Rede des Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka bei der Gedenkveranstaltung zum Ende der parlamentarischen Demokratie 1933, 04.03.2020

Mittwoch, 4. März 2020
Es gilt das gesprochene Wort.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Liebe Ehren- und Festgäste!

Ich freue mich, dass so viele Menschen gekommen sind und so viele Nationalräte heute hier sind; es ist eigentlich ihr Gedenk- und Feiertag. Die anschließende Diskussion wird mit dem heutigen Abend nicht zu Ende sein. Sie wird uns in Zukunft begleiten, und wir werden uns immer wieder die Frage stellen müssen: Wie werden Social Media gerade die parlamentarische Demokratie begleiten und herausfordern? Sie haben nachhaltige Bedeutung für uns.

Lassen Sie mich aber anlässlich dieser Veranstaltung ein paar Gedanken zur Gedenkkultur formulieren: Gedenkkultur, die ja jedes Land für sich entwickelt, ist etwas ganz Wesentliches, das der Bevölkerung und dem Land selbst Identität gibt und zum Selbstbewusstsein, zur Selbstbestimmtheit beiträgt. Es ist nicht nur ein Zeichen der Flagge, es ist vor allem das eigene Herkommen, es ist die eigene Geschichte, die sich darin widerspiegelt.

Ich denke, wenn wir uns international vergleichen, geht es nicht um die Anzahl der Gedenktage, sondern es geht eher um die Tiefe. Wir feiern eine Vielzahl von Anniversarien und all die Gedenktage, die die UNO oder andere Organisationen ausrufen, mehr oder minder intensiv. Man muss aber ganz offen festhalten: Sobald es darum geht, uns mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wenn es um Reflexionen geht, wenn es um die Hinterfragung von Narrativen geht, wenn es um Tatsachen geht, denen man sich zu stellen hat, ist das in der Bevölkerung wenig verankert. Ich formuliere immer wieder ganz klar: Wer sich der Geschichte nicht stellt, den stellt die Geschichte!

Umso mehr muss es uns, dem österreichischen Nationalrat, dem österreichischen Parlament als Repräsentant der Bevölkerung darum gehen, dieses heutige Anliegen in der ganzen Breite zu diskutieren, zu erinnern, aber nicht nur in erinnerndem Gedenken, sondern immer verbunden mit der Frage: Was ist unser Auftrag für die Zukunft? Welchen Herausforderungen muss sich eine parlamentarische Demokratie heute stellen? Es ist ganz entscheidend, dass wir aus diesem Gedenken heraus letzten Endes die Aufträge für die Zukunft formulieren. Die Situation rund um die Social Media – und es gibt noch viele andere besondere Herausforderungen – greifen wir heute als ein Thema heraus.

Ich freue mich ganz besonders, dass heute Repräsentanten hier sind, die dieses Thema wirklich intensiv beleuchten können. Den Beginn des inhaltlichen Teils des Abends macht Frau Professorin Dr.in Magdalena Pöschl. Ich freue mich, dass danach unter der Leitung von Nadja Mader eine Diskussion mit Lisa Stadler, Richard Schmitt und Gerald Heidegger folgen wird. Ihre Anwesenheit macht einmal mehr klar, dass Onlinemedien unmittelbar am Puls der Zeit sind und sich alle Medien – ob Printmedien, ob Fernsehen – mit dieser Thematik intensiv auseinandersetzen.

Die musikalische Umrahmung ist eigentlich keine Umrahmung, sondern eine Vertiefung dessen, was wir diskutieren: Es ist Musik von Duke Ellington aus dieser Zeit, die in vielfacher Hinsicht damals in diesem Land und in Europa nicht in ihrer besonderen Art und Weise erkannt wurde. Sie wurde erst in der Zweiten Republik quasi als Gemeinsamkeit entdeckt. Ich möchte mich bei der Universität für Musik und darstellende Kunst ganz herzlich bedanken, die bei Veranstaltungen immer wieder unser Partner ist.

Politik – und das zeigt sich in vielen Fällen – ist nicht immer planbar und vorhersehbar. Niemand hat am 4. März 1933 in der Früh geahnt, dass am Abend um 21.55 Uhr das Ende der parlamentarischen Demokratie eingeleitet wird. Christopher Clark formulierte in seinem Buch „Die Schlafwandler“ ganz deutlich, dass man manchmal quasi in politische Geschehen hineingleitet, ja hineintaumelt, die dann in ihrer Wirksamkeit Gesellschaften nachhaltig verändern. Damit wir aber heute und morgen nicht fatalistisch in ein Geschehen hineintaumeln, damit wir auch lernen, abzuschätzen, braucht es einen klaren analytischen Blick auf die Gegenwart: Wo liegen die Herausforderungen? Wo gibt es kritische Entwicklungen? Wo lauern Gefahren, die auch eine starke, gefestigte, alle gesellschaftlichen Schichten und Organisationen durchdringende Demokratie herausfordern? Wer die Gefahren kennt, kann sie entsprechend bekämpfen. Wer die Herausforderungen definiert, wird sie bewältigen.

Die Geschehnisse vom 4. März 1933 waren nicht vom Himmel gefallen, sie hatten eine Vorgeschichte: Da waren die paramilitärischen Verbände; da waren Parteiprogramme, die den anderen politischen Akteuren Angst und Schrecken einjagten; da war ein Börsenkrach, dessen Schockwellen Europa sehr schnell erreichten, Österreich zu einer Zeit, in der die Demokratie mit Sicherheit nicht gefestigt war; da waren Hunderttausende, die keine Arbeit hatten, ausgesteuert, perspektivlos; es gab Kritik an der Justiz und die Eskalation der Gewalt, in besonderer Art auch der staatlichen Gewalt. Was stand am Ende? – Tiefes Misstrauen zwischen den Parteien, eine Situation, die eskalierte, und schlussendlich das Verhindern eines neuerlichen Versuchs des Zusammentretens des Nationalrates durch die Polizei am 15. März des Jahres 1933.

Es ist immer wieder unsere Geschichte, die uns auch später noch mahnt, diesem Ereignis mit Blick auf die Zukunft zu gedenken. Dieses Gedenken ist auch ein Grund, über folgende Fragen nachzudenken: Wie kam es dazu? Was können wir heute besser machen? Wo liegen heute die besonderen Herausforderungen?

Es braucht daher – hier schließt sich der Kreis zum Beginn meiner Eröffnungsworte – dieses Gedenken, um auch für die Zukunft unserer Gesellschaft, für unsere Jugend, für die Gesamtheit der österreichischen Bevölkerung gut in ein Morgen der parlamentarischen Demokratie zu kommen. Wir beleuchten hier im österreichischen Parlament heute nur einen Teil davon. Möge die Diskussion draußen, in den Familien, in den Schulen, in den Betrieben, in den Gemeindestuben, in den Landtagen geführt werden. Nur wenn wir in der Lage sind, aus diesem Gedenken auch ein breites nationales Anliegen zu machen, uns mit den Social Media kritisch auseinanderzusetzen, braucht uns um unsere Demokratie nie bange zu sein. (Beifall.)