Rede des Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka anlässlich des Festakts "100 Jahre Bundesverfassungsgesetz"

Donnerstag, 1. Oktober 2020

Hochgeschätzter Herr Bundespräsident!
Sehr geehrte gnädige Frau!
Geschätzter Herr Vizekanzler!
Eminenz!
Frau Präsidentin!
Liebe Ehren- und Festgäste!

100 Jahre ein Garant für ein tragfähiges Gerüst unseres politischen Zusammenlebens, 100 Jahre ein Garant für die Stabilität unserer einzelnen Staatsgewalten und 100 Jahre ein Garant für den umfassenden Schutz unserer persönlichen Freiheitsrechte und Grundrechte: 100 Jahre Bundes-Verfassungsgesetz sind wahrlich ein Grund zum Feiern – auch in diesen Zeiten. Ich habe mich am Vormittag testen lassen, ich bin negativ getestet worden. Wir sind in den Freiheiten eingeschränkt, auf der anderen Seite aber dem Gemeinwohl verpflichtet.

Das 100-jährige Bestehen unseres Bundes-Verfassungsgesetzes lässt uns auch auf den heute schon oft zitierten Architekten dieser Bundesverfassung zurückblicken. Ich darf mich herzlich bedanken und Sie alle – auch unsere Gäste vor den Bildschirmen – ermuntern, da im Jüdischen Museum gestern eine Ausstellung zum Werk Hans Kelsens eröffnet wurde, sich mit dieser Ausstellung auseinanderzusetzen. Es zeigt diesen Menschen und es zeigt einen ganz besonderen Rechtsgelehrten, der nicht nur als Architekt dieser Verfassung Wesentliches geleistet hat, sondern der in seiner Haltung – vielleicht auch heute noch – Vorbild für viele sein kann.

Er war schon in der Monarchie Berater des Kriegsministers, und in der Auseinandersetzung zwischen Kriegsministerium und dem Generalstab hat er damals schon das zerfallende Element in Österreich, in der österreichisch-ungarischen Monarchie, nicht nur gesehen, sondern auch mit seinen Überlegungen begleitet.

Eingestellt in der Staatskanzlei durch Staatskanzler Renner, der ja die erste provisorische Verfassung selbst mitverfasst hat, wurde Kelsen – natürlich mit Unterstützung der Verwaltungs- und Verfassungsexperten der Staatskanzlei – von ihm beauftragt, diese Verfassung mit nur zwei Grundsätzen zu entwickeln. Diese zwei Grundprinzipien prägen die Verfassung bis heute und sind auch für die Zukunft eine wesentliche Leitlinie: Es sind die Grundprinzipien des demokratischen Parlamentarismus und der Dezentralisation. Wie Kelsen es in einem Interview in den Sechzigerjahren so treffend bemerkt hatte, war es eine Dezentralisation, die der Tatsache entspricht, dass der Staat aus autonomen Bundesländern besteht, die aber in ihrer Autonomie den Zentralstaat nicht so weit einschränken sollen, dass er nicht handlungsfähig ist.

Das heißt, es war – wie heute schon erwähnt wurde – immer eine Frage der Balance. Es gab diese Diskussion nicht nur damals, sondern es gab diese Diskussion auch im Konvent, und immer wieder, bis zum heutigen Tag, begleitet uns gerade auch diese Diskussion der Balance.

Es war Hans Kelsen, der den auch schon von der Bundeskanzlerin außer Dienst erwähnten Grundrechtskatalog verfasste, aber es war Michael Mayr, der auf das Staatsgrundgesetz zurückgriff, aus dem wesentliche Grundrechte, insbesondere jene, die sich auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat und zwischen Kirche und Schule bezogen, übernommen wurden. Er hat es treffend formuliert: Hier wurden aus dem alten Gesetz – wohlgemerkt: alten Gesetz – Bestimmungen fast unverändert rezipiert. Er bringt damit zum Ausdruck, dass es natürlich auch eine Tradition gibt, und diese Grundfesten braucht die Verfassung sehr wohl auch in der Zukunft.

Es ist heute schon oftmals angesprochen worden, was die Verfassung in all diesen Jahren alles miterlebt, mitgestaltet, begleitet und grundgelegt hat. Außer in den schmerzhaften Zeiten, als Österreich kein demokratisch verfasster Staat gewesen ist und die Verfassung der Gewalt weichen musste, hat sie uns stets trefflich begleitet.

Es ist bemerkenswert, wie es 1994 möglich war – vieles wurde heute schon erwähnt, deshalb lasse ich es aus –, mit unserer Verfassung der Europäischen Union beizutreten und damit auf der einen Seite Hoheitsrechte abzugeben, gleichzeitig aber die Souveränität, die durch die Verfassung zum Ausdruck kommt, beizubehalten. Die Verfassung wird sich in vielfacher Hinsicht auch in Zukunft neuen Herausforderungen stellen.

In der Ersten Republik wurde sie viermal abgeändert, auch wesentlich abgeändert, Dutzende Male in der Zweiten Republik. Daran sieht man nicht nur die Geschwindigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern, wenn das Recht vom Volk ausgeht, auch die Notwendigkeit, auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen.

Die großen Herausforderungen der Digitalisierung sind schon genannt worden. Sind wir uns sicher, dass wir all das – wenn wir oftmals eine Cloud gar nicht benennen können und nicht wissen, wohin sie gehört – auch in unserer Verfassung verrechten? Was wird die Digitalisierung auch in der Frage des Datenschutzes noch für uns bringen? Auf der einen Seite wissen die Anbieter alles über uns, auf der anderen Seite haben wir auch berechtigte Zweifel, wenn wir heute unsere Daten im Restaurant angeben müssen. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir uns mit der Frage der Big-Data-Zukunftsprogramme auseinanderzusetzen haben. Algorithmen werden unser Leben bestimmen. Wie wird sich das in der Verfassung abbilden lassen?

Trotz aller Herausforderungen der Zukunft, meine ich, wird die Verfassung weiterhin Bestand haben, vor allem aufgrund ihrer besonderen Kennzeichen: Das ist die Klarheit, das ist das Setzen von Regeln und Normen. Es ist schon der Unterschied zur US-amerikanischen Verfassung angesprochen worden, in der es auch um Werte, um Moralinstanzen geht. Herr Dr. Dossi hat letzten Endes vom Wirken der Verfassung im Hintergrund gesprochen, und das ist, glaube ich, auch gut so und wird auch in der Zukunft gut sein.

Ich denke, es sind die drei wesentlichen Prinzipien, das demokratische Prinzip, das föderalistische Prinzip und das rechtsstaatliche Prinzip, die uns auch in Zukunft begleiten werden. Das rechtsstaatliche Prinzip macht uns klar, dass wir sowohl in der Frage der Administration als auch der Jurisprudenz nur auf Basis der Gesetze agieren können. Das demokratische Prinzip ist heute fester denn je und stärker, als wir es öffentlich wahrnehmen, verankert: in unseren Familien, in unseren Vereinen, in unseren Schulen, in unseren Betrieben. Ja, es ist ein durchgängiges gesellschaftliches Grundprinzip, eine Grundhaltung.

Daher habe ich auch keine Sorge betreffend unsere Demokratie; diese wird vielfach auch immer wieder geäußert. Ja, unsere Demokratie ist Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt, antisemitischen Angriffen, rassistischen, religiösen, orthodoxen, fanatischen Angriffen. Wie in der Vergangenheit werden wir auch in Zukunft diesen Angriffen Paroli bieten können – durch unsere Gesetze und durch unsere Haltung.

Wenn uns etwas herausfordert, wenn uns etwas auch Sorge bereitet, dann ist es vielleicht der politische Umgang, der wertende Umgang, der unterstellende, der moralisierende Umgang, der Umgang, der respektlos wirkt.

Nehmen wir an Hans Kelsen, auch an seiner Lebensgeschichte, Maß! Er hat seinen Schüler Fritz Sander begleitet. In seinen rechtspolitischen Studien und Forschungen tritt dieser auf einmal gegen ihn auf, und Hans Kelsen wird durch seinen Schüler Fritz Sander mit Verleumdungen konfrontiert. Und trotzdem, auch wenn er nie mit ihm übereinstimmte, hat er ihn bei der Erlangung der Professur an der Deutschen Universität Prag unterstützt.

Lassen wir eine Meinung bestehen, bewerten wir sie nicht, sondern sehen wir darin, dass wir aus unterschiedlichen Meinungen, aus dieser Vielfalt unserer Demokratie immer wieder neu schöpfen können, ein hohes Gut! Das ist der Auftrag der ursprünglichen Verfassung, das ist der Auftrag, den wir von unseren Landsleuten mitnehmen, das ist auch der Auftrag für unsere Zukunft! (Beifall.)