Transkript der Veranstaltung:
NR- und BR-Präsidialkonferenzen Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus

Rebekka Salzer: Einen schönen Vormittag, meine sehr geehrten Damen und Herren! Herzlich willkommen zu dieser gemeinsamen Sondersitzung der Präsidialkonferenzen des Nationalrates und des Bundesrates.

Normalerweise sollte das Dachfoyer der Hofburg gefüllt sein mit vielen vielen Menschen, die der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen genau heute vor 75 Jahren gedenken wollen. Aber in Zeiten der Coronakrise dürfen nur einige wenige anwesend sein. Ich freue mich umso mehr, dass Sie zu Hause über den Fernsehschirm mit dabei sind, dass Sie gemeinsam mit uns den Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begehen.

Sie sehen es im Hintergrund, dieses Bild steht im Mittelpunkt des Gedenktages. Es ist eine Fotografie des US-Soldaten Paul Soldner. Es zeigt die Überlebenden, die das befreite Konzentrationslager Mauthausen verlassen.

Ja, wie können die Erinnerungen an diese schreckliche Zeit auch für die nachkommenden Generationen wachgehalten werden? Und wie findet Antisemitismus heute statt? Darüber werden wir in der kommenden Stunde sprechen.

Zunächst aber sehen Sie einen Beitrag von Claus Bruckmann über das Konzentrationslager Mauthausen. Anschließend darf ich Robert Seeber, den Präsidenten des Bundesrates, um seine Eröffnungsworte bitten.

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Es folgt eine Videoeinspielung:

Sprecher: Das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen ist heute eine internationale Gedenkstätte. Es ist eine Stätte, wo sich die Grausamkeit der Naziherrschaft in schrecklicher Weise zeigt. Nur fünf Monate nach dem Anschluss wurde das Lager errichtet. Oppositionelle, Roma und Sinti, Juden und andere Volksfeinde, wie die Nazis sie nannten, sollten hier nicht systematisch ermordet werden, sondern ihre Vernichtung sollte durch härteste Arbeit geschehen. Im Granitsteinbruch Mauthausen waren sie quasi Gratisarbeitskräfte. Die Propaganda verschwieg das natürlich.

Fast alle Werke, die jahrelang stilllagen, sind wieder voll beschäftigt, wie zum Beispiel hier, die Steinbrüche bei Linz.

Das Ziel der Nazis war, Ausbeutung bis zum Tod. Sie brauchten Granit, nicht zuletzt für die gigantische Ausbauprämie von Adolf Hitler für die nahe Stadt Linz, wo er seine Jugend verbracht hatte. Mauthausen war das einzige Vernichtungslager auf österreichischem Boden. Hier wurde jeden Tag geschuftet bis zur totalen Erschöpfung. Und wer krank war oder zu schwach, der wurde ermordet und verbrannt. Rund 190 000 Menschen wurden in Mauthausen und in seinen 40 Außenlagern inhaftiert, die Hälfte von ihnen kam ums Lebens.

Fast sieben Jahre war das KZ in Betrieb, ehe es als vorletztes Lager im gesamten Deutschen Reich von Amerikanern befreit wurde. Ihnen boten sich unbeschreibliche Bilder. Sie sahen völlig ausgemergelte Gestalten, von denen in den Wochen danach noch Tausende starben und überall lagen Leichenberge. Besonders berüchtigt war im Lager die sogenannte Todesstiege. Am Ende eines Arbeitstages musste jeder Häftling als Schikane einen Stein hinauf zum Lager tragen.

Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka, er ist studierter Historiker, macht gelegentlich persönlich Führungen durch die KZ-Gedenkstätte.

Wolfgang Sobotka: Dort ging die Stiege rauf. Man hat einen 20 kg Stein dort hinaufgeschleppt und raufgezogen. Das hat man meistens in einem Holztragerl am Rücken gehabt, dort wurde er hinaufgelegt oder man hat ihn so getragen. Es war eine körperlich extrem anstrengende Arbeit. Im Winter, wie im Sommer wurde hier das Steinmaterial geborgen.

Sprecher: Anschaulicher Unterricht als Mahnung an alle nachkommenden Generationen.

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Robert Seeber (Bundesratspräsident): Sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten! Sehr geehrte Mitglieder der Präsidialkonferenzen! Meine sehr geehrten Damen und Herren vor den Bildschirmen! Ich darf Sie heute sehr respektvoll begrüßen anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Mein besonderer Gruß am heutigen Tage gilt all jenen, die unter der NS-Herrschaft gelitten haben und ihren Angehörigen. Heute vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Mauthausen von der Armee der Vereinigten Staaten befreit. Im KZ Mauthausen wurden mehr als 200 000 Menschen interniert und etwa 100 000 Menschen brutalst ermordet. Und seit 1997 wird dieser Tag in Österreich als gemeinsamer Gedenktag des Nationalrates und des Bundesrates begangen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele von uns musste in den letzten Wochen erfahren, was es bedeutet, in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt zu werden. Nicht dorthin zu gehen, wohin man gehen wollte und nicht mit jenen zusammenzukommen, die man vermisst. Natürlich ist das kein Vergleich mit den Gräueltaten, die die Opfer des Nationalsozialismus erleiden mussten. Sie wurden eingesperrt, enteignet, geknechtet, gefoltert und ermordet. Ich sage das deshalb, weil in den letzten Tagen Menschen, die gegen die Coronaeindämmungsmaßnahmen der Regierung protestiert und demonstriert hatten, sich als Opfer, wie die Juden im Faschismus bezeichnet hatten.

Lassen Sie mich hier an dieser Stelle ganz klar sagen, solche Vergleiche sind nichts anderes als eine Verharmlosung des NS-Terrors. Es ist unser aller Aufgabe, solchen Verharmlosungen entschieden entgegenzutreten und jenen Menschen, Einhalt zu gebieten, die zu Gewalt und zu Hass aufrufen. Wir haben ja in den letzten Wochen erlebt, wie sich viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger für andere eingesetzt haben. Wie man sich um die Schwächsten in unserer Gesellschaft gekümmert hat und wie man mit anderen gefühlt hat, die sich zurückversetzt gefühlt hatten.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Den Opfern des NS-Regimes wurde dieses Mitgefühl, jetzt von einigen Ausnahmen abgesehen, nicht zuteil. Wie sehr hätten sie natürlich damals auch unser Mitfühlen und unser Mitdenken gebraucht. Unser heute selbstverständliches Eintreten für Demokratie und Gewaltlosigkeit wurde ihnen nicht zuteil. Das NS-Regime hat millionenfaches Leid verursacht. Unter der Terrorherrschaft der Nationalsozialisten wurden zahlreiche Verbrechen an ethnischen, religiösen und anderen Minderheiten verübt. Der systematische Völkermord an den europäischen Juden ist in der Geschichte Europas beispiellos. Meine Damen und Herren! Niemals wieder dürfen wir zulassen, dass Menschen, Juden und Andersdenkende Behinderte hinrichten, Sinti, Roma, Homosexuelle oder Zeugen Jehovas vernichten. Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten darf deshalb nicht verblasen und sie darf auch nicht relativiert werden.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Albert Einstein hat 1932 Europa verlassen. Er hat gesagt, ich zitiere: Die Welt ist mehr bedroht durch die, welche das Übel erdulden oder ihm Vorschub leisten als durch die Übeltäter selbst. Und das mögen wir uns in das Stammbuch der Geschichte schreiben. Mögen wir das nie vergessen. Danke.

Rebekka Salzer: Vielen Dank, Robert Seeber. Ja, es gibt sie noch, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die die Schrecken des Nationalsozialismus am eigenen Leib erfahren haben. Aber irgendwann da wird die letzte Zeitzeugin, der letzte Zeitzeuge verstummt sein. Wie kann sichergestellt werden, dass die Generationen nach uns nicht vergessen, was damals in den 1930er Jahren bis 1945 passiert ist was der Nationalsozialismus mit den Menschen gemacht hat? Unter anderem über diese Erinnerungskultur habe ich vor wenigen Tagen in der Gedenkstätte Mauthausen mit vier Persönlichkeiten gesprochen, die vor allem eines gemeinsam haben, sie wollen, dass der Holocaust die systematische Ermordung von 6 Millionen Juden, die furchtbare Zeit des nationalsozialistischen Regimes, das die Erinnerung daran nicht verblasst.

Zuvor sehen Sie einen Beitrag über Centropa. Der Verein erforscht und dokumentiert das jüdische Leben in Ost- und Mitteleuropa und verweist auch darauf, dass man nicht vergessen darf.

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Es folgt eine Videoeinspielung:

Sprecher: Sie sind die Letzten ihrer Generation, die mittel- und osteuropäischen Jüdinnen und Juden, die vor dem Holocaust geboren wurden. Es waren Millionen. Nun sind es nur noch wenige. Noch immer leben einige in der Region zwischen Russland und Estland im Norden und Bulgarien und Griechenland im Süden. Wenn sie uns verlassen, nehmen sie ihre Geschichten mit, die nur sie erzählen können.

Centropa wurde vor 20 Jahren in Österreich gegründet. Wir interviewten 1 500 jüdische Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus fünfzehn Ländern. Wir scannten 25 000 ihrer alten Familienfotografien und wir baten sie, uns ihre Geschichten zu erzählen. Nicht nur davon, wie ihre Familien starben, sondern auch davon, wie sie gelebt haben. Niemand zuvor hat ein solches Projekt realisiert und wir haben im wahrsten Sinne des Wortes Erinnerungen digitalisiert. Vor 20 Jahren halfen der Nationalfonds der Republik Österreich, das Bildungsministerium und die Nationalbank Centropas Archiv aufzubauen, damit wir beginnen konnten, für die Zeit zu planen, wenn die Zeitzeugen nicht mehr unter uns sind. So können nun Schülerinnen und Schüler aus Nordmazedonien als Guide für unsere Ausstellungen anderen Schülerinnen und Schülern jüdische lokale Geschichte vermitteln, auch in Ungarn oder in der Ukraine. Das ist der Weg, das Centropas Geschichten zu ihren Geschichten werden. Und wir veranstalten Seminare für Europa, USA und Israel, damit sie ihre Ideen gemeinsam austauschen können und sich untereinander vernetzen können. Diese Geschichten sprechen uns alle an und sie verbinden uns. Wir haben daher ausgewählte Lebensgeschichten für Filme in Schulen umgewandelt, wie diesen hier:

Sprecher zwei: Hier sieht man meinen Vater und seine Kompanie der k.-u.-k.-Armee während des Ersten Weltkrieges. Mein Vater war ein sehr bekannter Schauspieler. Auf der Bühne hat er gestrahlt. Er war mit Leib und Seele Schauspieler. Meine Mutter, Franziska Rachel Brodmann, geborene Goldstaub, wurde 1902 in Lemberg geboren und ist mit zwei Jahren nach Wien gekommen. Sie wuchs in einem sehr behüteten Haus auf. Meine Eltern haben sich in Bad Hall kennengelernt. Mein Vater hat auf der Bühne gespielt und die Mutti ist in der ersten Reihe gesessen. Die Mutter war sehr fromm, und mein Großvater hat gesagt, du passt nicht zu uns, du bist kein frommer Mann. Und wenn du meine Tochter haben möchtest, dann musst du deinen Beruf aufgeben. So etwas gibt es bei uns Orthodoxen nicht. Und da mein Vater meine Mutter doch sehr geliebt hat, sagte er, ich werde das alles aufgeben. Ich mache das für meine große Liebe.

Sprecher: Wir sind das einzige Oral History Institute mit einem Klub für Seniorinnen und Senioren, die wir interviewten. Dank dem Nationalfonds, dem Fonds Soziales Wien und dem Sozialministerium haben wir Centropa etablieren können. Tanja Eckstein, eine wahre Heldin, organisiert die Veranstaltungen. Sie lädt Jugendliche ein, sich mit den SeniorInnen auszutauschen. Sie organisiert ein künstlerisches Programm für unsere Gäste und während der derzeitigen Krise verbringt Tanja fünf Stunden pro Tag am Telefon als Gesprächspartnerin für jene, die jetzt einsam sind. 20 Jahre lang haben wir hier in Österreich und in 14 weiteren Ländern jüdische Geschichte bewahrt, damit wir noch viele Jahre die Geschichten erzählen können, die erzählt werden müssen.

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Es folgt eine weitere Videoeinspielung:

Rebekka Salzer: Barbara Glück, Leiterin der KZ Gedenkstätte Mauthausen; Paulus Hochgatterer, Arzt und Schriftsteller; Hannah Lessing, Generalsekretärin des Österreichischen Nationalfonds; Oscar Deutsch, der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sitzen hier in der Gedenkstätte Mauthausen. Hier würden normalerweise rund um die Befreiungsfeiern Tausende Besucher kommen. Heuer in Zeiten von Corona ist das nicht möglich.

Gleich die Frage an Sie, Frau Glück, wie gehen Sie denn mit dieser veränderten Situation hier um in der Gedenkstätte Mauthausen?

Barbara Glück (Leiterin KZ-Gedenkstätte Mauthausen): Zuallererst muss ich sagen, dass es ein unglaublich beklemmendes Gefühl ist, an so Tagen wie heute durch die Denkstätte zu gehen. Das was den Ort heute ausmacht, das fehlt einfach, dieses Lebendige, diese Begegnungen, die wir normalerweise hier spüren und die vielen Schulklassen, die gerade in dieser Zeit täglich zu uns kommen würden. Und ja, auch wir haben unsere Arbeit ins Netz gestellt. Wir haben eine digitale Bildungsarbeit auf die Beine gestellt und gerade jetzt in diesen Tagen, um den Gedenktag herum, geht es auch darum, dass wir digital gedenken möchten. Dass wir das vielleicht aber auch als Chance nützen, um jene Menschen zu erreichen, die vielleicht die Gelegenheit nicht haben, an diesen Ort zu kommen oder vielleicht auch noch gar nicht auf die Idee gekommen sind, diesen Ort zu besuchen. Dass wir gerade in dieser Zeit auch jene Menschen erreichen können mit unserer Arbeit, mit der Bildungsarbeit und mit der Gedenkarbeit.

Rebekka Salzer: Sie machen aus der Not eigentlich eine Tugend. Kann man das so sagen?

Barbara Glück: So würde ich es gar nicht sagen. Wobei das Feedback, das wir gerade von Lehrerinnen und Lehrern bekommen, ist überwältigend und stimmt uns eigentlich sehr zuversichtlich, dass wir da vielleicht einen Weg einschlagen, den wir in der Vergangenheit noch gar nicht gemacht haben. Und wenn wir vorher gesagt haben, wie wir hier hergegangen sind, dass, ja wer heute nicht im Netz ist, der hat vielleicht schon verloren, so dramatisch würde ich das gar nicht sagen. Aber die Gelegenheit zu haben, Menschen zu erreichen, die physisch nicht an diesen Ort kommen können, ich glaube, das ist die Chance. Was wir aber auch sehen ist eine digitale Bildungsarbeit. Aber eine Auseinandersetzung im Internet kann natürlich den Besuch des historischen Ortes nicht ersetzen, darf es auch meiner Meinung nach nicht ersetzen. Und auch die Auseinandersetzung mit dem Thema und mit den Fragen, die wir haben und vor allem auch unsere personelle Vermittlungsarbeit mit unseren Vermittlerinnen und Vermittlern kann es nicht ersetzen. Es ist vielleicht eine Ergänzung, und das wird vielleicht in weiterer Zukunft auch so bleiben. Aber es darf kein Ersatz sein für den Besuch des historischen Ortes.

Rebekka Salzer: Frau Lessing! Sie sind ja viel mit Überlebenden in Kontakt. Wie geht es denen jetzt in Zeiten von Corona?

Hannah Lessing (Generalsekretärin Öst. Nationalfonds): Also wir haben natürlich auch im Nationalfonds auf Homeoffice umstellen müssen. Versuchen aber in dieser Zeit ganz massiv unsere Antragsteller, also die Überlebenden nicht nur in Österreich, sondern in 72 Ländern dieser Welt, wo sie sich heute befinden, telefonisch zu erreichen, manche auch per Zoom. Mit einer Dame, die gerade 100 Jahre alt geworden ist in New York habe ich vorletzte Woche eben gezoomt. Es geht ihnen sehr unterschiedlich damit. Einige haben einfach eine Retraumatisierung, weil manche waren im Versteck. Und wenn man heute solche Vergleiche sagt, wie: ja, man fühlt sich eingesperrt, sagen die gelinde, ich musste vier Jahre lang in einer Werkstatt in einem Hinterhof verbringen und durfte mich nicht bewegen und den ganzen Tag nicht hinaus und nicht einmal habe ich den Himmel gesehen. Also die fühlen sich sozusagen jetzt in ihrer Geschichte einfach bestärkt, dass sie sie noch einmal erzählen wollen und da überschneidet sich natürlich auch eben unsere Arbeit mit der Gedenkstätte Mauthausen, dass wir in dieser Zeit von Corona ihre Geschichten bewahren müssen und dass sie nicht vergessen werden. Dass wir sie digitalisieren, teilweise durch Filme, dass wir sie in Lebensgeschichten einfach an die Jugend weitergeben. Und das ist das Wichtigste, dass man diesen Menschen zurzeit sagt, auch in dieser Krise vergessen wir euch nicht und daher verbringe ich meine Tage am Telefon. Aber dieser Austausch mit den Überlebenden gerade in einer Krisenzeit, die sind so ungeheuerlich dankbar dafür, dass man sie eben nicht vergisst.

Rebekka Salzer: Stichwort Krisenzeit: Es gibt Politiker zum Beispiel, der französische Präsident Emmanuel Macron, der vergleicht die jetzige Krise mit Krieg. Dann gibt es auch Philosophen, zum Beispiel der Philosoph Rudolf Burger, der sagt, das ist ein obszöner Vergleich. Wie würden Sie denn diesen Vergleich von Emmanuel Macron bewerten?

Hannah Lessing: Also ich habe in dem ersten Moment diese Bilder nicht so klar gesehen. Natürlich, wenn man an Bergamo denkt, wo die Armee Leichentransporte organisiert und wenn dann jemand sagt: È una guerra, es ist ein Krieg. Das mag schon sein, aber man muss extrem aufpassen, weil besonders die Überlebenden, mit denen ich telefoniert habe, die haben mir gesagt, in Österreich zum Beispiel, sie spüren in der Sprache eine Art von Kriegsrhetorik. Das wäre mir jetzt nicht im ersten Moment so aufgefallen. Aber unsere Helden an der Front, der Krieg gegen das Virus, das ist, die Überlebenden haben ein ganz feines Sensorium für so eine Sprache und daher ja, man kann alles vergleichen, aber ich glaube, man müsste eben genau hier sagen, es ist kein Krieg, es ist wie der Bundespräsident am 27. April gesagt hat, die größte Herausforderung Österreichs seit der Wiedereinrichtung der Republik. Krieg und diese Krise darf nicht verglichen werden.

Rebekka Salzer: Herr Deutsch! Wie sehen Sie das?

Oscar Deutsch (Präsident Israelitische Kultusgemeinde): Na ja, Krieg, wenn wir hier schon in Mauthausen sind in einem Konzentrationslager, aber egal in welchem Konzentrationslager, dort hat es Auswüchse des Krieges gegeben und man darf diese Dinge nicht vergleichen. Es ist eine schwierige Situation jetzt. Wir sind mit unseren Gemeindemitgliedern permanent in Kontakt. Wir helfen ihnen und so weiter. Aber Krieg, Kriege, Nationen gegeneinander, Religionsgemeinschaften gegeneinander, das ist schon etwas anderes. Und hier haben wir einen Gegner, einen Feind und wir sind nicht Feinde gegeneinander, wir sind gegen etwas Mystisches. Das ist unser Gegner und wir stehen alle bildlich „hand in hand“, nicht wirklich, weil man das nicht darf, aber wir stehen miteinander, versuchen miteinander das Beste zu machen und versuchen Social Distancing, versuchen auch durch viel Gelder, die investiert werden, gegen diesen Gegner ein Mittel zu finden, seien es Medikamente, aber auch ein Impfstoff für die Zukunft, dass das verhindert wird. Und da stehen wir alle miteinander und das würde ich als Krieg nicht bezeichnen.

Rebekka Salzer: Herr Hochgatterer! Sie sind Psychiater. Warum machen Menschen das? Warum wird eine Situation, wie diese, die eine Gesundheitskrise ist, die eine sehr dramatische Gesundheitskrise ist, aber mit Krieg nicht zu vergleichen ist, aber warum wird dieser Vergleich herangezogen?

Paulus Hochgatterer (Arzt und Schriftsteller): Warum tun sie es trotzdem? Ich weiß es eigentlich nicht wirklich. Ich weiß nur, um es irgendwie flapsig zu formulieren, das sei hier auch erlaubt, die Sprache ist ein Hund und ich bin zwar selbstverständlich für größtmögliche Freiheit der Sprache, Freiheit der Gedanken. Aber wenn hier die Vergleiche nicht versagen, dann ist irgendetwas faul, ja. Wenn einem die Vergleiche irgendwie so leicht von der Hand beziehungsweise aus dem Mund kommen, dann stimmt irgendetwas nicht. Wenn ich hier heute ganz besonders durch diesen schrecklichen leeren Ort gehe, und es fallen mir ganz leicht diese Vergleiche ein, dann hat das eher etwas mit Rhetorik, mit Manipulation oder mit dem bewussten Beeinflussen von Menschen zu tun und viel weniger damit, dass die beiden Dinge etwas miteinander zu tun haben. Die Implikationen, und das ist mir so im Nachdenken darüber aufgefallen, die Implikationen sind hässlich, Krankheitserreger. Wenn ich nur an das Benützen von Krankheitserregern in der Nazisprache denke, dann versagen mir hier die Vergleiche. Manchen Menschen denken sich offenbar nichts dabei, denen kommt das leicht aus dem Mund und da werde ich schon misstrauisch.

Rebekka Salzer: Was würden Sie denen sagen, die einfach so Vergleiche machen oder was stimmt mit denen nicht?

Paulus Hochgatterer: Die haben nicht darüber nachgedacht, die haben sich nie mit der Sprache des Nationalsozialismus beschäftigt. Die haben sich, und da spreche jetzt durchaus auch spezifisch von meinem Berufsfeld, die haben sich nie mit dem Thema medizinische Sprache und Nationalsozialismus beschäftigt, und das würde ich diesen Menschen vielleicht sagen. Schaut hin und überlegt euch, wovon ihr sprecht, wenn ihr von einem Virus sprecht in diesem Zusammenhang oder in einem Vergleich, der euch so leicht von der Hand geht.

Rebekka Salzer: Herr Deutsch! Was schon ähnlich ist, die wirtschaftliche Situation ist sehr schwierig, wir haben sehr viele Arbeitslose. 1,5 Millionen Erwerbstätige sind betroffen durch Kurzarbeit, durch Arbeitslosigkeit. Das war auch während der Weltwirtschaftskrise 1929, 1930 so. 1932 haben die Nationalsozialisten die Wahlen gewonnen. Ist das jetzt eine Zeit, nämlich nicht sofort vielleicht, aber in den nächsten ein, zwei Jahren, dass die Populisten wieder nach vorne kommen, weil es den Menschen einfach sehr schlecht geht?

Oscar Deutsch: Also ich glaube, wir sind Mitglied der Europäischen Union. Es gibt die UNO. Es gibt in unserer Gegend, sage ich einmal, fast nur demokratische Regierungen. Und das alles, glaube ich, sind Garanten, dass das so nicht passieren wird. Wir sehen, wie viel Geld die einzelnen Regierungen, nicht nur Österreich, Deutschland, Frankreich und so weiter in die Hand nehmen. Wir sehen, wie viel Geld, um eine Massenarbeitslosigkeit, die schon da ist oder sich vielleicht anbahnt, wie viel Geld von der Europäischen Union investiert wird, um dagegen anzukämpfen. Ich glaube nicht, dass das vergleichbar ist.

Rebekka Salzer: Aber wenn wir jetzt zum Beispiel nach Ungarn schauen, da hat sich das Parlament selbst entmachtet, da sind doch schon autoritäre Züge wieder sichtbar.

Oscar Deutsch: Diese autoritären Züge waren ja schon vor Corona sichtbar und Gott sei Dank gibt es den Spruch, dass Ausnahmen die Regeln bestätigen. Und wichtig ist, dass es eine Europäische Union gibt, die alle zusammenhält, die sollte dann mit Außenseitern auch so umgehen. Wenn jemand sich undemokratisch gibt, dann sollte es dort auch Möglichkeiten geben, wie man mit so einem Land umzugehen hat.

Rebekka Salzer: Herr Hochgatterer! Sie sind sicher ein guter Beobachter auch wegen Ihres Jobs. Sehen Sie ein Erstarken der Nationalstaaten, also dass die Leute wieder sich zurückziehen in ihren Nationalstaat?

Paulus Hochgatterer: Ich denke, da muss man nicht Psychiater sein, um das momentan zu sehen. Das ist evident und das ist etwas, das einem, auch wenn man kein politischer Journalist ist, auch Sorgen machen muss. Also der Rückzug hinter die Grenzen, die es bis vor Kurzem für uns alle nicht mehr gegeben hat, das ist etwas, das macht mir schon Sorgen und da spreche ich nicht von meinem Italienurlaub, den ich stornieren musste. Aber man denkt plötzlich wieder anders oder die Vorstellungen werden anders. Es wird schwieriger und da ist plötzlich etwas, das es bis vor Kurzem nicht gegeben hat. Und die Psychiatrie ist ein Fach, vor allem die Kinderpsychiatrie, das vor allem mit Beziehungen zu tun hat, die Beziehungen, die zwischenstaatlichen oder zwischen den Menschen, die in den verschiedenen Staaten leben, die fürchte ich, werden sich zumindest eine Zeitlang verändert haben nach Corona. Das finde ich schade, vielleicht bin ich auch zu pessimistisch, der Herr Deutsch glaubt das, glaube ich nicht. Ich hoffe, ich bin zu pessimistisch. Aber ich fürchte, es wird eine Spur schwieriger sein.

Oscar Deutsch: Das sehe ich nicht so. In Österreich halten wir alle zusammen und ich glaube auch, dass es in den meisten Ländern so ist. Aber es ist doch nicht so, dass es, auch wenn die Wirtschaft und der Zusammenhalt in Österreich besser wird, einen großen Teil unserer Wirtschaft gibt, der mit Exporte zu tun hat. Deswegen haben wir doch das größte Interesse, und so auch alle anderen Länder, dass es nicht nur uns gut geht, sondern dass es auch den Nachbarn gut geht, dass es allen Ländern, bis in die USA, China und so weiter, gut geht, weil unsere Wirtschaft ja auch speziell als kleines Land von diesen Ländern abhängen wird.

Paulus Hochgatterer: Das ist sicher berechtigt. Ein Aspekt, der mit meinem Fach oder mit meiner Branche sozusagen eher zu tun hat, ist einfach ein Bild. In Frankreich, in Italien gehen die Intensivstationen über. Das medizinische Personal macht 48-Stunden-Schichten. Die stecken sich an, weil sie in ihrer Erschöpfung nicht mehr aufpassen und jenseits der Grenze stehen die Intensivstationen leer. Ich mag ein Romantiker sein, aber die romantische Vorstellung oder zumindest die vielleicht romantische Frage, wie hätte man helfen können in der Situation, die möchte ich schon gestellt haben.

Barbara Glück: Die Solidarität fehlt da schon sehr. Da würde ich in unserer Diskussion diesen Ort vielleicht wieder ins Spiel bringen, weil der Grund, warum wir zusammensitzen, ist ja, dass wir an 75 Jahre Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen gedenken und an das Ende des nationalsozialistischen Schreckens. Und was in diesen Tagen natürlich auch stattgefunden hätte, wären die internationalen Gedenk- und Befreiungsfeiern, wo nämlich sehr schön international so viele Nationen normalerweise kommen, um an diesem Tag dieses verbindende Element eigentlich zu feiern. Das ist schon etwas, an das ich erinnern möchte, dass die vielen Nationen, die aus ganz Europa eigentlich und darüber hinaus 75 Jahre Ende des nationalsozialistischen Schreckens gedenken und hier feiern und dass das für mich immer ein sehr bewegender und ein sehr emotionaler Moment ist. Da ist etwas, glaube ich, an das wir vielleicht Europa erinnern sollten, dass das ein jahrzehntelanges gemeinsames Feiern und Anliegen war. Und wann, wenn nicht zu diesen Tagen, wo wir, und so sehe ich das, natürlich auch als Aufgabe der Gedenkstätte genau an das wieder erinnern sollten.

Rebekka Salzer: Frau Lessing! Sie wollten noch etwas dazu sagen?

Hannah Lessing: Nein, ich wollte das auch sagen. Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, ich schließe mich eher den schönen Hoffnungen an. Aber Demokratie ist extrem verletzlich, das dürfen wir nie vergessen. Da schließe ich mich wieder der Barbara an, dass wir einfach sagen müssen, wir müssen daran erinnern, wie schnell eine Demokratie unsoldarisch wird, Hass kommt, et cetera und Feindlichkeit. Und dieses Gedenken der 75 Jahre kann uns wieder dorthin führen, dass wir wieder solidarisch sein müssen. Auch diese Bilder der Solidarität in den Spitälern hat mich sehr gestört, weil ich die romantische Idee gehabt habe, das ist überfüllt, okay, die Grenzen sind offen, wir nehmen ein paar Kranke auf und helfen. Und diese Solidarität, die man dann gelebt hat und die wir jetzt hier feiern sollten, sollte uns eben auch wieder ein Beispiel sein für die Zukunft.

Rebekka Salzer: Mangelnde Solidarität ist das eine, das viel Schlimmere ist aber der Hass. Krisenzeiten sind ja auch Hochzeiten des Judenhasses. Herr Deutsch! Ich habe mir das im Internet angeschaut, es ist wirklich erschreckend, da gibt es Karikaturen von Juden, die in einem Trojanischen Pferd in eine Stadt hineingefahren werden und dann wird gesagt, ja, steig aus dem Trojanischen Pferd aus und verbreite den Virus. Also quasi der Jude ist schuld.

Oscar Deutsch: Es hat der Nationalsozialismus oder der Judenhass, wenn wir zurückdenken, ja nicht begonnen mit dem Holocaust mit dem Zweiten Weltkrieg. Es hat ja alles viel früher begonnen und wie hat es begonnen? Es hat begonnen mit Hassreden und man hat Juden quasi bildlich niedergemacht. Ich erinnere an den „Stürmer“ und so weiter. Und wir haben vorher, du hast es gesagt, wir benützen inklusive hier in Mauthausen das Internet, um weiter alles zu zeigen, was wir alles gerade tun, wir als jüdische Gemeinde mit Gottesdienste und so weiter. Das ist sehr positiv. Aber das Negative an diesem Internet ist natürlich, dass man ohne Scham sich antisemitisch oder rassistisch oder was auch immer äußern kann. Und mir ist noch viel zu wenig bekannt, dass man hier gegen diese Leute, die das gar nicht anonym machen, sondern die sind per Adresse oder was zurückzuverfolgen, dass ihnen nichts passiert. Es müssten die gleichen Regeln, die es, sagen wir einmal, im normalen Leben gibt, dieselben Strafen, dieselben Strafausmaße für Antisemitismus im Internet geben, so wie es auch für Antisemitismus in der normalen Welt gibt. Und ja, man versucht hier, die Juden verantwortlich zu machen für den Coronavirus.

Rebekka Salzer: Aber warum?

Oscar Deutsch: Ja, weil man immer ein Opfer sucht. Wenn Sie sich angeschaut haben, da wurden die Juden noch nicht erwähnt, die kleine Demonstration, die am Freitag am Albertinaplatz von Rechtsradikalen stattgefunden hat, ja, es sind immer die Extremisten, die hier vorgehen und sie gehen gegen die Juden vor und sie könnten aber auch gegen die Radfahrer vorgehen. Aber man geht gegen die Juden vor. Die Juden sind ein bekanntes traditionelles Opfer, glauben die Leute, weil das ja nicht stimmt und wir werden uns nie unterdrücken lassen. Dazu gibt es unseren Staat Israel, der quasi, und ich sage das in vielen Reden, als Versicherung für die Juden aller Welt gilt. Ich bin jetzt nicht dafür, dass sie sich ein anderes Opfer suchen. Weil wie ich vorhin gesagt habe, wir sind alle gleich und wir kämpfen miteinander. Ja, aber wir Juden als Opfer, das wird es nicht mehr geben.

Rebekka Salzer: Frau Lessing! Hat sich der Antisemitismus verändert im Laufe der Jahrzehnte oder ist es einfach ein Echo der Vergangenheit, das jetzt wieder auflebt vor allem in Zeiten von Corona?

Hannah Lessing: Na ja, nein. Es gibt natürlich verschiedene Arten von Antisemitismus. Aber ich wollte vorausschicken so dieser Spruch von Adrono, wo er sagt, Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden. Das ist ja eben genau das, was überall wieder passiert, nämlich das Gerücht, dass wir Corona verbreiten, et cetera. Verändert hat es sich sehr. Trotzdem können wir aus den Lehren des alten nationalsozialistischen, aber auch schon vorher tradierten Antisemitismus lernen, dass es kleine Schritte sind, dass es Gerüchte sind, dass es Verleumdungen sind, et cetera. Heute natürlich gibt es einen Antisemitismus, der sich hinter der Israelkritik versteckt. Israelkritik ist nicht automatisch antisemitisch, möchte ich auch auf jeden Fall hier festhalten. Es gibt von Natan Scharanski einen Ausdruck 3 D – Demonization, Delegitimization und Double Standards. Das könnte man anwenden auf sozusagen Israelkritik, dann ist diese antisemitisch.

Ich bin Co-Delegationsleiterin von der österreichischen Delegation bei der International Holocaust Remember Alliance und dort haben wir vor einigen Jahren eine Antisemitismusdefinition beschlossen unter dem rumänischen Vorsitz. 2017 hat die österreichische Bundesregierung diesen auch für sich in einem Ministerratsvortrag angenommen. Das heißt, diese Definition wird verwendet in Schulungen, bei der Polizei, in der Justiz, et cetera und wird in sehr, sehr vielen europäischen Ländern und auch außereuropäischen Ländern angewendet, um einmal ein bisschen so diese Definition zu haben, was ist denn wirklich Antisemitismus. Es ist natürlich keine allumfassende Definition, aber diese Definition hat in sehr vielen Ländern jetzt dazu beigetragen, dass man besser, obwohl man im Internet noch immer nicht wirklich verfolgen kann, was hier sich entwickelt.

Rebekka Salzer: Frau Glück! Es gibt hier einen Unterschied oder es ist nicht das Gleiche Rassismus, Antisemitismus. Wie ist denn die Definition von Antisemitismus und wie unterscheidet sich der Rassismus dadurch?

Barbara Glück: Zum Ersten ist auch grundsätzlich zu sagen, dass wir hier an der Gedenkstätte nicht dieser Erwartung zum Opfer fallen, dass wir jetzt die Impfstation sind gegen Antisemitismus, gegen Rassismus. Das was uns ganz wichtig ist zu sagen, dass wir Denkanstöße geben, dass wir uns mit der heutigen Situation auseinandersetzen aber immer in Bezug, das ist uns hier am Ort wichtig, in Bezug zur Geschichte und zum Ort. Um auch ausschweifend ein bisschen zu sagen, wir erzählen die Geschichte als eine Geschichte von Menschen. Menschen machen Geschichte, damals wie heute. Und da ist es ganz wichtig auch zu beleuchten, wer waren denn damals die Menschen, um die es gegangen sind? Natürlich auf der einen Seite die Häftlinge, die Opfer, aber andererseits natürlich die Täter, SS-Wachmannschaften. Und das was in unseren Diskussionen und in unserer Vermittlungsarbeit auch ganz ganz wichtig ist, ist die Perspektive der Gesellschaft, der Bevölkerung des Umlandes. Inwieweit waren sie involviert? Haben sie etwas gewusst? Haben sie etwas getan oder nicht? Die Frage, wie konnte es denn überhaupt passieren, dass in einer vermeintlich zivilisierten Gesellschaft Millionen von Menschen ermordet worden sind? Das ist die Frage, der wir auf den Grund gehen und da ist es ganz ganz wichtig, ob es jetzt Rassismus ist, ob es Antisemitismus ist, aus welchen Gründen auch immer Menschen hierher deportiert worden sind in das KZ-System Mauthausen, aus religiösen Gründen, aus unterschiedlichsten Gründen. Und reden wir nicht nur über Antisemitismus, sondern auch die Roma und Sinti, die verfolgt worden sind, Homosexuelle, die alle aus diesen Gründen hierhergekommen sind nach diesem Warum zu fragen und wie konnte es passieren? Das ist uns ganz wichtig an der Denkstätte immer den Bezug zum Ort und zur Geschichte und daraus Denkanstöße anzuregen, nicht vorzugeben, anzuregen, wie man eben heute damit umgehen kann.

Paulus Hochgatterer: Ich glaube, dass Geschichte ausschließlich oder vor allem aus Geschichten besteht und Geschichten sind immer individuell erzählte Geschichten. Die verbreiten sich im Internet irgendwie noch viel rascher und viel weiter als früher. Aber es sind immer individuell erzählte Geschichten. Das Thema, mit dem wir hier und heute zu tun haben, ist eines, das sich – als Kinderpsychiater spreche ich für junge Leute – vor allem für junge Leuten am ehesten in Form von individuellen persönlichen Geschichten vermitteln lässt.

Jetzt spreche ich kurz von mir. Ich bin gewissermaßen in Rufweite von Mauthausen geboren worden und aufgewachsen. In Amstetten, wo ich zur Schule gegangen bin, gab es ein Nebenlager von Mauthausen. In Melk, in dem Bezirk, in dem ich aufgewachsen bin, auch. Und mir ist dieses Mauthausen fassbar geworden durch persönliche Geschichten. Natürlich. Ich hatte das Glück, dass sie mir erzählt wurden. Vielen wurden und werden sie nicht erzählt, diese Geschichten und für die vor allem, glaube ich, ist so eine Impfstation dann immens wichtig.

Rebekka Salzer: Auf die Erinnerungskultur möchte ich dann noch eingehen. Ich möchte noch ein bisschen beim Antisemitismus und Rassismus und bei der Gewalt bleiben Frau Lessing! Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel hat gesagt, man muss sich lösen von der falschen Vorstellung, dass Antisemitismus Fremdenfeindlichkeit ist, weil Juden sind keine Fremden. Jetzt sind Sie selber Jüdin, was haben Sie denn diesbezüglich für Erfahrungen gemacht?

Hannah Lessing: Also ich wäre sehr, sehr glücklich, wenn Frau Schwarz-Friesel hier recht hätte, dass Antisemitismus kein Fremdenhass ist oder eben, weil wir keine Fremden sind. Aber es passiert immer wieder auch in den letzten Jahren, dass ich gefragt werde: Ja, von wo bist du denn? Ich sage dann, ich bin aus Wien. Dann fragt man mich: Ja, und von wo sind deine Eltern? – Die sind aus Wien. Wo sind deine Großeltern her? – Die sind aus Wien. Und das geht halt, was weiß ich, bis zum Wunderrebbe, der vielleicht in meiner Familie irgendwann einmal existiert hat. Und es gibt ja auch ein sehr schönes Bild im Wien Museum, wo man sieht, wer von wo kommt, also Kroaten, Kroatien, Ungarn und dann steht eben auch dort Juden. Und als Kind habe ich dann immer gefragt, und von wo sind diese Juden hergekommen? Sind die aus dem Judenland? Und das ist wirklich genau der Punkt. Ich bin Österreicherin und habe eine andere Religion als die meisten, daher bin ich nicht fremd, weil ich bin Österreicherin. Aber es wird immer wieder gefragt, wenn man mich mit meinem Davidstern sieht und jetzt nicht im Bösen gefragt, sondern einfach nur: Ja, aber von irgendwo müsst ihr ja irgendwann hergekommen sein? Das verbindet mich auch sehr mit meinem geliebten schon verstorbenen Rudi Sarközi, der genauso auch immer gefragt wurde, seid ihr aus Indien oder von wo kommt ihr denn? Und wir sind aber hier, wir sind Österreicher.

Rebekka Salzer: Aber wird das dann verstanden, wenn Sie das dann erklären oder ist das noch immer sehr abstrakt?

Hannah Lessing: Jein. Manche verstehen es und entschuldigen sich dann auch und sagen, nein, das war jetzt nicht so gemeint. Aber es wird wirklich immer wieder hinterfragt, von wo kommt ihr denn her?

Oscar Deutsch: Als Präsident der Kulturgemeinde kriege ich jedes Mal, wenn ich eine Pressekonferenz mache, meistens ist das über Antisemitismus, den ich übrigens Antijudaismus noch lieber sogar nennen würde. Und dann gibt es ein paar Zitate von mir, die in den Medien vorkommen und dann gibt es Kommentare von verschiedensten österreichischen Staatsbürgern. Und Quintessenz vieler, nicht aller Gott sei Dank, es gibt auch positive Meldungen, aber die Quintessenz ist, fahr doch nach Hause. Wenn ich dann manchen antworte, ich bin zu Hause, ich bin genauso zu Hause, wie sie zu Hause sind und wie sie zu Hause sind. Ich bin ein stolzer Österreicher jüdischen Glaubens. Mein Vater kam aus Rumänien. Meine Mutter kam aus Lemberg, aber ich bin im Rudolfinerhaus geboren.

Barbara Glück: Ich auch.

Oscar Deutsch: Dann haben wir die Mehrheit hier, und ich fühle mich auch als Österreicher. Ich habe in Österreich Fußball gespielt, das Nationalteam, dann feuere ich sie mit meinem Sohn gemeinsam an. Das ist ganz normal und bei Olympischen Spielen halte ich auch zu den Österreichern. Und wenn ein Österreicher in irgendetwas in der Welt erfolgreich ist, sei es im Kulturellen, sei es im Wissenschaftlichen oder was auch immer, dann bin ich auch stolz. Ja, aber ich bin auch stolz und das lege ich nicht ab, wenn ein Israeli erfolgreich ist in was auch immer, wenn ein Israeli einen Nobelpreis gewinnt.

Hannah Lessing: Aber es stimmt, die Loyalität wird uns sehr oft abgesprochen, zu wem bist du loyal?

Oscar Deutsch: Ja, ich war bei Österreich gegen Israel und hatte quasi zwei Fahnen, eine österreichische und eine israelische.

Rebekka Salzer: Herr Hochgatterer, möchte dazu etwas sagen.

Paulus Hochgatterer: Da das sozialpsychologisch oder psychodynamisch ist, finde ich diesen Unterschied zwischen der Projektionsfläche des Judentums und des Fremden extrem interessant. Der Fremde ist verortbar, und zum Juden gibt es dieses Imaginat des in Wahrheit nicht Verortbaren und das erzeugt so eine schematische Projektionsfläche für Hass, für Abneigung, für Ausstoßungsbedürfnis. Ich kann nur laienhaft phantasieren, womit das zu tun hat. Und als gut erzogener Katholik wäre meine Fantasie, es hat doch mit Religion zu tun und mit diesen Figuren des gelobten Landes und des auserwählten Volkes, die irgendetwas von einem Hintergrund von Neid erzeugen, der dazu führt, dass man das unterstellt einer Jüdin, die seit fünf Generationen in Wien lebt und im Rudolfinerhaus geboren wurde.

Rebekka Salzer: Es gibt ja jedenfalls gravierende Wissenslücken auch was das betrifft und auch was andere Dinge betrifft, zum Beispiel den Holocaust in Österreich. Da gibt es eine Studie vom vergangenen Jahr der Claims Conference. Die Hälfte der Befragten hat nicht gewusst, Frau Glück, dass 6 Millionen Juden vom Naziregime ermordet wurden und vier von zehn konnten die Gedenkstätte hier nicht namentlich nennen. Wird hier zu wenig Bewusstsein geschaffen?

Barbara Glück: Offensichtlich nicht genug. Und wo wir natürlich auch sehr selbstkritisch gesagt haben, wir haben uns vielleicht in den letzten Jahrzehnten muss man sagen, ja, an Gedenkorten zu sehr zurückgelehnt und darauf gewartet, dass die Menschen zu uns kommen und mit denen arbeiten wir dann. Ich glaube, es ist viel viel wichtiger, noch darüber hinauszugehen und zu sagen, ich möchte auch jene erreichen, die nicht zu uns kommen können, möchten, vielleicht auf die Idee noch gar nicht gekommen sind, dass wir auch diese Menschen erreichen. Und dass wir uns auch anschauen, wie ticken sie, in welcher Sprache sprechen sie, wie kann ich sie erreichen, über welche sozialen, nicht sozialen Netzwerke kann ich zu ihnen stoßen, um mit unserem Anliegen, was natürlich jetzt in dieser Situation, wo wir diesen Ort noch nicht so wirklich besuchen können, natürlich immer wichtiger wird und wir auch sehen, wo sind denn die Grenzen? In der digitalen Welt scheint es, oft gibt es gar keine Grenzen, wo ich Menschen und wie ich Menschen erreichen kann?

Natürlich werden wir immer weiter unsere Arbeit fortsetzen und diesen Ansatz suchen. Das möchte ich schon sagen, ein bisschen widerspreche ich mir jetzt auch selber, weil ich glaube, dass so hoch und so groß wie die Akzeptanz heute ist diesem Ort gegenüber, dem Gedenken gegenüber, der politischen Unterstützung der gesellschaftlichen Akzeptanz, soweit waren wir noch nie, dass wir heute hier sitzen zum Gedenktag, zum 75. Jahrestag der Befreiung von Mauthausen, das hat es bitte noch nie gegeben. Noch nie, seit es den Gedenktag gibt, findet der gerade heuer auch hier in Mauthausen statt. Das ist schon etwas, wo ich sage, das unterstreicht die Bedeutung unserer Arbeit hier in der Gedenkstätte.

Rebekka Salzer: Das Ziel ist natürlich, dass wir uns alle auch an diese schreckliche Zeit erinnern, auch unsere nachkommenden Generationen. Wir haben jetzt noch, Frau Lessing, die Zeitzeugen. Wie wird das sein, wenn es die Zeitzeugen nicht mehr gibt?

Hannah Lessing: Also ich möchte vielleicht Pierre Nora zitieren, ein Historiker aus Frankreich, der gesagt hat, es gibt „milliarden de mémoire“, also Erinnerungsgemeinschaften und „lieu de mémoire“, Erinnerungsorte. Also die Gemeinschaften sind die Familien, die aussterben, die Zeitzeugen, die nicht mehr da sind und so wird es sich verlagern mehr in die Orte der Erinnerung.

Wie das ausschauen wird, wird sich weisen. Also wenn ich jetzt an meine Geschichte denke, mein Vater ist vor eineinhalb Jahren gestorben. Er ist 1939 geflohen. Meine Erinnerung kann ich nicht mehr am Zeitzeugentum festhalten. Ich kann sie nicht mehr direkt erzählt bekommen, das heißt, ich muss sie an Orte binden. Das verbindet mich wieder mit Mauthausen und mit Auschwitz, wo wir die Neugestaltung der österreichischen Ausstellung jetzt gerade durchziehen. Meine Erinnerung an meine Familie verortet sich am Aspangbahnhof, wo meine Großmutter deportiert worden ist oder zu der neu zu gründenden Namensmauer, die im Ostariccipark entsteht mit den 66 000 Namen aller ermordeten Juden. 182 Meter Marmorplatten, wo alle Namen draufstehen werden. Weiter verortet sie sich in Theresienstadt, wo meine Großmutter im Ghetto war und dann in Auschwitz, wo sie ermordet worden ist. Und für meinen Vater in Jad wa-Szem, weil er in Israel überlebt hat. Also diese Erinnerungsorte werden in Zukunft sehr sehr stark bespielt werden müssen. Wenn die Zeitzeugen weg sind, es gibt zwei Projekte, die ich ganz interessant finde, wir unterstützen im Nationalfonds natürlich wahnsinnig viele Projekte und besonders die Herausgabe von Lebensgeschichten. Ist ein großes Versprechen, dass wir den Überlebenden gegeben haben und den Zeitzeugen. Wobei ich ganz kurz sagen möchte, Zeitzeugen, ich kann mich nicht oft genug bedanken bei Ihnen, weil sie so eine unglaubliche Arbeit machen und jedes Mal wieder retraumatisiert eigentlich werden, wenn sie ihre Geschichte immer und immer wieder erzählen. Aber natürlich jetzt sind ihre Stimmen sehr schwach. Und die Shoah Foundation von Steven Spielberg hat etwas erfunden, das ist ein digitaler Überlebender, in einer 3 D-Situation aufgenommen, 1 500 Fragen sind ihm gestellt worden und man kann vor einem Video sitzen, menschliche Größe, und diese Person fragen, selbst wenn dieser Zeitzeuge schon verstorben ist. Der gibt dann Antworten aus seinem computerisierten Gedächtnis.

Rebekka Salzer: Und wenn er keine Antwort hat?

Hannah Lessing: Wenn er keine Antwort hat, dann sagt er, ich habe keine Antwort zu dieser Frage, wenn sozusagen die Frage so gestellt ist, dass sie nicht eine Antwort generieren kann im Computer. Dann gibt es noch eine zweite Sache mit einer VR-Brille, also Virtual Reality, kann man zum Beispiel mit Pinchas Gutter, ein Überlebender von Majdanek, durch Majdanek, durch das Lager gehen. Beide Varianten, weil auch gerade erwähnt worden ist, wir müssen verstehen, wie diese Jugendlichen ticken oder was ihre Sprache ist. Das sind schon Tools, also das sind Sachen, die diese Jugendlichen gerne haben dieses Virtual Reality. Ich bin aber nicht überzeugt, also für mich ist es sehr, sehr spooky, das ist ganz, ganz beängstigend, diese Überlebenden auf einem Screen zu sehen.

Barbara Glück: Ich wollte da einsetzen, weil ich glaube, nichts kann das persönliche Gespräch ersetzen. Und die Vermittlungsarbeit an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen findet in den meisten Fällen ohne Zeitzeuginnen, ohne Überlebende statt, weil wir die Möglichkeit gar nicht mehr haben. Das heißt, wir haben Gespräche mit unseren Vermittlerinnen und Vermittlern die Gruppen begleiten am Arial. Und es hat ein Überlebender zu mir gesagt, ihr könnt euch ja gar nicht erinnern, ihr wart ja nicht dabei. Es ist die Frage, ja, doch, wir können gedenken. Wir können gedenken, wenn wir etwas erfahren. Wenn wir Wissen weitergeben und uns darüber austauschen, dann können wir gedenken. Und ein anderer Überlebender, und das passt zu dem, Hannah, was du gesagt hast, er hat gesagt, wir haben genug geredet, jetzt seid ihr dran. Und das ist, glaube ich, etwas, ja, wir können uns nicht mit jedem unterhalten und mit jedem ins Gespräch kommen. Aber das ist ein ganz wichtiger Anspruch unserer Vermittlungsarbeit, die die personelle Vermittlung hier vor Ort die Verortung des Themas und des „Ins-Gespräch-kommen“ und die Menschen einbinden in das, so wie Sie auch gesagt haben, in das individuelle Geschichtenerzählen. Dass wir nicht jeden einzelnen erreichen können, ist uns vollkommen klar, aber wir versuchen es.

Rebekka Salzer: Herr Deutsch.

Oscar Deutsch: So lange es Zeitzeugen gibt, die Zeitzeugen sind die, die das, was damals passiert ist, am begreifbarsten machen können, müssen wir schauen, wie wir die meisten Zeitzeugen mit der Bevölkerung zusammenbringen. Aber irgendwann dann sind sie nicht mehr da und wir müssen schauen, dass das vielleicht ein wenig spektakulärer wird, interessanter für die Leute, speziell auch für die Jugend. Und wie passiert das heute in Israel oder seit vielen Jahren in Israel? Am Jom haScho'a heult eine Sirene in ganz Israel und da bleibt 1 Minute lang alles stehen, die Autos auf der Autobahn fahren auf den Pannenstreifen, alle steigen aus und bleiben stehen. Und auch die anderen Leute, egal wo sie sind, auf der Straße oder auch zu Hause bleiben stehen. Und das ist nicht nur: Na ja, jetzt hat eine Sirene geläutet und jetzt müssen wir halt stehen bleiben!, sondern da bleiben für eine kurzer Zeit in so einer Art Flashmob, für 60 Sekunden die Leute bewusst stehen und denken an das, was damals war. Was natürlich auch weitergehört, ist, dass in den Schulen weiter noch mehr vom Holocaust berichtet wird, gelernt wird, aber auch vom Judentum. Judentum ist nicht nur Antijudaismus Holocaust. Das Judentum ist eine sehr, sehr reiche Religion, nicht reich, weil sie viel Geld hat und so weiter, bei Weitem nicht, das sehen wir heute auch in der Coronakrise, wo die Kultusgemeinde auch sehr viel ihren Mitgliedern, denen es finanziell schlecht geht, geholfen haben. Aber es ist eine interessante Religion und wir bieten hier als Teil der österreichischen Gesellschaft, wir präsentieren uns als Teil der österreichischen Gesellschaft. Wir bieten jüdische Kultur an. Wir sind ein Teil dieser Gesellschaft und wir sind nicht fremd, wie wir schon vorher erwähnt haben. Also in der Schule müsste mehr darüber gelernt werden. Man müsste zum Beispiel im Unterricht in Kultur und Kunst in den Schulen viel Jüdisches nahebringen.

Was man natürlich auch muss, und darüber reden wir ja auch schon, Barbara, schon eine lange Zeit, sollte die Möglichkeit sein, dass jeder Österreicher und jede Österreicherin einmal in ihrem Leben, und das können wir nur machen durch Schulen, hierher nach Mauthausen bekommen, übrigens vorbereitet werden auf Mauthausen. Hier ein Besuch nur und hier zwei, drei Stunden zu bleiben, ist zu wenig. Man muss darauf vorbereitet werden. Es muss auch eine Art Nachbereitung geben. Das wäre wichtig, dass jeder Österreicher und jede Österreicherin herkommt und dann dürfen wir natürlich das Digitale nicht verlässigen. Im Gegenteil. Das wird immer mehr und hier müsste es auch Spezialisten geben, die sich gerade im Netz darum kümmern. Also es gibt hier einen ganzen Cocktail von Möglichkeiten und man muss sich bewusst sein, dass das sehr notwendig ist, weil der Antisemitismus steigt permanent. Er steigt in Österreich, er steigt in ganz Europa, er steigt in der ganzen Welt. Und es ist die gesamte Zivilgesellschaft, es ist die Politik, wir sind alle aufgefordert, dagegen anzukämpfen.

Rebekka Salzer: Es gibt aber auch jene, Herr Hochgatterer, die sagen, was hat das alles mit mir zu tun, das ist 80 Jahre her. Ich war damals noch nicht auf der Welt, ich konnte auch für den Holocaust nichts. Kann man da jetzt nicht einmal endlich einen Schlussstrich ziehen? Was sagen Sie denen?

Paulus Hochgatterer: Meine Lieblingsfigur, der Schlussstrich, den mag ich ganz besonders. Der Schlussstrich ist eine totalitäre Figur, die impliziert, dass man als Mensch irgendwie nicht darauf angewiesen ist, irgendwo anzuschließen. Das ist Unsinn. Wir alle sind historische Wesen. Wir haben unsere Biografien, in die wir hineingeworfen sind, ob wir wollen oder nicht. Und der Schlussstrich ist etwas hoch Verzichtbares, vor allem in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Rebekka Salzer: Was ist denn da der Unterschied zwischen Schuld und Verantwortung, weil eben die Leute sagen, ja, ich kann da nichts dafür. Aber man hat ja trotzdem eine Verantwortung.

Paulus Hochgatterer: Nicht schuld zu sein oder keine persönliche Schuld auf sich geladen zu haben, heißt nicht, nicht dafür verantwortlich zu sein, dass die Geschichten weitererzählt werden. Mir ist übrigens noch eines, wenn ich, so in Zeiten wie diesen kann ich zwar nicht nach Italien fahren, lese aber italienische Philosophen Giorgio Agamben, der sich auch mit Auschwitz viel auseinandergesetzt hat, hat einen ganz klugen kleinen Aufsatz geschrieben in dem Bändchen „Profanierungen“, das heißt der Gehilfe. Da spricht er über die Funktion von im Hintergrund befindlichen helfenden Wesen, vor allem im Zusammenhang mit dem Erzählen. Ich weiß nicht, ob er sich irgendeinen Steven Spielberg Roboter vorgestellt hat? Aber im Grunde doch auch, ja. Ich glaube, es geht darum, dass wir alle jetzt, wo die Zeitzeugen, also die Menschen, die das wirklich persönlich erlebt haben, sterben und der Nachwelt verlorengehen, dass wir alle nicht zu stolz sind, diese Funktion des Gehilfen zu übernehmen und das weiterzuerzählen, was uns selber von unseren Eltern, Großeltern, wem auch immer erzählt wurde. Ob das jetzt digital ist oder persönlich, wie hier in Mauthausen, glaube ich, ist nicht so wichtig. Wobei ich durchaus beim Herrn Deutsch bin, ich glaube, jeder österreichische Schüler sollte einmal hier gewesen sein.

Hannah Lessing: Es ist aber natürlich wahr, dass wir unsere Geschichten weitererzählen können. Es gibt jetzt schon eine Organisation, die zweite Generation von Überlebenden – das wäre mein Alter –, die einfach auch in Schulen gehen. Ich bin oft in Schulen und bemerke, dass, selbst wenn ich ohne Zeitzeugen hingehe, die Aufmerksamkeit extrem da ist, dann sehr viele Fragen auch über das Judentum kommen – das ist sehr gut, weil dann kann man auch gleich darüber sprechen – und wir werden die Geschichten weitertragen. Wir haben das ja auch den Überlebenden versprochen, dass wir ihre Geschichten nicht vergessen werden. Deswegen publizieren wir auch viel – es gibt viele Videos, mit denen man arbeiten kann. Aber der Gehilfe und die Gehilfin – ich halte das für ein sehr schönes Bild –, dass ich einfach eine Gehilfin für diese Menschen sein darf, die ihre Geschichte mit uns im Nationalfonds seit 25 Jahren teilen, uns anvertrauen und wir jetzt als Gehilfinnen und Gehilfen ihre Geschichte weitertragen.

Barbara Glück: Weil du sagst, du seist zweite Generation: Zu uns kommen Jugendliche der vierten Generation. Wir machen die Erfahrung – ob es hier, an diesem historischen Ort oder in unseren Archiven ist –, dass das Interesse nicht weniger, sondern mehr wird, dass die Nachfragen mehr werden, dass vielleicht auch die zeitliche Distanz zu diesem Thema Menschen mutiger und neugieriger macht, nachzufragen – nach der Familiengeschichte, nach der Geschichte vor Ort, in der Straße, in der Region, in der Gemeinde. Das ist also das, was wir bei unseren Anfragen einfach vermerken, nämlich dass das Interesse größer wird und dass die Nachfragen intensiver werden, sei es über Großväter, Großmütter, wo man Biographien recherchieren möchte.

Rebekka Salzer: Was ist denn die häufigste Frage, die Sie von Jugendlichen gestellt bekommen?

Barbara Glück: Diese Frage haben Sie bereits erwähnt, nämlich die vorvorige Frage ist auch der Titel unserer Vermittlungsarbeit, unseres pädagogischen Konzepts: Es ist alles dramatisch, was passiert ist, aber, bitte, was hat das mit mir zu tun? – Diese Frage kommt wirklich sehr, sehr oft, hier an diesem Ort, gerade eben, weil es schon so lange her ist. Das ist genau unsere Motivation, hier zu arbeiten, dass wir die Bezüge herstellen, dass wir die Menschen in ihrem Heute, in ihrer Lebensrealität abholen, immer mit dem Bezugspunkt der Geschichte und zum Thema, und ihnen zeigen, erstens, dass es und wie es passiert ist und vor allem auch die Frage nach dem Warum stellen.

Das ist uns ganz wichtig, hier, an diesem Ort, dass wir ihnen nicht nur Antworten präsentieren, sondern mit Fragen wieder wegschicken. Wenn sie mit mehr Fragen nachhause gehen, dann fangen sie zu denken an. Dann haben wir mit unserer Arbeit hier etwas erreicht.

Oscar Deutsch: Gerade diese Leute, die hier nach Mauthausen kommen oder schon seit circa 15 Jahren organisieren, dass österreichische Schulen jedes Jahr auf den March of Living von Auschwitz nach Birkenau kommen, sind ein riesiges Potential für den gemeinsamen Kampf gegen den Antijudaismus, für den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus. Das sind die Leute, die hierher kommen und ihr Interesse zeigen, auch wenn sie die Frage stellen „Was hat das mit mir zu tun?“ – Es hat wenig mit ihnen zu tun. Jene, die jetzt kommen, können ja nichts dafür, aber das ist ein großes Potential, um mit diesen Leuten gemeinsam den Antisemitismus zu bekämpfen.

Barbara Glück: Wenn ich es ins Positive verkehre, nämlich: nicht gegen, sondern für Haltung und für Menschenbildung – das ist das, was ich mit meiner Tätigkeit immer versuche, irgendwie auszudrücken und zu vermitteln - -

Oscar Deutsch: Für Menschlichkeit!

Barbara Glück: Für Menschlichkeit und für Haltung. Hannah, am Anfang hast du auch „Solidarität“ gesagt.

Hannah Lessing: Und vor allem: „für“!

Barbara Glück: Ja: „für“ und nicht „gegen“!

Hannah Lessing: Dieses „Gegen“ haben wir uns auch abgewöhnt. Es ist wirklich für eine Zukunft – Mitmenschlichkeit für eine Zukunft mit Solidarität!

Rebekka Salzer: Ich finde, „Solidarität“ ist ein sehr schönes Schlusswort. An dieser Stelle schließen wir: Vielen Dank, Ihnen allen, für diese sehr spannende Diskussion!

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(Es folgt ein Musikstück.)

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Rebekka Salzer: Das war Nicola Djoric mit der „Toccata“ in d-Moll von Johann Sebastian Bach. Djoric hat die Originalnoten für Orgel gespielt.

An der Gedenkstätte Mauthausen ist seit gestern das individuelle Denken wieder möglich. Das ehemalige Schutzhaftlager ist zugänglich, die Gebäude müssen allerdings weiterhin geschlossen bleiben.

Jede Generation muss aufs Neue ihre Lehren aus der Geschichte ziehen. Die Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus können dazu beitragen, das Bewusstsein für gefährliche Entwicklungen zu schärfen. Ganz im Zeichen dieser Gedanken darf ich jetzt Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka um seine Worte und seine Gedenkrede bitten.

Wolfgang Sobotka (Nationalratspräsident): Sehr geehrte Damen und Herren der Präsidialkonferenz von Nationalrat und Bundesrat! Sehr geehrte Zuseherinnen und Zuseher zuhause an den Bildschirmen! Wir stehen hier in für unsere Generation außergewöhnlichen Zeiten und dennoch im klaren Bewusstsein der Unvergleichbarkeit, unserer Zeit mit jener, derer wir heute gedenken. Bei allen Sorgen, die uns heute plagen, bei allem Leid, das wir heute weltweit erleben, können wir auch dankbar sein, nämlich dass unsere Gesellschaft hier in Österreich in ihren Grundfesten, vom unerschütterlichen Festhalten oder demokratischen Rechtsstaatlichkeit und von der Solidarität gegenüber all ihren Mitgliedern geprägt ist, einer Solidarität gegenüber den Menschen in unserer Gesellschaft, ohne Ansehen der Religion, ihres Geschlechtes, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Alters oder ihres Herkommens.

Mauthausen steht für das düstere Gegenteil all dessen, was unsere Gesellschaft heute ausmacht. Gemeinsam mit Auschwitz, mit Treblinka, mit Majdanek, mit Buchenwald, mit Theresienstadt, mit Bergen-Belsen, mit Dachau, der Tiergartenstraße 4, dem Schloss Hartheim oder dem Wiener Spiegelgrund, sowie unzähligen weiteren Orten des Schreckens in der Nazizeit, steht Mauthausen für das Böse schlechthin, für Zynismus, für Selbstüberschätzung und Gewalt. Das Konzentrationslager Mauthausen ist ein Ort im Denken einer Gesellschaft, an den wir nie wieder zurückkehren wollen! Aus einer konstruierten Verschiedenartigkeit der Menschen hatte der Nationalsozialismus ihre verschiedenen Wertigkeiten abgeleitet. Die Menschen wurden geteilt, sowohl individuell als auch als Gruppen, in Höher- und Minderwertige. Für den einzelnen Menschen, für das Individuum gab es in dieser Weltanschauung keinen Platz.

In diesem eugenischen Gesellschaftsentwurf wurde der Mensch auf seine bloße biologische Nützlichkeit reduziert. Er verlor seine personale Eigenberechtigung, wurde zum Verfügungsobjekt des Kollektivs, der politischen Willkür, die danach trachtete, rassistische Qualität der eigenen Gruppe unter „Ausmerzung“ der angeblichen Untüchtigen zu heben. Dieser tradierte Judenhass fand so seine pseudowissenschaftliche Legitimation.

Heute, 75 Jahre nach der Befreiung der Gefangenen dieses Konzentrationslagers – heute gedenken wir allen Opfern dieses Irrsinns, wir gedenken der Toten, wir gedenken der gepeinigten Überlebenden und wir tun dies in Demut und Scham. Dieses Gedenken fort die starke Gewissheit, dass wir alles tun wollen, ja – tun müssen, um den Rassenwahn in unserem Land keinen Platz zu lassen. Unsere Generation hat dabei ein großes Privileg, das gleichzeitig eine ebenso große Verantwortung wie Herausforderung darstellt: Wir sind die Letzten, die noch aus der persönlichen Begegnung lernen können, aus der persönlichen Begegnung mit den Überlebenden. So liegt es an uns, die Erinnerung anzunehmen, in die kommenden Generationen weiterzutragen.

Das jüngste meiner Kinder ist zehn Jahre alt. Wenn dieses Kind 35 Jahre alt sein wird, wird die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen 100 Jahre zurückliegen und damit etwa so lange, wie heute das Ende des Ersten Weltkrieges. Es liegt an uns, dass meinem Sohn und mit ihm seiner Generation, so wie ihren Kindern und Kindeskindern die Erinnerung ebenso präsent, ebenso sehr von Bedeutung ist, wie für uns heute. Es ist dies schließlich auch eine Frage der Herzensbildung, denn der Mensch handelt nicht nur gemäß dem, was er ist, sondern er wird auch, wie er handelt. Gerade in diesem Zusammenhang gewinnen die Worte Viktor Frankls, Arzt und Psychotherapeut, der in den Konzentrationslagern Deutschlands seine ganze Familie verlor, eine ganz besondere Bedeutung. Uns muss dabei bewusst sein, dass der mörderische Judenhass, wie ihn die Monika Schwarz-Friesel, die heute unter den gewohnten Bedingungen die Festrede gehalten hätte, herausgearbeitet hat, nämlich dass dieser Judenhass die Gesellschaft niemals von den extremen Rändern aus infiziert hat, sondern immer ebenso aus der Tradition wie aus der Mitte der Gesellschaft heraus artikuliert und umgesetzt wurde. Die Ränder dienten bestenfalls als Ausreden. Dieser unseligen Tradition gilt es, den Kampf anzusagen.

Es wird unsere Aufgabe und Verantwortung sein, diese Fackel der Erinnerung in die Zukunft zu tragen und nicht das Gift der Vergangenheit in die Gegenwart zu spritzen. „Centropa“ – wir haben es hier gesehen – ist ein wundervolles Projekt. Gemeinsam mit vielen anderen hält man hier die Erinnerung wach.

Lassen Sie mich auch von dieser Stelle, die in diesem Geiste agieren, allen ein herzliches Dankeschön sagen! Sie leisten damit eine wertvolle Arbeit im Kampf gegen den Antisemitismus. Stellvertretend darf ich das heute bei den Diskutantinnen und Diskutanten tun: Barbara Glück, Hannah Lessing, Oscar Deutsch und Paulus Hochgatterer. Erst wenn wir alle zu Kämpfern gegen den Antisemitismus werden, werden wir diese Geißel der Menschheit überwinden. Denn am Ende zählt, wie wir alle jeden Tag aufs Neue unser Gesellschaft gestalten und verantworten. Dies auch in Zeiten noch so großer Herausforderungen.

Rebekka Salzer: Vielen Dank, Wolfgang Sobotka.

Meine Damen und Herren, da war der Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, anders als wir gewohnt sind, ihn zu begehen, in Zeiten der Coronakrise. Wir haben gehört, dass die Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus enorm wichtig ist, dass wir irgendwann ohne Zeitzeugen lernen müssen, die Vergangenheit nicht zu vergessen, dass wir Gehilfen sind und wir alle jetzt dran sind, ihre Geschichten zu erzählen und aus ihrer Geschichte zu lernen.