Transkript der Veranstaltung
„Eröffnung der Länderausstellung ‚Entfernung – Österreich und Auschwitz‘“

*****

(Es folgt ein Musikstück.)

*****

Hannah M. Lessing (Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich): Ich begrüße Sie zur Eröffnung der neuen Österreich-Ausstellung „Entfernung – Österreich und Auschwitz“ und bedanke mich, dass wir übereingekommen sind, von Applaus Abstand zu halten. Herzlich begrüßen darf ich die Gastgeber der heutigen Veranstaltung: den Präsidenten des österreichischen Nationalrates Wolfgang Sobotka, den Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau Piotr Cywiński. Ganz herzlich willkommen heißen möchte ich den österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen und Doris Schmidauer sowie den polnischen Vizepremierminister Piotr Gliński. Es freut mich, den Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten Alexander Schallenberg, den Bundesminister für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz Wolfgang Mückstein und die Bundesministerin für EU und Verfassung im Bundeskanzleramt Karoline Edtstadler sowie die Staatssekretärin Andrea Mayer begrüßen zu dürfen.

Weiters möchte ich dem Präsidenten des österreichischen Bundesrates Peter Raggl, dem Landeshauptmann von Tirol Günther Platter, der Zweiten Präsidentin des Nationalrates Doris Bures, dem Zweiten Landtagspräsidenten von Niederösterreich Gerhard Karner, dem Bürgermeister der Stadt Auschwitz Janusz Chwierut, dem Direktor des österreichischen Parlaments Harald Dossi sowie allen anwesenden aktiven und ehemaligen Mitgliedern des österreichischen National- und Bundesrates sowie den Vertreterinnen und Vertretern des diplomatischen Chors für ihr Kommen danken.

Sehr herzlich begrüße ich die Überlebenden, die den Weg hierher auf sich genommen haben, und ihre Angehörigen sowie die Vertreterinnen und Vertreter der Opferverbände und der Religionsgemeinschaften, insbesondere Marian Turski und Oskar Deutsch. Ich begrüße die Leiter des Kuratorenteams der Ausstellung Hannes Sulzenbacher und Albert Lichtblau sowie den Architekten Martin Kohlbauer. MusikerInnen der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien werden dankenswerterweise die Eröffnungsfeier musikalisch umrahmen. Ein ganz besonderer Gruß ergeht auch an Sie, werte Zuseherinnen und Zuseher, die die Veranstaltung von zu Hause aus mitverfolgen.

Die Veranstaltung wird auf ORF 2 sowie per Livestream in der Mediathek des Parlaments übertragen. Sie findet aufgrund der Covid-19-Pandemie im Beisein eines geschlossenen Personenkreises statt. Auf die Einhaltung der Schutzmaßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus wird Bedacht genommen.

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit“. – So heißt es im Buch Kohelet.

Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Hannah Lessing. Als Generalsekretärin des Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus ist es mir eine Ehre, Sie durch diese besondere Feier begleiten zu dürfen. Begleitet werden wir von den Klängen aus der Feder eines jungen mährischen Komponisten: Gideon Klein. Dieses Streichertrio war Kleins letzte Komposition, bevor er am 7. Oktober 1944, also fast auf den Tag genau, vor 77 Jahren von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurde. Gideon Klein wurde ermordet, doch seine Musik, die so schlicht und berührend an seine Heimat erinnert, hat die Zeiten überdauert.

Jene, die in Auschwitz gestorben sind, sind nicht im normalen Sinne des Wortes gestorben. „Sie wurden brutal getötet, ermordet und in Krematorien verbrannt.“ – So scharf und klar hat es Roman Kent, der leider heuer verstorbene Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees formuliert. Unter den hier Getöteten, Ermordeten, Verbrannten waren Jüdinnen und Juden, Polen, Widerstandskämpferinnen, Widerstandskämpfer, Roma und Sinti, politisch Verfolgte, Homosexuelle und viele mehr. Unter ihnen waren auch Männer, Frauen und Kinder aus Österreich. Ihr Weg nach Auschwitz nahm seinen Anfang in Österreich.

Gerhard Potz, Historiker und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat für die neue Ausstellung, hat treffend diagnostiziert: Nationalsozialismus und Holocaust sind in Österreich und in Deutschland Familiengeschichte. – Das trifft auf sehr viele österreichische Familien in der einen oder anderen Weise zu. Der Nationalsozialismus hat die ganze Gesellschaft erfasst und nachhaltig geprägt. Deshalb gehen uns die Folgen alle an – bis heute.

Auch ich selbst bin keine Unbeteiligte. Auch in meiner Familiengeschichte findet sich diese Ambivalenz, diese Zerrissenheit. Mein Vater war Exilant, meine Großmutter wurde hier in Auschwitz ermordet. Meine Mutter dagegen war im Arbeitsdienst, sie war Teil des Räderwerkes im NS-Staat. Niemand ist unbeteiligt. Alles hat seine Stunde. Die Zeit musste wohl erst reifen, um die Dimension der NS-Herrschaft in Österreich in ihrer ganzen Vielschichtigkeit anzuerkennen. Weil Prozesse der Bewusstwerdung und Bereitschaft zum Lernen aus der Geschichte Zeit brauchen, wurde auch eine Institution wie der Nationalfonds erst Jahrzehnte nach Kriegsende eingerichtet. Erst in einer Zeit, in der es weniger um Schuld geht, sondern vielmehr um Verantwortung, wurde es möglich, die neue österreichische Ausstellung in dieser historischen Differenziertheit und Klarheit zu schaffen. Ihre Eröffnung in Anwesenheit des Herrn Bundespräsidenten hat Symbolkraft und unterstreicht die historische Bedeutung dieses Augenblickes. – Herr Bundespräsident, ich darf Sie bitten.

Alexander Van der Bellen (Bundespräsident): Meine Damen und Herren! Geschätzte Ehrengäste! Gestatten Sie, dass ich so abkürze. Hannah Lessing hat die Begrüßung ja schon vorgenommen. Meine Damen und Herren, der Rassismus und der Antisemitismus der Nationalsozialisten ist nicht vom Himmel gefallen. Die Konzentrations- und Vernichtungslager sind nicht vom Himmel gefallen. Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen.

Denken wir zum Beispiel an Karl Lueger, Wiener Bürgermeister von 1897 bis 1910: zweifellos mit vielen Verdiensten um die Wiener Stadtentwicklung, aber zugleich war er ein glühender Antisemit, der Zuwanderergruppen gegeneinander ausspielte. Übrigens haben wir vor ungefähr neun Jahren den Karl-Lueger-Ring in Wien in Universitätsring umbenannt. Antisemitismus und Rassismus waren in der österreichischen Gesellschaft schon vor dem März 1938 sehr präsent. Der Boden war bereitet, der Samen war gesät, als Nazideutschland im März 1938 unter tausendfachem Jubel am Wiener Heldenplatz in Österreich einmarschierte. Diese Saat ging auf. Während die einen noch jubelten, wurden anderen die Türen eingetreten.

Im Zuge der Novemberpogrome 1938, dem geplanten gewalttätigen Vorgehen gegen Jüdinnen und Juden, gegen jüdische Geschäfte, Synagogen und Bethäuser sowie anderen jüdischen Einrichtungen wurden zahlreiche Juden ermordet; viele nahmen sich das Leben. Nachbarn, die zuvor friedlich mit Jüdinnen und Juden zusammengelebt hatte, wurden plötzlich Täter – Täter, die sich an jüdischem Vermögen bereicherten. Aus der Abwertung wurde Entwürdigung und Diskriminierung, schließlich Entmenschlichung und Ermordung. Das gipfelte im systematischen, mit industriellen Methoden durchgeführten Völkermord, dem Holocaust, für den das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zum Symbol geworden ist.

Über eine Million Menschen wurden hier von den Nationalsozialisten ermordet, darunter auch Zehntausende Menschen aus Österreich, in der Mehrzahl Jüdinnen und Juden, aber auch Roma und Sinti, Homosexuelle, Behinderte, politisch Verfolgte, Widerstandskämpfer und Deserteure, Kriegsgefangene – vor allem aus der Sowjetunion –, Vertreter der polnischen Intelligenz und, und, und. Auch wenn Österreich als Staat nicht mehr existierte, sondern als sogenannte Ostmark Teil des sogenannten Dritten Reiches war, so waren es doch viele Menschen unseres Landes, die in diesem Vernichtungsprogramm teilweise an führender Stelle unter den Tätern und Täterinnen waren.

Wir alle kennen diese Geschichte und doch war es lange Zeit Staatsdoktrin, dass Österreich das erste Opfer des Nationalsozialismus sei – das kann man argumentieren –, aber unter Ausblendung der Vorgeschichte und der Täter- und Täterinnenschaft vieler Menschen unseres Landes. Das spiegelte sich auch in der 1978 eröffneten ersten österreichischen Ausstellung hier in Auschwitz, einer Ausstellung, die in diesem Sinne ein Kind ihrer Zeit war. Sie spiegelte allerdings auch die persönliche Opfererfahrung wider, die überlebt hatten, die einst Insassen des Lagers Auschwitz-Birkenau gewesen waren und maßgeblich zur Gestaltung der Ausstellung damals beigetragen hatten. Insgesamt wurde diese Ausstellung von vielen Seiten – sowohl national als auch international – zu Recht als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. An ihre Stelle tritt heute nach langem Vorlauf die neue österreichische Ausstellung mit dem Titel „Entfernung – Österreich und Auschwitz“. Entfernung hat eine doppelte Bedeutung: die Entfernung, aber auch die Ent-fernung. Sie soll die Erinnerung an das Schicksal der österreichischen Opfer und den Widerstand von österreichischen Häftlingen wachhalten, aber zugleich die Involvierung von Menschen unseres Landes als Täter und Täterinnen darstellen.

Es ist unser Wille und unsere Verpflichtung, die Erinnerung an die Opfer zu bewahren. Es ist unser Wille und unsere Verpflichtung, daran zu erinnern, dass nicht nur die Opfer, sondern auch Täter und Täterinnen Teil unserer Gesellschaft waren und von ihr geprägt waren. Insofern trägt Österreich – ich zitiere – „Mitverantwortung für das Leid, das zwar nicht Österreich als Staat, wohl aber Bürger dieses Landes über andere Menschen und Völker gebracht haben“. Viele von Ihnen kennen dieses Zitat. Das war Bundeskanzler Franz Vranitzky vor ziemlich genau 30 Jahren.

Meine Damen und Herren, dem Andenken der Opfer des Holocausts werden wir nur gerecht, wenn wir dafür sorgen, dass Menschenverachtung, Sündenbockdenken und Gewalt niemals wieder als politisches Instrument eingesetzt werden. Niemals wieder bedeutet, dass wir uns jeglichen Versuch der Zerstörung des Rechtsstaats und der liberalen Demokratie entschieden entgegenstellen und die Gunst und Freiheitsrechte verteidigen. Niemals wieder bedeutet, sich den Versuchungen nationalistischer Selbstüberhöhung entgegenzustellen und für ein gleichberechtigtes Miteinander zu sorgen. Niemals wieder bedeutet aber vor allem: keine Toleranz gegenüber Rassismus, keine Toleranz gegenüber Antisemitismus. Sie kennen das Zitat: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren. – Vielen Dank.

Hannah M. Lessing: „Thou shalt not be indifferent“ – du sollst niemals gleichgültig sein. Diesen Appell an die Menschheit hat das Internationale Auschwitz-Komitee als elftes Gebot formuliert, denn Gleichgültigkeit hat dazu beigetragen, dass der Holocaust möglich wurde. Dieses Gebot richtet sich im Besonderen an die Politikerinnen und Politiker. Wenn wir verhindern wollen, dass sich Geschichte wiederholt, dann darf die Politik nicht gleichgültig sein gegenüber Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, sondern muss Demokratie und Rechtsstaat schützen, wachsam sein und den Anfängen wehren. Dem Präsidenten des österreichischen Nationalrates Wolfgang Sobotka ist für sein beständiges Engagement zu danken, in Österreich an dieses elfte Gebot zu erinnern und es bewusst zu halten. Die Zivilgesellschaft, junge Menschen und damit die Mitte der Gesellschaft zu erreichen und damit zu sensibilisieren ist ihm dabei immer wieder ein besonderes Anliegen. – Herr Nationalratspräsident, bitte.

Wolfgang Sobotka (Präsident des Nationalrates): Am Ende der Rampe in Birkenau stehend – so hat es ein Freund von mir formuliert –, ist, wenn man erkennt, dass genau diese Bahngleise uns heute gedanklich zurückführen, zurückführen zu den Bahnhöfen unserer Städte, zurückführen in unsere Gemeinden, in unsere Grätzel, Straßen und Gassen, zurückführen in unsere Nachbarschaften und in die Kapillaren unserer Gesellschaft und damit zurück dorthin, wo das Töten begann. Entfernung? – Nein, es war und es ist nicht weit von Wien nach Auschwitz, weder räumlich noch zeitlich. Eine tiefe Spaltung der Gesellschaft hat die Demokratie geschwächt, schlussendlich ausgeschaltet und schuf den politischen Raum für Ausgrenzung und Hetze.

So oft reden wir auch heute immer wieder von Niemals-wieder, Niemals-Vergessen. Beinahe, so könnte man meinen, ist das Ritual erstarrt, denn Politiker und ihre Redenschreiber wissen, was sich gehört. Ist der Termin absolviert, geht es oft zurück in den unreflektierten Alltag. Auschwitz verbietet solche Allgemeinplätze. Zu überwältigend ist die Gewalt dieses Ortes, zu schreiend diese Trauer und zu gegenwärtig das Geschehene. Gedenken verlangt auch Konsequenzen – Konsequenzen im Hier und Heute, im Morgen und Übermorgen, Konsequenzen eben auch dann, wenn wir wieder an unseren Rednerpulten stehen, allerorts in die Zivilgesellschaft eintauchen oder wo das Gift des Hasses im World Wide Web versprüht wird, Konsequenz in dem, was wir sagen und zulassen, was gesagt wird, und Konsequenz in dem, was wir tun und was getan werden muss. Einige Konsequenzen liegen sehr klar auf der Hand: Es kann keinen Kompromiss mit dem Antisemitismus geben – egal aus welchem Eck er kommen mag, egal in welches Gewand er sich kleidet. Das bedeutet klarerweise auch, dem Antizionismus, der Delegitimierung des Staates Israel, mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten.

Wer sich in seiner Wahrnehmung dabei auf die Neonazis beschränkt, verkennt die Vielschichtigkeit der Herausforderung. So liegen andere Herausforderungen weniger klar auf der Hand. Umso wichtiger ist es, an sie zu erinnern und sie anzusprechen. Keine Weltanschauung, keine Bewegung, keine Partei, auch keine Religion hat das Recht, sich über andere, sich über Demokratie und den Rechtsstaat zu erheben. Die neue Ausstellung, die wir heute eröffnen, macht das Andenken an jeden einzelnen Menschen, der hier so unvorstellbar gelitten hat, sichtbar. So ist dieser Ort, dieser Platz für uns, für uns Österreicherinnen und Österreicher so ungeheuer wichtig – wichtig auch, weil hier die Brüche unseres Landes offenbart werden, Brüche nach 1945, Brüche, die bis in das Heute hineinwirken und uns immer noch tief berühren, betroffen und traurig machen, betroffen machen und uns so auch einen klaren Handlungsauftrag für Gegenwart und Zukunft mitgeben. Ja, es waren allzu viele Österreicher, die damals aktiv an den genozidalen Verbrechen des NS-Regimes beteiligt waren. Die Darstellung der Täterschaft, der Mittäterschaft, der Mitläuferschaft blieb in den vorangegangenen Ausstellungen und dieser Ausstellung im Besonderen weitgehend unthematisiert. In der neuen Ausstellung werden daher auch gerade die Täter und ihre Taten ins Licht gerückt. Konfrontation mit unserer Geschichte kann keine Konfrontation mit einer halben Geschichte sein.

So wünsche ich mir, dass alle Menschen, die diese Ausstellung besuchen, sich vor allem an die Tausenden Österreicherinnen und Österreicher, die in Auschwitz erniedrigt, gequält und ermordet wurden und mit der Auslöschung ihres Namens ihrer Personalität beraubt wurden, sich daran erinnern, ihrer gedenken, und dass sie, wenn sie zurückgehen in ihre Gemeinden, in ihre Grätzel, in ihre Gassen und Straßen, in ihre Nachbarschaften, sich als Botschafterinnen und Botschafter der Demokratie und des menschlichen Miteinanders verstehen und sich aktiv engagieren. Als Präsident des Nationalrates sowie als Vorsitzender des Nationalfonds möchte ich daher meinen ganz großen Dank all jenen in Polen wie in Österreich aussprechen, die mit unermüdlichem Einsatz über einen großen Zeitraum mit großem Engagement zum Gelingen dieser außergewöhnlichen und so wichtigen Ausstellung beigetragen haben. Sie haben das Andenken an jeden einzelnen Menschen, der hier unvorstellbar gelitten hat, sichtbar gemacht.

Herzlichen Dank darf ich all jenen entbieten, die heute mitgekommen sind, insbesondere dem Herrn Bundespräsidenten und seiner werten Gattin, dem Vizepremierminister Polens, dem Präsidenten des Bundesrates und der Zweiten Präsidentin des Nationalrates, den österreichischen Regierungsmitgliedern, dem Vorsitzenden der Landeshauptleute, dem Präsidenten des Auschwitz-Komitees, der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien, den Mitgliedern des Nationalfonds, den Vertretern der Wissenschaft, den Medienvertretern und nicht zuletzt unseren Schülerinnen und Schülern. Sie haben den Opfern und ihren Angehörigen eine gerechte Ehre erwiesen und unsere gemeinsame Verantwortung zum Ausdruck gebracht.

Hannah M. Lessing: Ich übergebe das Wort nun an zwei Redner, die – verschiedenen Generationen angehörend – beide eine starke Stimme für Opfer des Nationalsozialismus und deren Nachkommen sind. Zunächst spricht Marian Turski zu uns: selbst Überlebender von Auschwitz und Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Nur mehr ganz wenige Zeitzeugen können heute darüber berichten, was vor beinahe 80 Jahren in Auschwitz geschehen ist, über die Verbrechen, die Leiden, den Überlebenskampf, aber auch über die Hoffnung und den so lange ersehnten Moment der Befreiung. Sie haben es zu ihrer Lebensaufgabe gemacht, Zeugnis abzulegen. – Lieber Marian, du sollst wissen: Wir nachfolgende Generationen nehmen euer Vermächtnis an, wir sind bereit, die Fackel der Erinnerung weiterzutragen.

Nach Marian Turski kommt Oskar Deutsch zu Wort, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und der Israelitischen Religionsgemeinschaft Österreich. Seine enge und aktive Zusammenarbeit mit der Politik ist ein wichtiger Beitrag zu einer Gesellschaft, in der Antisemitismus und Rassismus keinen Platz haben. – Marian, bitte.

Marian Turski (Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees): Meine lieben, verehrten Leidensgenossen, Überlebende! Verehrte Gäste! Es gibt drei Gründe dafür, dass ich heute hier das Wort ergreife. Wie Hannah Lessing bereits sagte, bin ich seit einiger Zeit Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees. Somit ist es sogar eine Pflicht, bin ich dazu gehalten, hier das Wort zu ergreifen. Was sind diese drei Gründe? – Das sind drei Namen; ein Name von einem nicht mehr lebenden Menschen, zwei von immer noch lebenden Menschen. Ich werde auch daran anknüpfen, was der Herr Bundespräsident sagte. Es sind Menschen, die sagen, Österreich sei als erstes Land von den Nationalsozialisten besetzt worden. Sie haben durchaus dieses Recht, das haben sie unter Beweis gestellt und das tun sie nach wie vor mit ihrer Tätigkeit. Deswegen sind mir diese Menschen so nahe, rein persönlich, sie sind ein Teil meiner geistigen Gemeinschaft.

Selbstverständlich, es liegt auf der Hand – der Herr Bundespräsident und der Herr Präsident des Nationalrates haben das auch gesagt –: Ist man hier, so ist es ein Ding der Unmöglichkeit, an die Österreicher zu denken, die als Henker hier waren – hier in diesem Lager vielleicht etwas weniger, aber in der sogenannten Aktion Reinhardt im ganzen Generalgouvernement. Das war wirklich eine verheerende Rolle. Das ist natürlich ein Problem für uns alle. Für Sie, werter Herr Bundespräsident, für Sie, Herr Präsident des Nationalrates, für uns alle, auch für mich, denn es gibt kein Volk oder es gibt beinahe kein Volk auf Erden, das von sich behaupten könnte, das nur auf eigene Helden stolz sein könnte, auf Menschen, die etwas erreicht haben. Gleichzeitig muss jeder von uns allen gewisse Gewissensunruhe verspüren, wenn man schon an Menschen denkt – nicht von meiner Generation, von Ihrer Generation, von anderen Generationen –, die ja doch mit diesen Gräueltaten nichts zu tun hatten, aber ihre Vorfahren, die sich leider als unwürdige Menschen erwiesen haben.

Aus dem, was Herr Präsident Van der Bellen gerade gesagt hat, ziehe ich auch ein Fazit: Ein Volk kann nur stolz sein, wenn es vermag, die eigenen Probleme, die schändlichen Elemente aus der Geschichte nicht unter den Teppich zu kehren. Es gibt nämlich nicht nur Gründe für Stolz allein. Das gehört als immanenter Teil zur Geschichte von jeder Nation, von jedem Volk.

Zurück zu den drei Gründen und drei Namen: Hermann Langbein, das ist der erste Name. Ich möchte ganz ausdrücklich diesen Namen erwähnen, und Sie werden auch gleich sehen, warum mir so viel an diesem Namen liegt. Ich habe die Ausstellung noch nicht gesehen, aber meines Wissens – ich kann ahnen, was dort alles untergebracht wurde – wird Hermann Langbein darunter sein. Hermann Langbein: Schauspieler vor dem Krieg, ein Linker, nach dem Anschluss Österreichs wollte er weiterhin kämpfen, er ging nach Spanien, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg auf der republikanischen Seite, interniert von den Franzosen, ausgeliefert als österreichischer Staatsbürger an die Deutschen, hierher nach Auschwitz deportiert.

Hier war er in einer Kampfgruppe tätig, die übrigens auch Kontakt hatte zu Pilecki, zu unserem Aufständischen, zu Josef Cyrankiewicz von der polnischen Untergrundzelle. Sie haben versucht, die Untergrundbewegung hier zu etablieren – lange Geschichte; lange Rede, kurzer Sinn –: Das ist leider gescheitert, kein Thema für heute. Auf jeden Fall hat er überlebt, und seine Überzeugung führte ihn in die Kommunistische Partei, dann wurde er Journalist, dann wurde er Korrespondent in Budapest. 1956 war er in Budapest, als die sowjetischen Panzer nach Budapest rollten, und dort hat er öffentlich protestiert. Er musste aus der Partei austreten. Dann hat er sich der Geschichte von Auschwitz gewidmet. Jetzt die Pointe: Hermann Langbein war einer derjenigen, die vor mittlerweile 70 Jahren unser Internationales Auschwitz-Komitee ins Leben gerufen haben. Deswegen freut es mich unheimlich, dass er in der Ausstellung einen Platz findet.

Der zweite Name und der zweite Grund: Das sind Sie, Herr Bundespräsident Van der Bellen. Den Gedanken möchte ich nicht weiterentwickeln, denn Sie haben es schon gemacht. Ich kann mich gut erinnern, als ich in der Wiener Hofburg von Ihnen gehört habe: „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“, heute haben Sie das noch weiterentwickelt. Ich brauche das eigentlich nicht zu erläutern, aber ich habe den Eindruck, dass die letzten Jahre die Richtigkeit und Wahrheit dieser These deutlich unter Beweis gestellt haben.

Der dritte Name: Das ist die Dame, die hier sitzt. Sie gehört schon der Generation meiner Kinder an und sie ist umgeben von der Generation meiner Enkelkinder. Ich habe das heute beim Frühstück im Hotel beobachten können: Alle, die für den Nationalfonds arbeiten, haben sich um sie versammelt. Hannah Lessing: Diese Dame, die immer wieder in der International Holocaust Remembrance Alliance die führende Rolle spielt. Ihr haben wir es zu verdanken und ich kann das durchaus belegen. Ihr Elan, ihre Geduld, ihre Ausdauer – diesen Eigenschaften von Hannah Lessing ist diese Ausstellung zu verdanken, das ist zumindest mein Eindruck, denn diese Ausstellung ist mit uns konsultiert worden. Ich saß ja im internationalen Beirat der Gedenkstätte, solange dieses Gremium noch existierte, am Ministerpräsident der Republik Polen, und ich weiß wohl, wie lange und langwierig diese Gespräche, auch Streitigkeiten, waren. Aber das Ergebnis dessen ist eine sehr ausgereifte und kluge Ausstellung.

Abschließend nur noch ein Satz: Liebe Hannah – du hast es vorhin schon deklariert –, du möchtest die Arbeit von uns, der Generation, die immer weniger werden, fortsetzen, die Erinnerung an Langbein, an Kazimierz Albin, an meine Wenigkeit vielleicht auch irgendwann einmal.

Da fällt mir gerade etwas ein: Diejenigen, die die Gedenkstätte Majdanek in Lublin besucht haben, werden sich erinnern: Da gibt es eine Riesenschale mit Asche von mehreren Tausenden Ermordeten und darauf die Inschrift – ich weiß den genauen Wortlaut nicht mehr –: Unser Schicksal – eine Mahnung für euch. Seid ihr imstande, eure Generation davor zu hüten, was uns zugestoßen ist? Das ist das Allerwichtigste. Wenn ihr es schafft, eine Gesellschaft zu etablieren, wo Menschenrechte respektiert werden, wo es diese Entmenschlichung der sogenannten Fremden nicht gibt, dann werdet ihr uns und die 1,5 Millionen von namenlosen Opfern am besten ehren, dejenigen, die keine Chance hatten, im Augenblick des Todes etwas zu sagen. – Das wünsche ich dir, Hannah. (Beifall.)

Oskar Deutsch (Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien): Sehr geehrter Herr Bundespräsident Van der Bellen! Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident Sobotka! Frau Präsidentin Bures! Sehr geehrter Herr Minister Schallenberg! Herr Minister Mückstein! Frau Minister Edtstadler! Frau Staatssekretärin Mayer! Liebe Schülerinnen und Schüler! Liebe Überlebende! Sehr geehrte Damen und Herren! Millionen Menschen wurden hierher deportiert, hier gequält, hier ermordet. Auschwitz ist der größte Friedhof der Welt. Die Menschen wurden hier für Experimente missbraucht, zu Arbeitssklaven gemacht, ausgehungert, erschossen oder vergast. Hier in Auschwitz fand der letzte Schritt der Vernichtung statt. Die Ausgrenzung begann in den Städten und Dörfern in ganz Europa, in der unmittelbaren Nachbarschaft unserer Großeltern und Eltern.

Mehrere Jahrzehnte nach der Befreiung wurden Verbrechen negiert, verharmlost; Täter blieben unbehelligt. Man redete nicht darüber. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Schoah gab es nicht einmal in der Schule. Heute ist das anders, auch in dieser neuen österreichischen Länderausstellung. Wir gedenken nicht mehr alleine als jüdische Gemeinde, sondern gemeinsam mit der Staatsspitze und mit Jugendlichen aus ganz Österreich. Heute und in Zukunft: vielen Dank allen Beteiligten, insbesondere dem Nationalfonds der Republik Österreich.

Leider höre ich immer wieder: Genug! Hören Sie schon auf, über den Holocaust zu reden! Oder: Ich war damals nicht auf der Welt. – Diesen Leuten antworte ich mit den Worten des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi: „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“

Sehr geehrte Damen und Herren, die Erinnerung dient der Zukunft, unseren Kindern und späteren Generationen. Auch deshalb ist die neue österreichische Länderausstellung in Auschwitz so bedeutsam. Sie ermöglicht eine Auseinandersetzung mit dem Geschehenen. Es gibt nicht nur um Statistiken, es geht um Menschenleben. Meine Großmutter Berta Beile Deutsch wurde 1943 aus Cluj, damals Klausenburg genannt, nach Auschwitz deportiert. Am Vortag ihrer Deportation, am 24. Mai 1943, begann sie, ihren Brief an ihre jüngste Tochter Aranka zu formulieren, den sie wenige Stunden vor der Deportation vervollständigte. Ich darf Ihnen aus dem Brief, der in Yad Vashem archiviert ist, vorlesen:

Mein teures Kind, sicherlich wurdest du bereits von Zita verständigt, dass wir uns auf den Weg machen, leider. Vielleicht hilft der liebe Gott und wir gehen nicht. Möge der liebe Gott Nissim – übersetzt: ein Wunder – geben. Aber leider sieht es nicht so aus, weil alle Geschwister schon weggefahren sind. Nur die Zita ist oft zu Hause. Deinem Vater geht es Gott sei Dank gut im Krankenhaus. Wir bleiben aber wegen der Schwäche der alten Frau zu Hause und haben alles gepackt. Wir nehmen so viel mit, wie man pro Person braucht.

Teures Kind, wir stehen vor sehr großen Schwierigkeiten. Falls du keine Post von uns bekommst, sei nicht traurig. Sicherlich will es der liebe Gott so, denn wenn er will, dass wir am Leben bleiben, dann schickt er Nissim. Mein teures Kind, sei nicht traurig wegen uns, sei stark, und bitte pass auf dich auf, weil wir heute in so einer Welt leben, in der jeder auf sich selbst aufpassen muss. Meine Teure, sei stark, damit du alles ertragen kannst. Dudika ist im Ausland, Imre, der Familienretter und der Kopf der Familie, ist in (phonetisch) Warat. Gebe der Gute, dass sie dort bleiben.

Mein süßes Kind, ich habe nichts, was ich schreiben kann, nur so viel: dass du sehr stark sein sollst. Pass auf dich auf! Wenigstens du sollst imstande sein, die Übrigbleibenden aufzuheitern. Vielleicht bleibt trotzdem jemand aus der Familie übrig. Ich hätte es sehr gerne, wenn du dem Imre ein paar Telegramme und Karten schreibst, solange er noch in (phonetisch) Warat ist.

Miszu, Goldiger, ich bitte dich sehr, sei ein treuer Vertreter von Vater und Mutter bis der liebe Gott hilft und wir uns wiedersehen. Meine Teuren, die Zeit ist gekommen, wenn man alles loslassen muss. Nur die Gesundheit bleibt. Pass auf dich auf, Goldige, weil es noch gibt wofür zu leben. Ich küsse euch beide. Ich wünsche, dass du deine Kraft sammelst, dass du isst. Ich küsse dich in heißer Liebe, deine Mutter. Ich küsse jeden Verwandten.

Am Schluss schrieb sie hinzu: Teure Aranka, es ist halb acht morgens und wir warten, bereit, zu gehen. Ich schreibe nicht mehr, denke an uns, die dich immer geliebt haben und lieben und mit dir sind bis zur letzten Minute. Küss Millionen Mal auch deine Schwester, diese schlimme Hannah.

Berta Beile Deutsch, meine Großmutter, wurde in Auschwitz ermordet. Möge diese Ausstellung die Erinnerung an die Schoah wachhalten, damit so etwas nie wieder passiert.

*****

(Es folgt ein Musikstück.)

*****

Hannah M. Lessing: Ich darf Ihnen die drei folgenden Rednerinnen und Redner vorstellen. Als Vertreter der polnischen Regierung spricht zunächst Piotr Gliński, Vizepremierminister und Minister für Kultur, nationales Erbe und Sport der Republik Polen. Unter den Opfern von Auschwitz waren auch viele Kämpferinnen und Kämpfer des polnischen Widerstandes, deren Andenken hier in der Gedenkstätte geehrt wird. Dass Polen nach der Befreiung dieses Staatliche Museum geschaffen und für die Länderausstellungen geöffnet hat, war eine bedeutende historische Geste.

Im Anschluss spricht die Bundesministerin für EU und Verfassung Karoline Edtstadler, die sich in Österreich durch ihr Engagement nicht nur mit der Stabstelle gegen Antisemitismus, sondern ebenso im Bereich der Gedenkkultur ausgezeichnet hat.

Danach geht das Wort an den Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten Alexander Schallenberg. Für ein grenzübergreifendes Lernen aus Geschichte braucht es die Vernetzung und die enge Zusammenarbeit zwischen den Ländern Europas und weltweit. In der International Holocaust Remembrance Alliance kommt dem Außenministerium in Kooperation mit dem Unterrichtsministerium und dem Nationalfonds eine zentrale zu, wenn es darum geht, die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit zu streuen. – Ich darf nun Piotr Gliński bitten.

Piotr Gliński (Vizepremierminister und Minister für Kultur, nationales Erbe und Sport): Sehr geehrte ehemalige männliche und weibliche Häftlinge der deutschen NS-Konzentrationslager! Überlebende! Herr Bundespräsident! Frau Schmidauer! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Anwesenheit von so vielen Menschen, die hier versammelt sind – Überlebende, Vertreter der Republik Österreich, religiöse Organisationen, Personen, die zur Bewahrung der Erinnerung und der Spuren der Vergangenheit beitragen – ist von großer Bedeutung, vor allem wegen der Anwesenheit der österreichischen Delegation mit dem Bundespräsidenten an der Spitze an diesem Ort und wegen dem, was Sie uns, die wir hier versammelt sind, mit der Eröffnung der österreichischen Ausstellung in Auschwitz-Birkenau vermitteln wollen.

Es kann nie zu viele solcher Tage geben, vor allem nicht an diesem Ort, der voller Gebet, Nachdenken und Erinnerung daran ist, wie tief ein Mensch fallen kann. Das Gedenken an die Opfer, die Ermordeten und die Überlebenden, die an Leib und Seele verletzt wurden, ist unsere Pflicht und Verantwortung, die wir auch an künftige Generationen weitergeben müssen. Das brutale und planmäßige Vorgehen des deutschen Naziterrors während des Zweiten Weltkriegs, das eindeutig gegen internationale Verträge und Vereinbarungen wie die Bestimmungen der Haager Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung eines eroberten Landes verstieß, hat dazu geführt, dass es auf dem Gebiet Polens Tausende von Gedenkstätten gibt, die von Verbrechen zeugen, die Millionen von Menschen das Leben gekostet haben.

Dazu gehört auch das Lager Auschwitz-Birkenau, der derzeit weltweit bekannteste Ort der Judenvernichtung, aber auch der Vernichtung von Roma und Sinti und anderen Völkern, vor allem Polen. Schließlich wurde dieses Lager als Ort der Vernichtung von Polen im besetzten Polen eingerichtet. In Kürze wird in Block 17 eine Ausstellung eröffnet, die von einer Fachinstitution, dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau vorbereitet wurde und die der Geschichte dieses Ortes gewidmet ist, die mit österreichischen Bürgern verbunden ist, den Opfern, die, die überlebt haben, aber auch den Tätern, die zu diesen immer noch schwer zu beschreibenden Verbrechen des Völkermords beigetragen haben.

Odilo Globocnik, der für die Durchführung der Operation Reinhardt verantwortlich war, Franz Stangl, Kommandant der Vernichtungslager Sobibor und Treblinka, Maximilian Grabner, Leiter der politischen Abteilung in Auschwitz, und Maria Mandl, Oberaufseherin des Frauenlagers Auschwitz II-Birkenau: Das sind nur einige Namen aus einer langen Liste von Tätern. Diese sind nur einige Namen. Es ist jedoch festzustellen, dass der Prozess, die Täter für ihre schändlichen Taten zur Rechenschaft zu ziehen, in den einzelnen Ländern unterschiedlich verlaufen ist und leider nicht alle Täter für ihre Taten zu dieser Rechenschaft gezogen worden sind.

Im Alltag sind wir uns dessen nicht bewusst. Die Weltöffentlichkeit ist sich dessen einfach nicht bewusst, aber mehr als 90 Prozent der Täter während des Zweiten Weltkriegs wurden nach dem Krieg nie bestraft – wie Generalleutnant der Waffen-SS Heinz Reinefarth, der Täter des größten Verbrechens an der Zivilbevölkerung während des Zweiten Weltkriegs, der Ermordung von etwa 50 000 polnischen Einwohnern, Kindern, Frauen und Alten des Warschauer Stadtteils Wola. Nach dem Krieg wurde er angesehener Bürgermeister der Stadt Westerland und machte politische Karriere als Abgeordneter des Schlesisch-Holsteinischen Landtages. Er hatte nie Konsequenzen für sein Verbrechen zu tragen.

Meine Damen und Herren, die Erzählung im Rahmen der Ausstellung in den Gedenkstätten sollte sich auf Fakten und Berichte von Überlebenden stützen. Sie sollte auch an authentischen Orten präsentiert werden wie heute, im Block Nummer 17 in der österreichischen Länderausstellung, die wir gleich eröffnen werden. Polen beobachten gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft die Fortschritte bei der verantwortungsvollen Gestaltung der Erinnerungspolitik durch die österreichischen Behörden. Wir wissen das zu schätzen, fragen aber gleichzeitig: Warum so spät? Warum erst 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges?

Ich möchte an dieser Stelle an das Regierungsprogramm 2020 bis 2024 der derzeitigen Koalition in Österreich erinnern, in dem unter anderem folgende Ziele für die Erinnerungspolitik genannt werden: die Entwicklung einer Erinnerungsstrategie mit garantierter Finanzierung für Organisationen unter der Schirmherrschaft des Parlaments. Der Nationalrat mit seinem hier vertretenen Präsidenten Wolfgang Sobotka ist der Organisator der heutigen Zeremonie. Aus polnischer Sicht ist die Entwicklung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen-Gusen sehr wichtig. Im Mai dieses Jahres gab die österreichische Regierung bekannt, dass sie einen Teil des Geländes des Lagers Gusen erworben hat. Im Namen der Opfer und im Namen Polens, das seit mehr als sieben Jahrzehnten dafür Sorge trägt, dass jeder Ort des Gedenkens an die Opfer des Holocaust, an die Opfer von Verbrechen gegen nationale und ethnische Gruppen und religiöse Gemeinschaften für immer beschützt wird, und im Namen Polens, das einen bedeutenden Teil seiner Intelligenz in Usen verloren hat, möchte ich den hier anwesenden österreichischen Vertretern für ihre konkreten Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Gedenken danken, für die heutige Ausstellung und für den Erwerb von vernachlässigten Grundstücken auf dem Gelände des Lagers Gusen. Wir alle müssen uns jedoch darüber im Klaren sein, dass dieser Prozess nicht abgeschlossen ist, dass die Pflicht weitere Maßnahmen erfordert. Vor uns liegt die größte Herausforderung, die Erschließung der Überreste des Lagers, um dort einen würdigen Ort des Gedenkens zu schaffen. Polen hat viel Erfahrung in diesem Bereich und ist bereit, auf jede erdenkliche Weise zu kooperieren.

Meine Damen und Herren, es gibt viele Orte, an denen deutsche Verbrechen des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, darunter Auschwitz-Birkenau, Bełżec, Sobibur, Kulmhof, Maidanek, Stutthof und Treblinka in Polen sowie in Dachau, Flossenbürg und Buchenwald im heutigen Deutschland und Mauthausen und Gusen in Österreich. Die Geschichte einiger Auschwitz-Häftlinge setzte sich im Doppellagersystem Mauthausen-Gusen fort, wohin sie aus Angst vor einer Offensive an der Ostfront transportiert wurden. Aus polnischer Sicht ist Gusen eine der schockierendsten Gedenkstätten. Von den fast 78 000 Häftlingen aus vielen Ländern wurden fast 45 000 ermordet oder starben an den unmenschlichen Bedingungen im Lager. Unter diesen Opfern waren 27 000 Polen.

Als internationale Gemeinschaft müssen wir uns um diese Gedenkstätten kümmern, um ihre Erhaltung, um ihre dokumentarische und erzieherische Funktion und um ihre Rolle im Leben der Nachkommen der Opfer, die einen Ort fordern, an dem sie sich an ihre Vorfahren erinnern können. Vergessen wir auch nicht die Bedeutung, die diese Orte für die Nachkommen der Täter haben, für verschiedene Gruppen, Gemeinschaften, die diese gern aus ihrem Gedächtnis und im allgemeinen Gedächtnis gerne löschen würden. Ich betrachte mit großer Sorge die Bilder und Berichte über vernachlässigte und ungeschützte Orte, an denen die Spuren historischer Ereignisse auf natürliche Weise ausgelöscht werden.

76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es immer noch den Bedarf an würdigen Gedenkstätten, Mahnmalen, Museen und Dokumentationsausstellungen. Deshalb danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihr jüngstes Handeln. Ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, und ich glaube, dass dies geschehen wird, solange die Zeitzeugen dieser Ereignisse, die Überlebenden, die dem tragischen Tod entkommen sind, noch am Leben sind. Ich glaube, dass wir in der Lage sein werden, uns bei einem ähnlichen Anlass, bei einer ähnlichen Gedenkfeier in Gusen treffen zu können. Als Vertreter der polnischen Regierung, als der für den Bereich der Änderung zuständige Minister erkläre ich erneut unseren Willen zur Zusammenarbeit.

Karoline Edtstadler (Bundesministerin für EU und Verfassung): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident! Sehr geehrter Herr Vizepremierminister! Geschätzte Ehrengäste! Vor allem aber: hochgeschätzte Überlebende! Liebe Schülerinnen und Schüler! Auschwitz – wie kein anderer Ort der Welt steht Auschwitz für die Hassverbrechen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes. Auschwitz ist international zum Inbegriff einer beispiellosen, industrialisierten Vernichtungsmaschinerie geworden, die Millionen von Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Homosexuelle, politisch, religiöse und weltanschauliche Gegner verfolgt, enteignet, erniedrigt, gefoltert, entmenschlicht und ermordet hat. Auschwitz ist zum Inbegriff der Schoah geworden, dem größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Auschwitz ist zum tiefsten Abgrund des menschlichen Wesens geworden und steht für das verheerende Erbe, das auf uns Österreicherinnen und Österreicher und auf uns Europäerinnen und Europäer bis heute schwer lastet. Auschwitz darf niemals in Vergessenheit geraten oder gar banalisiert werden – niemals.

Die Wurzeln des Hasses sind bis heute in der Mitte, ja in der Tiefe der Gesellschaft, vorhanden. Mehr als 70 Jahre nach dem Ende der Schoah nimmt Antisemitismus in ganz Europa, ja weltweit, zu. Der Auschwitz-Überlebende Karl Stojka hat einmal gesagt – Zitat –: „Es waren nicht Hitler oder Himmler, die mich verschleppt, geschlagen und meine Familie erschossen haben. Es waren der Schuster, der Milchmann, der Nachbar“. Es ist die gesamte Gesellschaft, die im Kampf gegen Hass gefragt ist. Wenn sich bei Coronademonstrationen Menschen mit Holocaustopfern vergleichen, wenn Davidsterne zu Judensternen verunglimpft werden und getragen werden, wenn Siegheilrufe zu hören sind oder wenn Coronaimpfgegner in sozialen Netzwerken Zyklon B, das Nervengift, mit dem Impfstoff gleichsetzen, ja dann ist jeder und jede aufgerufen, dagegen aktiv aufzutreten. Es liegt in unserer Verantwortung, aufzustehen und solche abscheulichen Entgleisungen zu verurteilen. Keinesfalls dürfen sie stillschweigend toleriert werden. Das ist das Mindeste, das wir tun können. Das ist unsere Pflicht gegenüber den Millionen unschuldig ermordeten Opfern.

Unser Land hat diese Verantwortung viel zu spät übernommen und es lange Zeit den Überlebenden und den Nachkommen von Opfern selbst überlassen, Aufklärungsarbeit zu betreiben und Täterinnen und Täter zu stellen; eine Verantwortung, zu der wir uns heute umso nachdrücklicher bekennen und der wir uns niemals wieder entziehen dürfen. Daher bin ich auch sehr dankbar, dass es gelungen ist, hinsichtlich wichtiger Areale des ehemaligen Konzentrationslagers Gusen uns auf einen Ankauf zu einigen und in weiterer Folge werden wir selbstverständlich mit unseren internationalen, nationalen und regionalen Partnern die dortige Gedenkstätte entsprechend weiterentwickeln.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, all diese Schreckensorte müssen uns sichtbare Mahnung sein, damit nicht das passiert, wovor Simon Wiesenthal gewarnt hat – Zitat –: „Wenn wir vergessen, dann wird es sich wiederholen“. Die neue Österreich-Ausstellung gibt sichtbares Zeugnis dieser österreichischen Verantwortung, dieses Bekenntnisses zu dieser Verantwortung. Mein Dank gilt allen Verantwortlichen, die an dem Entstehen hier mitgewirkt, beigetragen haben, insbesondere dem Nationalfonds, an der Spitze Hannah Lessing. – Liebe Hannah, vielen Dank für dein Herzblut, vielen Dank für euer Engagement, vielen Dank für Ihre Beharrlichkeit.

Alexander Schallenberg (Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten): Hier ist der Ort des Unaussprechlichen. Wenn es einen Ort gibt, an dem die Grenzen der Sprachen, die Unmöglichkeit, Empfindungen tatsächlich in Worte zu fassen, klarmacht, dann ist es hier. Hier ist der Ort des Unaussprechlichen. Und doch muss man genau hier seine Stimme erheben. Man muss hier seine Stimme erheben, um der Opfer zu gedenken, um ihnen jene Würde zu geben, die ihnen so grauenhaft und qualvoll geraubt wurde. Sechs Jahre lang wurden in diesem Vernichtungslager Menschen entmenschlicht und ermordet. Menschen aus ganz Europa, darunter unzählige Jüdinnen und Juden, wurden hier Opfer eines widerwärtigen, unmenschlichen Regimes und seiner Handlanger. Dieses unfassbare Leid ist für uns nachfolgende Generationen in seiner Ungeheuerlichkeit und Bestialität kaum begreiflich. Es erfasst mich sehr tief, heute hier zwei Österreicher zu sehen, die maßgeblich an unserer Gedenkkultur in Österreich ihren Anteil haben: Hannah Lessing und Oskar Deutsch. Beide haben hier in Auschwitz Familienmitglieder verloren. Das ist ergreifend.

Aus Österreich kamen aber nicht nur Opfer, sondern auch Täter, allzu viele Täter, unter anderem als Teil der Wachmannschaften. Die heute eröffnete österreichische Ausstellung stellt sich ohne jegliche Scheuklappen auch diesem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte und sie räumt klar die historische Verantwortung unseres Landes ein. Wir müssen uns den Schatten der Vergangenheit stellen – sei es als Staat, als Politikerinnen und Politiker oder als Individuen –, denn nur so kann es uns gelingen, aus einem Niemals-Vergessen ein Nie-mehr-wieder zu machen. Mein Dank gilt in diesem Sinne ausdrücklich all jenen, die an der Entstehung dieser wirklich beeindruckenden Ausstellung mitgewirkt haben.

Sehr geehrte Damen und Herren, es braucht diese offene und ehrliche Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, um uns gerade gegen Hass und Intoleranz zu wappnen. Letztlich sind Worte aber nur Hülsen, wenn sie nicht mit Leben erfüllt werden. Daher engagiert sich Österreich auch mit seiner Außenpolitik laufend, um gegen Antisemitismus, Gewalt, Hass und Diskriminierung weltweit aufzutreten.

Beispielsweise – es wurde schon erwähnt – im Rahmen unserer seit 2001 bestehenden Mitgliedschaft in der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken. Oder etwa im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf. Wir werden morgen gemeinsam mit der Tschechischen Republik und der Slowakei eine internationale Erklärung zur Bekämpfung von Hass und Antisemitismus abgeben. Diesem von uns initiierten internationalen Pledge haben sich in der Zwischenzeit 38 Staaten weltweit von allen Regionen dieser Erde angeschlossen: von Deutschland, Israel, USA bis Argentinien, Japan und Armenien. Ich erwarte, dass sich bis morgen im Menschenrechtsrat noch weitere Staaten diesem Pledge anschließen werden, oder auch zuletzt im Rahmen der UNO-Generalversammlung in New York, wo ich Gespräche mit Vertretern der jüdischen Organisationen dazu nützen konnte, um das starke und nachhaltige staatliche Engagement aus Österreich zu erörtern, aber auch Handlungsoptionen für zukünftige Maßnahmen, die wir national oder international setzen müssen.

Sehr geehrte Damen und Herren, trotz aller Maßnahmen, aller Reden, trotz allen Engagements: Es wäre nicht nur trügerisch, es wäre geradezu lebensgefährlich, zu glauben, wir seien vor einer Wiederholung der Geschichte gefeit. Gerade deswegen kommt dem Gedenken, der aktiven Auseinandersetzung, dem Nicht-Vergessen und somit Orten wie diesem – Orten mahnender, schmerzhafter Erinnerung – enorme Bedeutung zu, denn es bleibt unsere Pflicht, das Vergessene und Verdrängte in die Gegenwart hereinzuholen, um die Zukunft zum Besseren zu gestalten. Die erschütternde Botschaft, die von diesem Ort ausgeht, soll uns allen eine Mahnung sein, dass eine drohende Wiederkehr der Vergangenheit nur durch zukunftsfähige Erinnerung aufgehalten werden kann. – Ich danke Ihnen.

*****

(Es folgt ein Musikstück.)

*****

Hannah M. Lessing: Was Kunst und Kultur betrifft, so hat die NS-Herrschaft in Österreich einen gewaltigen Aderlass bedeutet. Künstlerinnen und Künstler wurden vertrieben oder wie Gideon Klein ermordet. Österreich war nach 1945 um vieles ärmer. Die Kunst mit ihrer universellen Sprache vermag Menschen in besonderer Weise zu erreichen. Deshalb sind im Bereich der Gedenkkultur Kunstprojekte so besonders wertvoll und werden vom Nationalfonds auch gerne gefördert. Auch die Politik ist gerade in Zeiten der Krise aufgefordert, Kunst zu stärken, die das Gedenken und das Lernen aus Geschichte zu den Menschen bringt. Ich übergebe das Wort an Staatssekretärin im Bundesministerium für Kunst und Kultur Andrea Mayer.

Andrea Mayer (Staatssekretärin im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport): Verehrter Herr Bundespräsident! Liebe Doris Schmidauer! Herr Nationalratspräsident! Frau Zweite Nationalratspräsidentin! Werte Regierungsmitglieder aus Polen und Österreich! Exzellenzen! Verehrte Überlebende! Werte heutige Gedenkgemeinde! Die Schriftstellerin und Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger hat im Jahr 2011 in einer Rede im österreichischen Parlament zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus gesagt: „Wir sind nicht vorprogrammiert. Ein Rechtsstaat bleibt nicht unbedingt ein Rechtsstaat. Seine Bewohner können ihre Vorstellungen und Absichten jederzeit auch anders überlegen.“ Unser Selbstbestimmungsrecht führe zum Fortschritt, meinte sie, und zum Guten; manchmal aber führe es ins abgrundtief Böse.

Der Block 17 von Auschwitz ist ein Symbol für den Niedergang der damaligen österreichischen Gesellschaft, ein Symbol für dieses abgrundtief Böse. Der Titel „Entfernung – Österreich und Auschwitz“ kann auch als Hinweis auf die chronologische Distanz zwischen dem frühen Beginn der Verhetzung, der Diskriminierung und des Schürens von Hass bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einerseits und dem Ausbruch des Furors in den 1930er- und 1940er- Jahren andererseits gelesen werden. Es ist entscheidend, dass beide Teile reflektiert werden: der scheinbar noch harmlose Beginn dort und das grausame Ende hier.

In der neuen Ausstellung wird das Schicksal der österreichischen Opfer eine ständige Mahnung für heutige und kommende Generationen sein. Sie wird umso stärker wirkmächtig und erkenntniserhellend sein, da neben Opfervertretern und ‑vertreterinnen und Wissenschafterinnen und Wissenschaftern auch Künstlerinnen und Künstler beigetragen haben. Es brauchte diese neuen Wege, weil uns die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen ihre Geschichten bald nicht mehr erzählen können, sondern es der mittelbaren kreativen Erzählung bedarf. Hier ist die Kunst, sind Künstlerinnen und Künstler im Besonderen gefordert und gefragt.

Wenn wir die Bilder von Auschwitz sehen, über die Schicksale lesen, wenn wir in unerbittlicher Schärfe realisieren, wie wir die Kultur unseres Landes vernichtet haben, wird in uns der Ruf nie wieder übermächtig. Dieser Ruf braucht aber auch den zweiten, jenen des Wehret-den-Anfängen. Hier heißt es, sorgfältig zu sein: Wenn das abgrundtief Böse, das die Künstlerin Ruth Klüger erlebt und über das sie geschrieben hat, sich tief in die Gesellschaft eingenistet hat, ist es zu spät. Wir müssen als Politiker und Politikerinnen und als Zivilgesellschaft frühzeitig einen Wall gegen Diskriminierung, Hass und antidemokratische Tendenzen aufziehen. Das Gedenken an die Schoah muss im kollektiven Gedächtnis weiterhin verankert bleiben, nicht als leere Hülle, nicht als isoliertes Ereignis, sondern als ständiger Auftrag für unser gesellschaftliches Zusammenleben. Dazu müssen wir – und das wird die Ausstellung in Block 17 leisten – die Sprache und Kultur der jungen Generation verwenden.

Als für Kunst zuständige Politikerin möchte ich besonders an die vielen Künstlerinnen und Künstler erinnern, die durch den nationalsozialistischen Terror ihr Leben lassen mussten. Viele von ihnen waren auch hier in Auschwitz. Wir dürfen aber auch nicht aus den Augen verlieren, dass es auch Künstler und Künstlerinnen waren, die den Nationalsozialismus propagandistisch unterstützt haben. Umso mehr sind Künstlerinnen und Künstler von heute gefragt, mit ihren Mitteln zur Sicherung unserer Demokratie beizutragen und alle Irrwege unserer Gesellschaft schonungslos aufzuzeigen.

Meine Damen und Herren, gemeinsam müssen wir das Gedenken und das Nachdenken hochhalten. Gemeinsam müssen wir verhindern, dass solch unfassbares Unrecht jemals wieder geschieht. Aus dem Dort darf nie wieder ein Hier erwachsen.

Hannah M. Lessing: Auschwitz ist ein Symbol geworden für das Böse an sich, hat der Holocaustüberlebende und Historiker Yehuda Bauer gesagt. Auschwitz ist aber auch ein einzigartiger Lern- und Erinnerungsort für die Menschheit. Die internationale Staatengemeinschaft ist hier verbunden durch die gemeinsame Erinnerung; Erinnerung an Schmerz, Leid und millionenfachem Mord, die das nationalsozialistische Deutsche Reich über Europa gebracht hat; ein Leid, an dem auch Österreicherinnen und Österreicher ihren Anteil hatten; Erinnerung aber auch daran, dass die Schreckensherrschaft damals durch gemeinsame Anstrengung überwunden wurde. So wurde Auschwitz auch zu einem Symbol für das gemeinsame entschlossene Bekenntnis zum Niemals-wieder.

Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau zu leiten ist mit einer großen Verantwortung verbunden. Es bedeutet, Hüter der Erinnerung zu sein. Seit Piotr Cywiński diese Aufgabe übernommen hat, ist Auschwitz als Gedenkstätte zu einem Vorbild – nicht nur für Europa, sondern weltweit – geworden. Er hat mit der Auschwitz-Stiftung erreicht, dass zahlreiche Länder weltweit bereit sind, zum ewigen Erhalt dieser Gedenkstätte beizutragen. Ich danke dem Staatlichen Museum, seinem Direktor Piotr Cywiński und seinem Team für die großartige Zusammenarbeit beim Werden dieser Ausstellung; eine Zusammenarbeit, die uns gefordert, aber auch zugleich verbunden hat. In diesem Sinne übergebe ich das Wort dem Hausherrn.

Piotr Cywiński (Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau): Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sehr geehrter Herr Nationalratspräsident! Meine Damen und Herren! Wir werden bald in die Ausstellung gehen und wir werden auch den Ermordeten unseren Respekt zollen. Zwei Begriffe werden uns dabei begleiten: Geschichte und Erinnerung. Das sind miteinander sehr eng verknüpfte, aber keine synonymen Begriffe. Geschichte besteht aus Fakten, Daten, Zahlen, Ereignissen. Die Erinnerung dagegen verbindet sich viel stärker mit der Erfahrung, mit Erwachsenwerden, mit Verantwortung – wie ein kleines Kind, das langsam wächst, Erfahrungen sammelt und immer reifer, mündiger, verantwortungsvoller wird.

Die Erinnerung ist eben der Schlüssel – nicht, um die Vergangenheit zu verstehen, nein, und sicherlich nicht der einzige. Die Erinnerung ist der Schlüssel für einen Entwurf unserer Zukunft. Die Erinnerung ist in dem verwurzelt, was war, kommt aber heute zum Tragen. Wenn wir diese Länderausstellung an dieser Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau heute eröffnet, so müssen wir daran denken: Es ist auch der Ort der absolut konstitutiven Charakter für die Nachkriegsgeschichte Europas und vielleicht der ganzen Welt. Es ist nicht nur eine Gedenkstätte, wie wir das manchmal etwas verharmlosend bezeichnen. Bevor es zur Gedenkstätte wurde, war es eine Folterstätte, der Ort von grausamen Menschenerfahrungen.

Hier sind wir jetzt, an diesem Ort. Deswegen ist diese Ausstellung, wenn sie hier entstanden ist, keine Ausstellung, die auf welche Art und Weise auch immer mit einer Ausstellung zu vergleichen wäre, sollte sie anderswo gezeigt werden. Sollte sie an einem anderen Ort gezeigt werden, dann ist es eine vollkommen andere Ausstellung. Daran müssen wir denken, wenn wir heute im Sinne der Erinnerung durch diese Ausstellung gehen. Viele Menschen, viele Einrichtungen – ja, das stimmt. Daran wurde sehr lange gearbeitet. Ich danke allen ganz, ganz herzlich.

Stellvertretend aber für viele möchte ich zwei Personen auszeichnen. Die erste – da teile ich die Auffassung von Marian Turski – ist Hannah Lessing. Ohne ihre Dialogbereitschaft, Diskussionsfreudigkeit – Streitigkeiten gab es wohlgemerkt auch –, aber auch die Fähigkeit, dort hinzugehen, wo die gemeinsamen Lösungen gefunden werden können, auch die Fähigkeit, dem nicht zuzustimmen, was absolut unzulässig ist - - Österreich hat mit dieser Ausstellung durch Hannah Lessing sehr, sehr viel gewonnen.

Mein zweiter Dank – das darf hier nicht fehlen – geht an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, mein Team der Gedenkstätte, ohne die wir uns hier nicht hätten versammeln können, die uns begleitet haben durch die restauratorischen Maßnahmen in Block 17 und durch alle Etappen der Entstehung dieser Ausstellung. Das sind Menschen, auf die ich mich immer verlassen kann, denen ich volles Vertrauen schenken kann. Ihnen gilt mein herzlichster und aufrichtigster Dank. Ich wünsche uns allen, dass dieser Tag – egal welche Funktion wir hier erfüllen – zu einem Tag wird, an dem wir in Erfahrung reifen und in Verantwortung erwachsen werden. – Danke sehr.

Hannah M. Lessing: In Österreich herrschte nach dem Ende der NS-Herrschaft über Jahrzehnte Schweigen. Doch wie schon der lateinische Schriftsteller Aulus Gellius vor beinahe 2 000 Jahren erkannt hatte: Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit. – Sein Gedanke hat durch die Jahrhunderte seine Gültigkeit bewahrt und trifft auch zu, wenn es um den Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit geht. Erst der Lauf der Zeit, der Wechsel der Generationen brachte den Wandel im historischen Selbstverständnis Österreichs weg vom Mythos des ersten Opfers hin zum Einbekennen der historischen Mitverantwortung. Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit.

Gestaltet hat die neue österreichische Ausstellung ein Team von Kuratorinnen und Kuratoren unter der Projektleitung von Hannes Sulzenbacher und unter der wissenschaftlichen Leitung von Albert Lichtblau. Die Sanierung des Gebäudes hat Baumeister Johannes Hofmeister begleitet. In Zusammenarbeit mit dem Architekten Martin Kohlbauer wurde mit großer Hingabe ein Ort geschaffen, der österreichische Geschichte und Auschwitz verknüpft und auch kommenden Generationen davon erzählen wird: wahrhaftig, ungeschminkt, schmerzhaft, heilsam. Heute ist die rechte Zeit und der rechte Ort, Ihnen allen ebenso wie meinem Team, der Koordinierungsstelle im Nationalfonds unter der Leitung von Claire Fritsch, für ihre großartige Arbeit zu danken.

Dank gebührt aber auch zwei früheren Nationalratspräsidentinnen: Barbara Prammer, unter deren Präsidentschaft dieses große Projekt begonnen wurde, und Doris Bures, die mit großer Hingabe das Projekt begleitet hat. Ich darf nun stellvertretend für das kuratorisch-wissenschaftliche Team Hannes Sulzenbacher und Albert Lichtblau zu einem kurzen Gespräch einladen.

Lieber Hannes, lieber Albert, ihr habt gemeinsam mit Barbara Staudinger, Siegfrid Göllner, Birgit Johler und Christiane Rothländer diese Ausstellung gestaltet. Es war ein unglaublich komplexes Projekt – der Direktor hat es vorhin auch schon erwähnt und auch Marian hat darüber gesprochen –, das euch über Jahre beschäftigt hat. Ich würde gerne mit dir, Hannes, anfangen: Wie würdest du die Grundidee dieser Ausstellung zusammenfassen?

Hannes Sulzenbacher (Kurator): Es wurde heute schon sehr viel gesagt. Vielen Dank für diese Frage. Sehr geehrte Damen und Herren! Über die Frage der Täterschaft Österreichs; ein Land zu sein, das hier gleichzeitig Täter- und Opferland ist, das war eine große Herausforderung für uns. Wir haben uns bemüht, die Täter nicht sozusagen in einer Täterecke in der Ausstellung zu erzählen, sondern deren Handeln an diesem Ort mit den Schicksalen der Opfer direkt zu verschränken, um zu zeigen: Jedes Mordopfer braucht einen Mörder.

Was die Grundidee für diese Ausstellung betrifft, hat uns noch etwas anderes sehr stark beschäftigt, und zwar: Wie sollen wir an einem Ort wie diesem österreichische Geschichte erzählen, an einem internationalen Ort wie diesem, an einem, wo österreichische Geschichte so bedeutungslos erscheint? Gleichzeitig war es natürlich klar: In einer österreichischen Ausstellung in Auschwitz-Birkenau, in dieser Gedenkstätte wird man erzählen müssen von der Vorgeschichte des Nationalsozialismus in Österreich, vom Anschluss, von der Vorbereitung der Deportationen.

Wir haben dann versucht, ein Modell zu finden, etwas, wie das vielleicht nicht nur intellektuell erfahrbar ist, sondern dass das auch visuell und emotional erfahrbar wird. Wir haben uns für etwas entschieden, das sich Ihnen, wenn Sie dann in die Ausstellung gehen werden, gleich erschließt. Es ist ein Hier, Auschwitz, und es ist ein Dort; das Dort ist Österreich. Dieses Dort wird nicht mit echten Objekten gezeigt, dieses Dort wird nur auf Monitoren gezeigt. Das ist für die, die nach Auschwitz gebracht wurden, für die, die hier Häftlinge waren, war das nur mehr Erinnerung, war das nur mehr Chimäre, und war das bei aller Wichtigkeit, die es früher einmal hatte, bedeutungslos und vor allem nicht mehr greifbar. Was gezählt hat, war hier. Was gezählt hat, war, hier den heutigen Tag zu überleben. Deshalb haben wir versucht, diesem Dort etwas gegenüberzustellen, nämlich die realen Gegenstände, die realen Gegenstände, die alle nur direkt mit Auschwitz zu tun haben – sei es von der Täterseite, sei es von der Opferseite –, und der Versuch der Verbindung dieser zwei Orte, dieses Hier und des Dort, soll gleichzeitig zeigen, dass die Geschichten verschränkt sind, aber für jeden Menschen, der hier inhaftiert war, die Fäden auch gerissen waren.

Hannah M. Lessing: Danke vielmals. Albert, was können wir von einer Ausstellung an diesem Ort lernen?

Albert Lichtblau (Kurator): Wir haben in den Reden davor schon ganz viel gehört, was man lernen kann. Ich glaube, unsere Ausstellung wäre sinnlos, wenn man nichts davon lernt; dann hätten wir versagt. Ich möchte übrigens auch sagen: Es wäre schön, wenn es in Österreich einen Ort gibt, der sich so zentral mit dem Thema auseinandersetzt, eine Art Holocaust-Genozid-Museum. Es geht ja auch um andere Geschichten – ich sage nur Roma. Es sind einfach wichtige Orte, es sind Lernorte. Wir wissen natürlich aus der Wissenschaft, dass wir viel lernen können. Was mich immer beeindruckt hat: Ihr habt ja ein Buch mit Erinnerungen, die heute schon zitiert worden sind, herausgegeben. Wir können und müssen von den Überlebenden viel lernen. Wir können das, weil sehr viel dokumentiert ist.

Ich habe auch Karl Stojka für mich herausgenommen, weil ich ihn auch kannte und weil er mich als Roma begleitet hat. 1943 hat man 5 000 Roma aus Lackenbach hierhergebracht, in das sogenannte Zigeunerlager. Die wenigsten haben überlebt. Die Stojka-Familie ist zum Glück eine der wenigen, die es geschafft haben, und er hat etwas für mich sehr Schönes geschrieben. Er hat beschrieben, wie er in die Schulen geht und was er den Schülern und Schülerinnen sagt. Ich kann das nur sinngemäß sagen: Er hat immer erzählt, dass er am Ende gesagt hat: Gott hat nicht Amerikaner, nicht Juden, nicht Roma und Sinti geschaffen, sondern Gott hat Menschen geschaffen, und er hat ihnen aufgetragen, auf dieser Welt zu leben. Deswegen hat jeder Mensch ein Recht, auf dieser Welt zu leben.

Wir können viele solcher Sprüche für uns mitnehmen. Ich denke mir, wir können ganz viel lernen. Der eine Spruch ist immer: Wer ein Menschenleben rettet, rettet die ganze Welt; aus dem Talmud herausgenommen. Man kann sich fragen: Was passiert, wenn man den Spruch ins Negative dreht, was ja oft passiert. Wer kein Menschenleben rettet – was heißt das dann? Wer kein Menschenleben rettet, gefährdet die ganze Welt. Oder: Es geht uns die ganze Welt eines Menschen verloren. Das kann passieren.

Sprich – was ich sagen will –: Wir können aus der Geschichte ganz viel lernen. Die Wissenschaft ist eine Geschichte, aber es war uns auch immer wichtig, aus diesen Erinnerungen und Erfahrungen der Überlebenden, die doch so viel Wissen generiert haben, mitzunehmen.

Hannah M. Lessing: Danke. Ich habe jetzt noch eine eigentlich sehr persönliche Frage an euch beide: Seid ihr bei diesem herausfordernden Projekt an eure persönlichen Grenzen gestoßen?

Albert Lichtblau: Also wir haben auch dafür ein Beispiel: Oskar Deutsch liest den Brief von seiner Großmutter, Berta Beile Deutsch, vor. Wenn du Texte liest von Menschen, von denen du weißt, sie werden ganz kurz danach ermordet – also wo stehst du da? Als Historiker können wir sehr viel erklären, wir können die Vorgänge erklären – wie kommt es zu Massengewalt? –, wir können ganz bestimmte Muster erklären und das ist ganz wichtig, damit wir zukünftig andere Genozide rechtzeitig verhindern. Es gibt Alarmglocken, die uns allen bewusst sein müssen, aber irgendwo stoßen wir immer an die Grenze. Das war ein Beispiel, das wir jetzt alle miteinander haben teilen können.

Nur ein Beispiel aus der Arbeit, die wir alle gemacht haben – wir sind immer wieder an unsere psychischen Grenzen gestoßen –: Morgen ist jener Tag, an dem Aron Menczer mit einer Gruppe von über 1 000 Waisenkinder aus Białystok von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert wurde. Das ist 78 Jahre her. Er hätte das nicht müssen, er ist mit dieser Gruppe von Waisenkindern in der Gaskammer ermordet worden. Was wir als Geschichte können, was wir versuchen, ist sozusagen Muster anzubieten: Wie kommt es dazu? Es ist oft gefallen: Es ist unverständlich, aber wir müssen trotzdem versuchen, zu verstehen. Zum Beispiel auch, was die Täter betrifft: Wie kommen Architekten dazu, hierherzugehen und Krematorien zu zeichnen, zeichnen zu lassen, den ersten Plan von Birkenau zu machen? – Du kommst an dein Limit, aber trotzdem müssen wir es versuchen. Wir haben es probiert und sind an unsere Grenzen gestoßen.

Hannah M. Lessing: Hannes ist auch irgendwo an seine Grenzen gestoßen.

Hannes Sulzenbacher: Durchaus. Am Ende der Ausstellung gibt es ein Zitat von Ruth Klüger, das heißt: „Man sagt, ,Nie wieder‘ und dann schauen Sie sich einmal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren.“ – Das würde ich als meine persönliche Grenze beschreiben, die ständig gefordert war, denn auf der ganzen Welt passiert es – nicht Auschwitz, aber es passiert die Erfindung von Minderheiten, die Beschimpfung von Minderheiten, es werden Gründe erfunden, sie für minderwertig zu erklären, sie werden verfolgt. Auf der Welt wird entsetzliche Gewalt durchgeführt, und wenn Srebrenica oder Ruanda geschehen – wir schauen ja gar nicht weg, wir schauen ja hin - - In diesem Sinne teile ich nicht den Optimismus der Vorrednerinnen und Vorredner, dass der Auftrag, den wir von hier bekommen haben, einer ist, der offenbar gehört wurde. Ich glaube, wenn wir für eine bessere Welt eintreten wollen, dann müssen wir vielleicht heute damit beginnen.

Auch wir als Ausstellungsteam möchten uns nur ganz kurz bedanken, natürlich bei dem Team der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, vor allem beim Nationalfonds und hier bei Hannah Lessing, bei Claire Fritsch und bei Michi Doujak. – Ohne euch würde es diese Ausstellung nicht geben. Vielen, vielen Dank.

Hannah Lessing: Danke vielmals für die persönlichen Worte und Erklärungen. Sehr geehrte Damen und Herren, es folgt nun ein Kurzfilm vom ORF mit einigen Bildern und Impressionen aus der Ausstellung.

*****

Es folgt eine Videoeinspielung:

Sprecher: Block Nummer 17 des Vernichtungslagers Auschwitz: Hier ist die neue österreichische Länderausstellung „Entfernung – Österreich und Auschwitz“ zu sehen. Porträt von Hermann Langbein, 1942 von einem unbekannten Maler angefertigt. Langbein ist Häftling im Stammlager Auschwitz. Nach dem Krieg sammelt er systematisch Informationen über das KZ-Personal. Die von ihm angelegten Karteikarten sind wichtige Grundlage für die Justiz bei der Verfolgung von NS-Tätern und ‑Täterinnen. Im März 1938 bejubeln Hunderttausende in Österreich den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und den Beginn der NS-Herrschaft. Andere Österreicher und Österreicherinnen, jüdische vor allem, erfahren Terror, Gewalt und Erniedrigung. Dieser Perspektivenwechsel zwischen Tätern und Opfern und ihren Handlungsmöglichkeiten ist der Leitfaden für die Ausstellung „Entfernung – Österreich und Auschwitz“.

Verbrechen, privat dokumentiert: Ludwig Hofer, Obergefreiter der deutschen Luftwaffe, macht diese Fotos. Das Kriegsalbum des Oberösterreichers zeigt die Zerstörung der deutschen Wehrmacht 1939 beim Angriffskrieg gegen Polen, Massengräber bei Auschwitz inklusive. Auch beim Aufbau des Lagerkomplexes Auschwitz ab dem Frühjahr 1940 sind Österreicher führend beteiligt. Sie bekleiden Schlüsselpositionen in der Lager-Gestapo und in der Bauleitung, also beim Bau der Gaskammern und Krematorien, tragen persönliche Verantwortung für den Massenmord. Den Häftlingen bleiben keine Möglichkeiten, gegen die absolute Entmenschlichung anzukämpfen und ihre Identität zu bewahren. Trotzdem können sich polnische und österreichische Häftlinge organisieren und eine Widerstandsgruppe bilden.

Ausweis der Kärntner Krankenschwester Maria Stromberger. Sie kommt im Herbst 1942 ins Krankenrevier des KZ, sie besorgt für Häftlinge Medikamente, versteckt und pflegt Kranke, befördert illegal Post und schmuggelt Waffen und Munition.

Das NS-Regime wird von vielen Österreicherinnen und Österreichern mit Jubel empfangen. Als Zeichen der Begeisterung wird auf die österreichischen Fahnen das Hakenkreuz aufgenäht. Zum Kriegsende wird das Hakenkreuz wieder entfernt. Durch einen weißen Mittelstreifen auf der Seite wird die rot-weiß-rote Fahne Österreichs wiederhergestellt. Der Maler und Illustrator Heinrich Sussmann zeichnet im KZ Auschwitz dieses Bild. Jahrzehnte später gestaltet der Wiener die Votivfenster für die österreichische Gedenkstätte des Auschwitz-Museums.

*****

Hannah M. Lessing: Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Bilder haben uns einen ersten Einblick in die neue österreichische Ausstellung gewährt. Für diejenigen, die hier in Auschwitz zur Eröffnung angereist sind, bietet sich die Möglichkeit, die Ausstellung im Anschluss in einer ersten Führung zu erleben. Alle, die dieser Feier auf den Bildschirmen gefolgt haben, und auch alle anderen Menschen in Österreich und darüber hinaus sind herzlich eingeladen: Besuchen Sie die österreichische Ausstellung hier im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und machen Sie sich ein eigenes Bild. „Entfernung – Österreich und Auschwitz“ erzählt ein wichtiges Stück österreichischer Geschichte. Auschwitz ist ein Teil unserer gemeinsamen europäischen Vergangenheit, vor der wir die Augen nicht verschließen dürfen. In diesem Sinne: Öffnen wir unsere Augen und unsere Herzen.

Never again. Dikh he na bister. Le'olam lo od. Nigdy więcej. Niemals wieder.

*****

(Es folgt ein Musikstück.)

*****