die Holocaustüberlebende fotografieren und präsentieren in ihrem Umfeld. So etwas gibt es und das muss weitergeführt werden.
Ich möchte aber noch einmal ein praktisches Beispiel anführen, zurück einmal ganz kurz in das Netz: Ich glaube, das Netz ist nicht das Problem, sondern das Netz, wo sich der Hass zeigt, ist ja nur der Spiegel; eine Schleife zurück zu Corona, zu Covid und zu den Demonstrationen, denn auch bei unseren Demonstrationen in Deutschland war die Reichsflagge zu sehen, vor dem Reichstagsgebäude – dramatisch!
Es gibt andere Beispiele, aber wir sind in einer Situation, wo wir dieses alte Gewand jetzt in einem neuen Setting haben. Die Frage ist eben nicht - - Eigentlich früher war die Frage: Warum laufen jetzt Coronademonstranten – ich möchte nicht alle in einen Topf schmeißen –, aber warum laufen die zusammen? Der Unterschied, das ist nicht nur ideologisch, dass die miteinander laufen, weil sie was miteinander gemeinsam haben, sondern das ist ein Topf, wo alles zusammenkommt, Verschwörungstheoretiker und Co, und das Schlimme ist, dass die Menschen mitlaufen, obwohl – ich sage, obwohl – die Reichsflagge gezeigt wird. Die Vermengung, diese Gemengenlage, die wir haben, das ist das Hauptproblem. Es ist alles nicht mehr so wie früher, dass man da so in Strukturen denken kann, sondern es ist ein Phänomen, das sich ausbreitet auf den verschiedensten Ebenen, und die Verschwörungstheoretiker gehören auch mit dazu.
Wenn ich an Erinnerungskultur denke, dann ist für mich der allerallerallerwichtigste Ansatz, zu sagen: das beizubehalten, diesen Respekt, und auch noch einmal diese Information, die Fakten zu haben, die weiter zu schaffen und zu archivieren, aber dieses neue, dieses Vorwärtsdenken, den Gedanken der Prävention in den heutigen Kontext zu setzen der Anlass ist, und das Netz, noch einmal, das Netz ist nur das Spiegelbild der Gesellschaft, wo so viele Dinge gesellschaftlich sind, die zu sagen und auch in einer Art und Weise mit der Rhetorik, die verletzend ist, und letztendlich geht es, wenn wir über den Holocaust und über Antisemitismus sprechen, auch darum.
Wenn Sie sagen, Sie glauben nicht an das Gute im Menschen: Aber es geht doch um Menschlichkeit, und das besitzen wir doch alle in uns, und ich bin natürlich auch nicht naiv, Sie können das nicht ausmerzen, Antisemitismus. Wir haben auch schon darüber gesprochen, das ist eine jahrhundertlange Entwicklung, von heute auf morgen geht das nicht, aber die Menschlichkeit in den Fokus zu rücken, in den zeitgemäßen Kontexten neue Werkzeuge zu schaffen, das ist es, und der Realität ins Auge zu blicken, dass wir eben nicht mehr 1.0 haben wir vor 20 Jahren, wo das, was damals richtig war, richtig war. Es war richtig, es ist die Grundlage, auf der wir aufbauen müssen.
Rebekka Salzer: Ganz kurz, Herr Rosen, eine andere Frage noch an Sie. Wir reden ganz viel über Antisemitismus. Jetzt hat aber zum Beispiel die pädagogische Hochschule in Wien eine Befragung gemacht, 1 200 Schüler der 9. Schulstufe: 81 Prozent haben nicht gewusst, was Antisemitismus ist, obwohl es einen Schwerpunkt gibt im Lehrplan, Nationalsozialismus, in der 8. Schulstufe. Wie kann das sein und wie soll da jemals eine Erinnerungskultur Fuß fassen können, wenn die Leute nicht einmal wissen, was das überhaupt ist?
Elie Rosen: Ich kenne diese Studien nicht, um darauf eingehen zu können. Ich würde einmal sagen, mich würde es weniger erschrecken, wenn 81 Prozent nicht wissen, was Antisemitismus ist, weil 81 Prozent keine Antisemiten sind. Dann würde mich das überhaupt nicht stören, sondern sehr erfreuen. Wenn Sie aber sagen, 81 Prozent wissen nicht, was Antisemitismus ist, pflegen aber ausgeprägte antisemitische Stereotype, dann finde ich das schon beachtlich, und ich glaube, wir haben es eher mit der zweiten Gruppe zu tun.
Wir haben vor eineinhalb Monaten mit Bundesministerin Edtstadler in Graz ein Projekt vorgestellt, das heißt: Gemeinsam gegen Antisemitismus, und das hat drei Säulen. Die dritte Säule ist eine Säule, die sich an Pädagogen und Pädagoginnen richtet und sich eigentlich genau mit diesem Thema auseinandersetzt, nämlich unter anderem mit der Identifizierung von Antisemitismen, wo es darum geht, Antisemitismen überhaupt einmal aufzuzeigen, weil wir überzeugt sind, dass sogar Pädagogen und Pädagoginnen oft nicht wissen und erkennen, wo Antisemitismen vorhanden sind, und diese erkannt werden müssen, um mit Schülern diese überhaupt bearbeiten zu können oder präventiv vorgehen zu können. Das heißt, das halte ich für eine sehr wichtige Sache, und das wäre etwas, was wir dann an dieser Schule durchwegs anwenden können.
Ich glaube, Antisemitismus ist etwas, was hoch im Raum schwebt, aber dass wir auch oft gar nicht wissen, was alles durchwegs einen antisemitischen Anstrich hat oder haben kann. Es gibt ja auch – unter Anführungszeichen – „Unachtsamkeiten“ im Sprachgebrauch, die höchst bedenklich eingefärbt sind oder eine Konnotation haben, die mit der Schoah oder antisemitischen Stereotypen in Verbindung stehen, also: durch den Rost fallen – all diese schönen Dinge –, oder: bis zum Vergasen, etwas, was Sie im Wienerischen oder auch in anderen Bundesländern tagtäglich hören. Viele Menschen wissen gar nicht, was sie da von sich geben. – Das zu diesen 81 Prozent.
Rebekka Salzer: Wir sind leider schon fast am Ende der Zeit. Ich habe jetzt noch ein Schlusszitat für Sie und würde Sie gerne um Ihre Einschätzung bitten: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen. Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“ – Es ist ein Zitat des jüdischen Schriftstellers und mittlerweile verstorbenen Auschwitzüberlebenden Primo Levi. Hat er recht, kann es wieder passieren, lernen die Menschen nicht aus der Geschichte? Frau Teege.
Jennifer Teege: Da Sie mich jetzt gleich als Erstes dazu fragen: Ja, wir lernen nicht genug aus der Geschichte. Das ist leider so. Sie haben vorher auch gesagt, ich bin ja viel unterwegs. Wir hier in Deutschland oder auch in Österreich, gerade in Wien: Hier gibt es ja auch so eine lange Kultur des Judentums, wir haben so viel Wissen. Wenn ich in die Welt rausgehe, zum Beispiel in die USA, wo ich viel bin, da gehen sie in einen Campus, in eine Universität und die wissen nicht, was Antisemitismus bedeutet, die wissen auch nicht einmal, was der Holocaust bedeutet, die haben noch nie das Wort Auschwitz gehört.
Wir sind in einer sehr privilegierten Situation hier mit unserem Wissen, weil wir natürlich auch nach dem Zweiten Weltkrieg zur Aufarbeitung gezwungen worden sind. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt, ist es auch ein Auftrag, das Wissen, das wir haben, in die Welt zu tragen, denn dieses Beispiel, dass auf einem Campus, auf einer amerikanischen Universität Studenten nicht einmal das Wort Auschwitz kennen, das ist ein desolater Zustand und das ist nicht etwas, was man den Studenten vorwerfen kann, sondern das mangelnde Wissen, weil es politisch nicht implementiert ist, dass Holocausterziehung obligatorisch ist. Wir haben das. Wir haben diese Grundlage, und was wir tun müssen, ist, das zu erweitern und diese Grundlage in die Welt zu tragen, in die Ecken, wo es eben noch nicht bekannt ist und auch dringend notwendig wäre, dieses Wissen zu haben.
Rebekka Salzer: Herr Rosen, kann es wieder passieren? Bitte um eine kurze Antwort.
Elie Rosen: Aus jüdischer Sicht, aus der Leitung eines Gemeindepräsidenten, sage ich: Ja.
Rebekka Salzer: Frau Stelzl-Marx?
Barbara Stelzl-Marx: Ja, man kann das auch breiter sehen. Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, und man muss alles tun, dass Demokratie sich gut entwickeln kann. Gerade da ist Gedenken ganz wichtig, weil uns der Blick zurück in die Geschichte so viel auch lehrt. Gedenken schärft die Sinne, und vor diesem Hintergrund: All das ist wichtig auch für die Entwicklung von Toleranz, für die Achtung der Menschenrechte und dass wir weiterhin in einer Demokratie leben.
Rebekka Salzer: Herr Sobotka.
Wolfgang Sobotka: Ich glaube, dass die Demokratie gefestigter ist, als man sie manchmal bezeichnet. Es beginnt in der Familie, im Betrieb, in den Schulen, in vielen Bereichen, und Antisemitismus ist antidemokratisch. Sie ist immer wieder auf dem Prüfstand, aber ich glaube, die rechtsstaatlichen Instrumente, dafür stehe ich, auch die Durchsetzung der rechtsstaatlichen Instrumente müssen unsere Maßzahl sein.
Als Optimist kann ich nicht, und auch aus der geschichtlichen Tradition heraus - - Eins zu eins wiederholt es sich sicher nicht. Die Mutation, die Sie beide immer wieder angesprochen haben, die wollen wir bekämpfen, das ist unser Auftrag.
Rebekka Salzer: Ein schönes Schlusswort. Vielen Dank fürs Diskutieren, und Ihnen zu Hause vielen Dank für Ihr Interesse und fürs Zusehen.