Rede des Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka an­läss­lich des Gedenktags gegen Gewalt und Rassismus im Ge­den­ken an die Opfer des Nationalsozialismus am 5. Mai 2020

Dienstag, 5. Mai 2020

Sehr geehrte Damen und Herren der Präsidialkonferenzen von Nationalrat und Bundesrat!
Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher zu Hause vor den Bildschirmen!

Wir stehen hier in für unsere Generation außergewöhnlichen Zeiten, dennoch im klaren Bewusstsein der Unvergleichbarkeit unserer Zeit mit jener, der wir heute gedenken.

Bei allen Sorgen, die uns derzeit plagen, bei allem Leid, das wir weltweit erleben, können wir auch dankbar sein – dankbar, dass unsere Gesellschaft heute hier in Österreich in ihren Grundfesten vom unerschütterlichen Festhalten an der demokratischen Rechtsstaatlichkeit und von Solidarität gegenüber allen ihren Mitgliedern geprägt ist; einer Solidarität gegenüber allen Menschen in unserer Gesellschaft, ohne Ansehen ihrer Religion, ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Alters oder ihrer Herkunft.

Mauthausen steht für das düstere Gegenteil all dessen, was unsere Gesellschaft heute ausmacht, gemeinsam mit Auschwitz, mit Treblinka, mit Majdanek, mit Buchenwald, mit Theresienstadt, mit Bergen-Belsen, Dachau, der Tiergartenstraße 4, dem Schloss Hartheim und dem Wiener Spiegelgrund. Wie unzählige weitere Orte des Schreckens in der Nazizeit steht Mauthausen für das Böse schlechthin, für Zynismus, für Selbstüberschätzung und Gewalt. Das Konzentrationslager Mauthausen ist ein Ort im Denken einer Gesellschaft, an den wir nie wieder zurückkehren wollen.

Aus einer konstruierten Verschiedenartigkeit der Menschen hatte der Nationalsozialismus ihre Verschiedenwertigkeiten abgeleitet. Die Menschen wurden, sowohl individuell als auch als Gruppen, in Höher-und Minderwertige geteilt, und für den einzelnen Menschen, für das Individuum gab es in dieser Weltanschauung keinen Platz. In diesem eugenischen Gesellschaftsentwurf wurde der Mensch auf seine bloße biologische Nützlichkeit reduziert. Er verlor seine personale Eigenberechtigung, wurde zum Verfügungsobjekt des Kollektivs, der politischen Willkür, die danach trachtete, die rassistische Qualität der eigenen Gruppe unter Ausmerzung der angeblich Untüchtigen zu heben.

Dieser tradierte Judenhass fand so seine pseudowissenschaftliche Legitimation. Heute, 75 Jahre nach der Befreiung der Gefangenen dieses Konzentrationslagers, gedenken wir aller Opfer dieses Irrsinns. Wir gedenken der Toten, wir gedenken der gepeinigten Überlebenden und wir tun dies in Demut und Scham.

Dieses Gedenken formt die starke Gewissheit, dass wir alles tun wollen, ja tun müssen, um dem Rassenwahn in unserem Land keinen Platz zu lassen. Unsere Generation hat dabei ein großes Privileg – ein Privileg, dass eine ebenso große Verantwortung wie Herausforderung darstellt –: Wir sind die Letzten, die noch aus der persönlichen Begegnung mit den Überlebenden lernen können, und so liegt es an uns, die Erinnerung anzunehmen und an die kommenden Generationen weiterzugeben.

Das jüngste meiner Kinder ist zehn Jahre alt. Wenn dieses Kind 35 Jahre alt sein wird, wird die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen 100 Jahre zurückliegen, also etwa so lange wie jetzt das Ende des Ersten Weltkrieges. Es liegt an uns, dass meinem Sohn und mit ihm seiner Generation sowie ihren Kindern und Kindeskindern die Erinnerung ebenso präsent, ebenso sehr von Bedeutung ist, wie uns heute.

Das ist schließlich auch eine Frage der Herzensbildung, denn: „Der Mensch handelt nicht nur gemäß dem, was er ist, sondern er wird auch, wie er handelt.“ – Gerade in diesem Zusammenhang gewinnen diese Worte Viktor Frankls, Arzt und Psychotherapeut, der in den Konzentrationslagern Deutschlands seine ganze Familie verlor, eine ganz besondere Bedeutung.

Dabei muss uns bewusst sein, dass der mörderische Judenhass, wie ihn die Forscherin Monika Schwarz-Friesel, die heute unter den gewohnten Bedingungen die Festrede gehalten hätte, heraus­gearbeitet hat, die Gesellschaft niemals von den extremen Rändern aus infiziert hat, sondern er immer auch aus der Tradition, die aus der Mitte der Gesellschaft heraus artikuliert und umgesetzt wurde – die Ränder dienten bestenfalls als Ausreden – entstanden ist, und dieser unseligen Tradition gilt es, den Kampf anzusagen. Es wird unsere Aufgabe und Verantwortung sein, diese Fackel der Erinnerung in die Zukunft zu tragen und nicht das Gift der Vergangenheit in die Gegenwart zu spritzen.

Centropa – wir haben es hier gesehen – ist ein wundervolles Projekt. Gemeinsam mit vielen anderen hält man die Erinnerung wach. Lassen Sie mich an dieser Stelle allen, die in diesem Geiste agieren, auch ein herzliches Dankeschön sagen. Sie leisten damit eine wertvolle Arbeit im Kampf gegen den Antisemitismus.

Stellvertretend darf ich mich heute bei den Diskutantinnen und Diskutanten bedanken: bei Barbara Glück, Hannah Lessing, Oskar Deutsch und Paulus Hochgatterer. Erst, wenn wir alle zu Kämpfern gegen den Antisemitismus werden, werden wir diese Geißel der Menschheit überwinden, denn am Ende zählt, wie wir alle jeden Tag aufs Neue unsere Gesellschaft gestalten und dies verantworten, und das auch in Zeiten noch so großer Herausforderungen.