Beginn der Gedenkveranstaltung: 11 Uhr

Die Veranstaltung beginnt mit der musikalischen Darbietung einer Variation über das jüdische Lied „Oifn Pripetschik" von Mark Warschawski, bearbeitet und dargebracht von Aliosha Biz.

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Mag. Rebekka Salzer: Ich darf Sie ganz herzlich zum heurigen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus begrüßen, meine Damen und Herren – heuer wieder mit mehr Gästen als, coronabedingt, im Vorjahr. Ich freue mich, Sie alle hier im Parlament in der Hofburg sowie zu Hause vor den TV-Geräten oder dem Livestream begrüßen zu dürfen.

Heute jährt sich der Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen zum 77. Mal. Am 3. Mai 1945 sind die letzten SS-Angehörigen aus den Lagern Mauthausen und Gusen geflohen. Am 5. Mai ist dann ein Spähtrupp der US-Armee in den Lagern eingetroffen, am Tag darauf haben Einheiten der US-Armee etwa 40 000 Gefangene dieser Lager endgültig befreit. Bilder des Grauens haben sich dort den Befreiern geboten, Hunderte Leichen von Gefangenen, die in den Tagen vor der Befreiung gestorben waren. Etliche sind auch Wochen und Monate danach noch an den Folgen des Martyriums im Konzentrationslager gestorben.

Heuer steht der Gedenktag ganz im Zeichen der Weiterentwicklung der KZ-Gedenkstätte Gusen. Die Republik Österreich hat heuer im März bekannt gegeben, dass wesentliche Grundstücke auf dem Areal des ehemaligen KZ angekauft wurden. Auf den Grundstücken befinden sich bedeutende bauliche Überreste des KZ Gusen, darunter der Appellplatz, der Schotterbrecher und zwei SS-Verwaltungsgebäude.

Ich darf nun Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs um ihre Eröffnungsworte bitten. – Bitte sehr.

Eröffnungsworte der Präsidentin des Bundesrates der Republik Österreich

Mag. Christine Schwarz-Fuchs: Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Werte Ehren- und Festgäste! Sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf Sie anlässlich des Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus hier im Dachfoyer des Parlaments begrüßen. Mein besonderer Gruß gilt heute jenen, die unter der NS-Herrschaft gelitten haben, und ihren Angehörigen. Es freut mich, dass wir heuer diesen Gedenktag wieder in größerem Kreis begehen können.

Heute vor 77 Jahren, am 5. Mai 1945, wurde das Konzentrationslager Mauthausen von der Armee der Vereinigten Staaten befreit. Im KZ Mauthausen wurden mehr als 200 000 Menschen interniert, etwa 90 000 Häftlinge wurden ermordet. Dieses Datum gilt seit 26 Jahren in Österreich als Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte ist längst nicht abgeschlossen und entlässt uns auch nicht aus der Verantwortung, uns für jene einzusetzen, denen heute Gewalt widerfährt.

Der heutige Gedenktag dient auch als mahnender Ruf, jeder Art von Gewalt entgegenzutreten und nicht wegzusehen, wenn Menschen erniedrigt, verfolgt, vertrieben, misshandelt oder ermordet werden. Aus der Vergangenheit zu lernen bedeutet, in der Gegenwart zu handeln, in einer Gegenwart, die uns an die dunkle Zeit des Zweiten Weltkriegs erinnert, in der europäische Städte in Schutt und Asche gelegt wurden. Wir dürfen daher dem Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht tatenlos gegenüberstehen.

„Der Mensch ist für seine Leidenschaft verantwortlich“ hat Jean-Paul Sartre gesagt. Unsere Leidenschaft für Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit und Frieden bedeutet daher etwa auch, dass wir Verantwortung für jene Menschen übernehmen, die aus der Ukraine nach Österreich oder in andere Länder geflüchtet sind. Möge uns das lebendige Erinnern an die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Leiden der Opfer am heutigen Gedenktag darin bestärken, mit Mut und Entschlossenheit zu unseren Werten und Idealen zu stehen!

Lassen Sie mich mit einem Wort von Molière schließen: „Wir sind nicht nur für unser Tun verantwortlich, sondern auch für das, was wir nicht tun.“

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Bundesratspräsidentin Christine Schwarz-Fuchs, für Ihre Eröffnungsworte.

„Gedenken als erinnernder Mahnruf?“ – Unter diesem Titel habe ich in der KZ-Gedenkstätte Gusen ein Gespräch geführt, und zwar mit Barbara Glück, der Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und Gusen, Alexander Hauer, dem Obmann des Vereins Merkwürdig – Zeithistorisches Zentrum Melk, und Barbara Stelzl-Marx, der Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung.

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Podiumsgespräch: Gedenken als erinnernder Mahnruf?

Es folgt die Einspielung eines voraufgezeichneten moderierten Gesprächs zwischen Barbara Glück, der Direktorin der KZ-Gedenkstätte Mauthausen und Gusen, Alexander Hauer, dem Obmann des Vereins Merkwürdig – Zeithistorisches Zentrum Melk, und Barbara Stelzl-Marx, der Leiterin des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung.

Mag. Rebekka Salzer: Meine Damen und Herren, wir sitzen hier im Besucherzentrum der Gedenkstätte Gusen.

Wir haben es bereits gehört: Die Republik hat hier wesentliche Teile des Areals angekauft. – Frau DDr. Glück, Sie sind ja als Leiterin der Gedenkstätte Mauthausen auch für Gusen zuständig. Warum hat denn die Republik diese Teile erst jetzt gekauft?

DDr. Barbara Glück: Das ist eine sehr lange Entwicklung, die wir hier an diesem Ort mitmachen. Wir stehen jetzt kurz vor dem 77. Jahrestag der Befreiung des KZs Gusen, und es geht genau darum, diese 77 Jahre der Nachgeschichte auch mitzubetrachten. Ich glaube, es ist vor allem wichtig, nicht zu sagen: Warum erst jetzt?, sondern: Jetzt ist es so weit! Jetzt ist die Entwicklung hier an diesem Ort so weit fortgeschritten, die Aufarbeitung hat begonnen, dass man sich auch diesem Teil der Geschichte stellen kann und auch muss.

Wenn Grundstücke zum Verkauf angeboten werden, dann ist es die eine Geschichte, dass es im Ort eine Weiterentwicklung gibt oder auch, dass man in der Gesellschaft, in der Politik international sagt: Aber an diesem Ort war etwas, und wir stellen uns jetzt gemeinsam dieser Geschichte!, und das hat auch den Anlass dazu gegeben.

Da gibt es natürlich auch teilweise das Bundesdenkmalamt, das Unterschutzstellungen gesetzt hat, aber nicht allein diese Einzelmaßnahmen haben dazu geführt, sondern, glaube ich, dieses generelle Aufarbeiten, dieses Commitment und dieses Bewusstsein, dass das Verbrechen nicht nur am Ort Mauthausen stattgefunden hat, sondern das Mauthausen überall war, oder an sehr, sehr vielen Orten in Österreich.

Mag. Rebekka Salzer: Frau Prof. Stelzl-Marx, dennoch die Frage: 77 Jahre später kauft die Republik hier die Grundstücke. Ist das, aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet, spät, oder war da vielleicht der Fokus zu sehr auf Mauthausen?

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Ich glaube, wie Barbara Glück schon gesagt hat, Mauthausen war auf jeden Fall jener Ort in Österreich, auf den sich das Gedenken nach 1945 fokussiert hat. Mauthausen ist so dieses Synonym für den Holocaust, für die Konzentrationslager in Österreich.

Außerhalb von Mauthausen hat es aber ein großes Netzwerk von Lagern gegeben, allein wenn man an die Steiermark denkt, diese Nebenlager im Stift Sankt Lambrecht, Aflenz bei Leibnitz, Peggau und so weiter, und jetzt versucht man in der Forschung und auch in der Vermittlung, immer mehr hinauszugehen und auch diese vielen, vielen Nebenlager zu erforschen und das Wissen auch an die Bevölkerung, an die Öffentlichkeit zu bringen.

In diesem Zusammenhang gibt es jetzt auch neue Forschungsschwerpunkte, die mit dem Holocaust vor unserer Haustür zusammenhängen, das heißt, mit den Todesmärschen der ungarischen Juden im April 1945 vom Südostwall Richtung KZ Mauthausen, auch Richtung Gusen. Auch da tut sich nach all den Jahrzehnten in der Forschung viel.

Mag. Rebekka Salzer: Frau Glück, was wird denn hier jetzt in weiterer Folge passieren? Die Republik hat diese Grundstücke gekauft – was passiert jetzt damit?

DDr. Barbara Glück: Zuallererst sind wir uns bewusst, dass das, was jetzt gerade hier in Gusen in Bewegung gesetzt wird, für die österreichische Gedenkarbeit ein Meilenstein ist; und genau diesen Moment, den wir jetzt haben, möchten wir mit einem Gestaltungsprozess nutzen.

Ich glaube, es sind zwei Aspekte, die uns ganz, ganz wichtig sind, die wir auch erkennen müssen.

Zum einen sind wir heute, 2022, also 77 Jahre nach der Befreiung, in der Situation, dass wir eine Gedenkstätte, die bestehende Gedenkstätte Gusen, weiterentwickeln können, mit unseren Ansprüchen, mit unseren Ideen, mit unseren Überlegungen, mit dem Wissensstand und den pädagogischen Erkenntnissen und Entwicklungen, die wir heute haben. Das ist, glaube ich, ein ganz interessanter Punkt, sage ich jetzt einmal, für uns als dritte Generation, dass wir nicht auf etwas aufbauen, eine bestehende Gedenkstätte weiterentwickeln in dem Sinn, sondern dass wir Areale bekommen, die wir neu gestalten können. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt ist, dass wir hier wirklich einen europäischen, einen internationalen Erinnerungsort schaffen können, und das, was jetzt beginnt, ist ein Gestaltungsprozess, ein Beteiligungsprozess, zu dem wir nicht nur alle unsere internationalen Partner aus unterschiedlichen Ländern einladen, sondern auch unsere nationalen Interessenvertretungen und vor allem auch die regionale Bevölkerung.

Und ich bin mir ziemlich sicher, vielmehr, ich bin davon überzeugt, dass der Prozess selber genauso wichtig sein wird wie das Ergebnis. Warum? – Weil uns das die Nachhaltigkeit garantiert – das ist zumindest das, was ich hoffe, was dieser Prozess bewirken soll. Wir nehmen uns jetzt die nächsten eineinhalb Jahre dafür Zeit, dass wir diesen Beteiligungsprozess starten, dass wir gemeinsam in Gesprächen, in Diskussionsrunden, in Workshops ausloten, wo wir das Gemeinsame sehen, wie wir diesen Ort in Zukunft gestalten können.

Mag. Rebekka Salzer: Apropos gestalten: Herr Hauer, Sie sind vom Verein Merkwürdig, haben das Zeithistorische Zentrum in Melk gegründet. Auch in Melk gab es ein KZ-Außenlager. Sie haben diese Initiative vor mittlerweile 28 Jahren gegründet.

Wie ist denn dort die Situation?

Alexander Hauer: Es gibt ein paar Stichworte, die jetzt schon gefallen sind. Das Interessante ist ja: Wir sind die dritte Generation – wo hat das Gedenken überhaupt angefangen? In Melk war es zum Beispiel so wie an vielen anderen Orten auch, dass sich die Bevölkerung oder die öffentliche Hand am Anfang sogar etwas zurückgehalten haben und das Gedenken von den Überlebenden oder deren Angehörigen begonnen wurde. Ich sehe es als eine unserer Aufgaben, dieses Vermächtnis irgendwie weiterzuführen, aber auch in unsere Gegenwart zu führen und zu verankern.

Wenn Barbara Glück sagt, wir können jetzt etwas Neues aufbauen, dann ist genau diese Vermittlungsarbeit, dieses Nichtstatische so entscheidend. Es kann ja auch nicht damit aufhören, dass jetzt hier etwas errichtet wird. Wir können – oder wir müssen eigentlich – weiterdenken, dass ein Museum nicht reicht, sondern dass der Alltag, die permanente Auseinandersetzung, die Vermittlung, das Überprüfen: Was hat das mit meiner Lebensrealität zu tun?, Welche Handlungsspielräume habe ich im Alltag?, das Entscheidende für unsere Arbeit ist.

Vor Ort ist es dann, glaube ich, wirklich auch noch so, dass es ganz, ganz unterschiedlich ist. Gusen hat komplett andere Voraussetzungen als Melk, auch weil die Personen ganz andere sind. Ich komme vom Theater, habe in der Schule, obwohl ich in Melk in die Schule gegangen bin, ganz wenig davon gehört, kann mich aber erinnern, dass ich in der 1. Klasse an diesem Gebäude des Krematoriums vorbeigegangen bin, und es hat sich ganz kurz ein Schalter umgelegt, der sich zehn Jahre lang wahrscheinlich gar nicht gemeldet hat. In der 6. Klasse aber habe ich ein Theaterstück gelesen, und ab diesem Zeitpunkt hat mich diese Thematik nicht mehr losgelassen. Wir zum Beispiel nähern uns sehr künstlerisch oder näherten uns anfangs künstlerisch und haben jetzt, seit 2017, die Forschung mit implementiert, weil es immer Weiterentwicklungen geben muss. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.

Das Interessante für mich ist, dass es an jedem Ort, so wie es ganz individuelle Schicksale gab, auch ganz individuelle Gedenkkulturen geben muss, die mit dem Ort und mit den handelnden Personen zu tun haben.

Mag. Rebekka Salzer: Was, würden Sie ganz grob sagen, ist der Unterschied zwischen Melk und Gusen?

Alexander Hauer: Es gibt schon in der Historie so viele Unterschiede. Melk gab es zum Beispiel nur ein Jahr lang, während Gusen eigentlich – ich weiß nicht, ob ich immer die richtigen Begriffe verwende, weil ich eben Theater mache und kein Historiker bin – ein Zwillingslager zu Mauthausen gewesen ist.

Der Unterschied ist, glaube ich, einfach der, dass es bei uns sehr, sehr komprimiert war, und vielleicht auch, dass Melk über dieses Stift Melk noch so eine Strahlkraft hat und dieses Aufeinanderprallen von zwei Welten dort noch stärker sichtbar wird: auf der einen Seite eben dieses Stift Melk, das mich ja auch sehr humanistisch geprägt hat, und auf der anderen Seite – auf dem anderen Berg – plötzlich eine Kaserne, die zu einem Konzentrationslager umfunktioniert wurde, wo das Lager auch mitten im Ort war. Dieses Aufeinanderprallen wird hier vielleicht noch deutlicher sichtbar.

DDr. Barbara Glück: Und auch – Entschuldigung, dass ich einhake – die Nachgeschichte; ich glaube, dass auch das ein Aspekt ist.

Alexander Hauer: Ja, vollkommen; wir sind gerade dabei, die Nachgeschichte aufzuarbeiten.

Die Kaserne war dann eben auch noch ein Durchgangslager, und es gibt viele weitere Punkte, die einfach mitbetrachtet werden müssen.

Was ich auch noch so interessant finde – du (in Richtung Glück) hast vorhin über Gusen gesagt, dass das ein internationaler Erinnerungsort sein kann –: Melk ist so ein internationaler Ort, und wir haben zum Beispiel bewusst versucht, nicht nach Nationen zu schauen, denn welche Kategorisierungen nimmt man vor? Nimmt man die Länder, die es heute gibt, oder jene, die die SS zur Einteilung der Häftlinge verwendet hat? – Wir haben auf die Muttersprachen geschaut.

In Melk waren es 37 Muttersprachen, und alleine das ist für mich so ein bewegender Moment, wenn ich im Stift bin und ständig internationale Menschen und Jugendliche sehe, wie sie dieses Gebäude anschauen, und auf der anderen Seite 37 Muttersprachen gesprochen wurden, ohne dass die Menschen freiwillig hier waren. Das sind so Dominosteine, die dann immer fallen, die mich einfach berühren und mit denen wir in der Gedenkarbeit versuchen, dieses Involvieren der Menschen auszulösen.

Mag. Rebekka Salzer: Frau Prof. Stelzl-Marx, wie wichtig ist es denn, in die Gedenkarbeit auch miteinzubeziehen, was nach der Nazizeit mit dem Grund und Boden passiert ist? Sie haben ja zum Beispiel in Ihrem Buch „Das Lager Graz-Liebenau in der NS-Zeit: Zwangsarbeiter – Todesmärsche – Nachkriegsjustiz“ auch das Schicksal der Menschen beschrieben, die sich auf dem Weg nach Mauthausen im Lager Graz-Liebenau aufgehalten haben. Dort sind in den Fünfziger-, Sechzigerjahren auch Wohnsiedlungen entstanden. Was macht denn das mit den Angehörigen, wenn sie sehen, was da auf diesem Grund und Boden passiert, auf dem ihre Vorfahren getötet wurden?

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Wenn man sich zum Beispiel das Lager Liebenau anschaut, erkennt man auf den ersten Blick gar nicht, dass das das größte Zwangsarbeiterlager in der NS-Zeit in Graz war.

Das Lager Liebenau war ja dann auch eine Zwischenstation auf den Todesmärschen der ungarischen Juden ins KZ Mauthausen, wo mindestens 34 Personen erschossen worden sind und auch heute noch diese offene Frage im Raum steht: Gibt es hier vor Ort noch Opfer in Gräbern, in Massengräbern, oder gibt es sie nicht?

1947, jetzt also vor 75 Jahren, hat es einen großen Prozess vor einem britischen Militärgericht gegeben, mit zwei Todesurteilen. Danach ist das Lager praktisch in der Versenkung, im Vergessen, im Verdrängen verschwunden. Es ist im wahrsten Sinn des Wortes Gras darüber gewachsen, und erst ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren – von zivilgesellschaftlichen Initiativen, von Medien, von Diskussionen um das Murkraftwerk, das dort dann in unmittelbarer Nähe errichtet worden ist, der Forschung und so weiter – hat dazu beigetragen, dass das Lager jetzt diesem kollektiven Vergessen entrissen worden ist und dass es vor Ort jetzt zum Beispiel eine Erinnerungstafel gibt; es gibt eine Stolperschwelle, es gibt die Pläne, dass dort auch eine künstlerische Form des Gedenkens stattfinden wird.

Es ist in den letzten Jahren also viel passiert, und das ist sicherlich ein wichtiges Signal gegenüber den Nachkommen von Menschen, die dort Opfer geworden sind, die ihr Leben im Lager Liebenau in dieser Endphase des Zweiten Weltkrieges oder während der NS-Zeit verloren haben. Allein diese Tafel als sichtbares Zeichen gibt jetzt auch die Möglichkeit, dass man einen Ort hat, wo man jährlich auch zusammenkommen kann und zum Beispiel Gedenkfeiern veranstalten kann.

Mag. Rebekka Salzer: Frau DDr. Glück, es gibt auch immer wieder Gerüchte. Zum Beispiel gab es da einen Filmemacher, der darüber berichtet hat, dass es in Gusen noch ein unterirdisches KZ mit Tausenden Toten gibt, neben dem Stollen Bergkristall, den es ja gibt, auch einen weiteren Stollen mit 26 Kilometern Länge. Er spricht da von Dokumenten von Amerikanern, von Zeitzeugen. – Was ist denn von solchen Gerüchten zu halten?

DDr. Barbara Glück: Also zum einen müssen wir einmal sagen, dass wir uns seitens der Forschung schon länger auch mit der Aufarbeitung des KZ-Areals Gusen beschäftigen – das ist das eine. Wir wissen, dass es da oder dort noch Forschungslücken gibt, genauso wie du (in Richtung Stelzl-Marx) auch gesagt hast – in unterschiedlichen Aspekten, das wissen wir.

Wovon wir aber aufgrund der Quellenlage ausgehen können, ist, dass wir die Geschichte nicht neu werden schreiben müssen. Das, was ich sagen möchte – und das ist mir ganz, ganz wichtig –, ist: Man darf da mit Informationen nicht einfach willkürlich umgehen. Man muss sich bewusst machen, dass es um Menschen geht, die dort ermordet worden sind. Von über 70 000 Gefangenen haben die Hälfte nicht überlebt! Das allein ist trauriger Anlass genug dafür, dass wir diese Aufarbeitung machen.

Da sind wir den Menschen verpflichtet, den Überlebenden und den Angehörigen, und da dürfen wir auch nicht für Verunsicherung jener Menschen sorgen, die heute in den dortigen Gemeinden leben. Die Herangehensweise von unserer Seite, seitens der Gedenkstätte, ist immer eine sehr seriöse. Es geht darum: Wenn es neue Dokumente gibt, sind wir die Ersten, die sie gerne sichten möchten, die sie aufarbeiten, die sie in unseren Forschungskreisen analysieren möchten, und erst dann geht man an die Öffentlichkeit, weil man sich überlegt hat, in welcher Form man sie vermittelt und wie man sie in die Gedenkarbeit einbaut. – So ist unser Zugang, aber da sind wir nicht weitergekommen.

Mag. Rebekka Salzer: Wie ist denn diese Situation aus wissenschaftlicher Sicht zu bewerten?

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Also ganz wichtig ist der Zugang zu Quellen, um offene Fragen, die im Raum stehen und die, wie in diesem Fall, von den Medien aufgegriffen worden sind, auf einer möglichst breiten und seriösen Basis aufzuarbeiten. Das heißt, wenn da tatsächlich neue Quellen, die eventuell neue Erkenntnisse bringen würden, entdeckt wurden, würde ich es aus Sicht der zeithistorischen Forschung sehr begrüßen, wenn diese Quellen auch der Forschung und den Experten auf diesem Gebiet zur Verfügung gestellt werden könnten, um etwaige offene Fragen auf einer seriösen Basis behandeln zu können. (Glück: Das ist aber nicht passiert!)

Mag. Rebekka Salzer: Das ist nicht passiert?

DDr. Barbara Glück: Das ist nicht passiert.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Ich glaube nicht, bisher.

Alexander Hauer: Ich möchte dazu auch einen Punkt sagen. Das ist wirklich auch das Irritierende, wenn man mit Menschen zu tun hat, die das überlebt haben, die einen geprägt haben und von denen man wirklich ein Vermächtnis mitnimmt: Es kommt eine sensationsheischende Schlagzeilenflut auf jemanden zu, bei der es, glaube ich, wirklich nicht um Gedenkarbeit geht, um Erinnern oder um Respekt, sondern es geht um die Schlagzeile; denn wenn seriös geforscht wird, dann wird man das nach allen Regeln der Wissenschaft machen. Dieses oft laute Hinausschreien aber, wenn man wieder etwas übertrumpfen möchte, dieses Übertrumpfenwollen, ist in der Gedenkarbeit die größte Irritation, die ich generell habe.

Wir sind in unserer Arbeit weit davon entfernt, auch Zahlen aufzurechnen. Natürlich hat es Relevanz, wie viele Menschen in Gusen, wie viele Menschen in Melk umgekommen sind, es hat eine Relevanz für die Communitys – wie viele aus einem Land umgekommen sind und wie viele aus einem anderen –, aber das Aufrechnen ist eine Katastrophe.

DDr. Barbara Glück: Vielleicht müssen wir mit unserer Gedenkarbeit einfach umso lauter werden.

Alexander Hauer: Ja; es geht aber immer um Einzelschicksale. Jeder einzelne Verlust – und das klingt jetzt fast wie eine Plattitüde – ist halt wirklich einer zu viel und einzeln zu betrachten. Diese Sensationsgier in der Gedenkarbeit, das schmerzt wirklich.

Mag. Rebekka Salzer: Da haben Sie ein gutes Stichwort geliefert: Gedenkarbeit. – Frau DDr. Glück, es wird so sein, dass wir bald keine Zeitzeugen mehr haben. Wie wird denn das in der Gedenkstätte Mauthausen gemacht, dass man uns und auch der nachkommenden Generation vermitteln kann, was damals passiert ist  dass es nicht abstrakt wird?

DDr. Barbara Glück: Wenn wir hier in dieser Runde sitzen, dann blicke ich nicht nur dich (in Richtung Hauer) an, sondern dann blicke ich auch genau hinter dich. Da sehe ich Bilder von Überlebenden, mit denen wir Interviews gemacht haben, die zum Großteil heute nicht mehr leben. Einer, Dušan Stefančič, lebt noch in Ljubljana.

Es geht genau um diese Einzelschicksale. Ich denke mir, es wird – oder ist auch bereits – unsere Aufgabe, weil wir heute in unserer Vermittlungsarbeit natürlich nicht mehr mit Überlebenden durch die Gedenkstätte gehen und sie mit Schulklassen ins Gespräch bringen können. Das kommt immer seltener vor.

Gerade heute, wenn wir über 1 000 BesucherInnen an der Gedenkstätte haben, großteils Schulklassen, haben wir nicht Überlebende, die sie begleiten, sondern wir sind es, es sind unsere Vermittlerinnen und Vermittler, die sie begleiten, und es liegt an uns, durch uns vielleicht auch die Menschen zum Sprechen zu bringen und ihre Geschichten weiterzuerzählen. Und ich bin überzeugt davon: Wenn sich jeder, der zu uns kommt, eine einzige Geschichte merkt, mit einem einzelnen Schicksal, einem Namen, den er gehört hat, oder ein Objekt, eine Geschichte dazu verinnerlicht hat und damit nach Hause geht, dann haben wir so viel erreicht! Dann bleibt das in Erinnerung!

Ich habe gestern eine Gruppe aus Israel dagehabt und wir haben über das Schicksal von Anne Frank gesprochen. Dann sind wir auf das Tagebuch gekommen, und ich habe gesagt: Könnt ihr euch an die Passage erinnern, in der sie schreibt, dass sie sich verliebt hat? – Ja, wir können uns erinnern! Ja, der Peter, Peter van Pels, ist nach Mauthausen gekommen, hat die Befreiung überlebt und ist kurz danach verstorben! – Ich glaube, er war keine 18 Jahre alt.

Das sind Schicksale, die mir nahegehen, die uns allen nahegehen und mit denen wir nach Hause gehen, mit denen wir uns beschäftigen. Das bleibt hängen. Und ich glaube, genau das ist auch unsere Aufgabe, die Aufgabe der Gedenkarbeit, denn so – das ist meine Überzeugung und so sehe ich Gedenkarbeit – halten wir sie am Leben und so bleiben sie uns in Erinnerung.

Mag. Rebekka Salzer: Frau Prof. Stelzl-Marx, Sie haben in einem Interview gesagt: „Nationalsozialismus und Holocaust sind in Deutschland wie auch in Österreich [...] eine Familiengeschichte.“ – Wie wichtig ist es denn, nämlich auch was die Gedenkarbeit betrifft, dass man, wenn man vielleicht aus einer Täterfamilie kommt, über die dunklen Seiten der Vergangenheit spricht und auch zum Beispiel in so eine Gedenkstätte kommt, auch wenn man ein Nachfahre eines Täters ist?

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Der Nationalsozialismus hat wirklich so in alle Bereiche des Lebens hineingespielt, in die Familien hineingespielt, und das ist etwas, was sich dann natürlich auch in den Generationen danach niedergeschlagen hat. Wir sind jetzt die dritte Generation, aber auch die vierte, die nächsten, die weiteren Generationen werden sich alle irgendwie damit auseinandersetzen müssen.

Wenn man sich anschaut, welche Familiennarrative sich im Lauf der Zeit entwickelt haben, dann sieht man, es war oft so, dass der Fokus entweder auf der Opferrolle des Großvaters, der Großmutter – oder von wem auch immer – gelegen ist, oder es sind so Heldennarrative vom Krieg erzählt worden. Das ist das, was vielfach weitergegeben wurde.

Gleichzeitig hat es so ein Schweigetabu gegeben, sowohl in den Familien der Opfer, das kennen wir aus der Forschung, noch vielmehr aber natürlich in den Familien der Täter, weil es etwas sehr Schmerzliches ist, zu erfahren, dass der geliebte Vater oder Großvater zum Beispiel, wer auch immer, im Nationalsozialismus die Rolle des Täters übernommen hat.

Ich kenne zum Beispiel die Kinder – wir haben vorhin auch kurz über das Lager Liebenau gesprochen – des Hauptangeklagten und Hingerichteten Nikolaus Pichler, die erst ganz spät erfahren haben, wieso der Vater nicht mehr lebt, dass er nämlich nicht gefallen ist, wie es das Familiennarrativ war, sondern dass er kurz nach Kriegsende als Kriegsverbrecher hingerichtet worden ist. Das war etwas, was in der Familie nicht weitererzählt worden ist.

Die zwei Kinder, die jetzt noch am Leben sind, jetzt auch schon im Pensionsalter sind, setzen sich in bewundernswerter Weise mit der eigenen Familiengeschichte auseinander. Die Tochter hat zum Beispiel in einem Interview gesagt: Das ist schwer auszuhalten, aber ich muss das aushalten, denn das bin ich den Opfern schuldig.

Das heißt, zu Ihrer Frage: Es ist ganz wesentlich, sich auch in den Familien in Österreich, in Deutschland der eigenen Familiengeschichte zu stellen, wo es oft innerhalb einer Familie eine Bandbreite von Opfern, von Mitläufern natürlich und von Tätern gegeben hat, denn das macht auch etwas mit den nachfolgenden Generationen.

Mag. Rebekka Salzer: Wie oft kommt es denn vor, dass Nachkommen von Tätern die Gedenkstätte besuchen?

Alexander Hauer: Das kommt immer wieder vor. Auch da zählen wir nicht mit.

Mag. Rebekka Salzer: Sind die Gespräche andere?

Alexander Hauer: Natürlich gibt es ganz andere Gespräche, gleichzeitig ist es für mich immer so entscheidend, dass ich nicht immer nur auf die anderen schaue. So wie Sie (in Richtung Stelzl-Marx) das gerade gesagt haben: Wenn es diesen Dreischritt von Opfern, Tätern, Mitläufern gibt, dann versuche ich, das immer sehr, sehr bewusst auf mich selber runterzubrechen; und das ist auch etwas, was wir in der Vermittlungsarbeit tun wollen: dass nicht dieser Fingerzeig entsteht. Es muss mit mir selber zu tun haben. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte!

Das ist wirklich eine der entscheidenden Fragen, auch in Gesprächen mit Familienangehörigen: Wir wissen selber nicht, wie wir uns benommen hätten – hoffentlich gut, vielleicht aber auch nicht –, wir sollten aber überprüfen, welchen Handlungsspielraum wir haben, auch in unserem Alltag. Und das muss nicht immer die große Idee sein, sondern es kann wirklich sein: Wie gehe ich mit meinem Arbeitskollegen um; wie gehe ich in meiner Familie um; wann werde ich zum Täter, wann zum Schweiger, wann zum Verteidiger? – Das ist, glaube ich, das Entscheidende – dass wir uns über diese Erinnerungs- und Gedenkarbeit selber immer wieder hinterfragen und uns fragen: Was kann ich in meinem Alltag tun?

Ansonsten ist es immer eine ganz, ganz große Überschrift, die ich, wenn ich aus der Gedenkstätte rausgehe, auch wieder abgeben kann. Dass es sich aber in meinen Alltag hineinzieht, das ist das Entscheidende.

Mag. Rebekka Salzer: Was hat das mit mir zu tun? Wie hätte ich mich damals verhalten? – Da haben Sie mir jetzt ein gutes Stichwort geliefert.

Frau DDr. Glück: Wehret den Anfängen! – Wir haben in unserer Nachbarschaft, in der Ukraine, gerade Krieg. Die Schoah ist in der Geschichte einzigartig, wir sprechen heute davon, dass so etwas nie wieder passieren darf, trotzdem erreichen uns grauenhafte Bilder und Geschichten, die uns auch an diese Zeit zurückerinnern können. Darf man da Parallelen ziehen?

DDr. Barbara Glück: Ich glaube, es hilft uns, wenn wir etwas, was heute passiert, einordnen möchten, dass wir mit dem vergleichen, was in der Vergangenheit passiert ist. Man darf aber nicht gleichsetzen. Vieles ist nicht gleich, manches ist vielleicht ähnlich, ich glaube aber, das, worum es bei unserer Aufgabe geht, ist genau das, was du (in Richtung Hauer) angesprochen hast, nämlich dem einen Rahmen zu geben, sodass man sich irgendwo darüber austauschen kann.

Das macht uns natürlich alle auch ohnmächtig und fassungslos, gerade auch bei uns im Team, wenn wir an der Gedenkstätte oder im Bereich der Forschung arbeiten, dass wir einen Krieg aufarbeiten, der 77, 80 Jahre her ist, und gleichzeitig, genau wie Sie sagen, passiert es gleich neben uns. Das macht uns einerseits ohnmächtig, andererseits gibt es uns aber noch einmal mehr Ansporn, gerade in unserer Vermittlungsarbeit zu sagen: Dazu sind wir da, dass wir den inhaltlichen Rahmen geben, dass wir uns darüber austauschen können.

Natürlich kommen die Menschen auch zu uns in die Gedenkstätte und sprechen uns darauf an. Das ist die Aktualität, die Lebensrealität von heute, die sie mitbringen. Genau wie du sagst (in Richtung Hauer), heißt die Leitfrage in unserer Vermittlungsarbeit: Was hat das mit mir zu tun? Und diese Themen werden dann aufgegriffen, zu fragen: Was bedeutet es, wenn eine Demokratie in Gefahr ist, wenn ein Krieg ausbricht?

Wir erleben das auch auf persönlicher Ebene, teilweise im Team, teilweise wenn Schulklassen gerade jetzt auch zu uns kommen und wir erst entlang des Rundgangs erfahren, dass da auch immer wieder Jugendliche dabei sind, die aus der Ukraine kommen, die gerade eben erst geflüchtet sind. Dann hebt sich das Thema, die Aufarbeitung der Vergangenheit auf eine ganz andere Ebene, und es ist unglaublich schwierig und auch für unsere Vermittlerinnen und Vermittler eine Herausforderung, sehr behutsam auf dieses Thema einzugehen.

Ein Satz nur noch: Es geht eben genau um diese übergeordneten Themen. Wir seitens der Gedenkstätte können aber immer nur mit dem Blick aus der Vergangenheit und der Aufarbeitung der Betrachtung auf dieses Thema eingehen. Das schaffen wir alleine nicht.

Mag. Rebekka Salzer: Eben, so ein Krieg wirkt ja auch nach.

Frau Prof. Stelzl-Marx, Sie haben einen Vortrag gehalten: Kriege hören nicht auf, wenn die Waffen schweigen. – Das behandelt genau das.

Was hat man denn aus der Geschichte gelernt? Hat man nichts gelernt?

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Na ja, der Blick in die Geschichte zeigt, dass zum Beispiel Kriege Folgen haben, die über Generationen weitergehen, und es ist das, was uns alle jetzt, glaube ich, auch so betroffen macht, wenn wir in die Ukraine schauen und sehen, wie viel Leid da passiert und wie viel Zerstörung in allen möglichen Bereichen, was im Bereich der Wirtschaft, im Bereich der Kultur, der Architektur zerstört wird; und natürlich dieses Hineinspielen in das ganz private Leben.

Der Blick in die Geschichte zeigt auch, dass das, worauf es immer ankommt – und das ist das, was wiederum in die Vermittlungsarbeit hineinspielt –, dieses Zusammenspiel von der großen Makrogeschichte in die ganz individuelle, private Biografie, in die Mikrogeschichte ist. Das war immer schon so. Das war im Zweiten Weltkrieg so, in der Nachkriegszeit, und das ist auch das, was jetzt passiert, und das, was uns auch, glaube ich, besonders berührt, wenn wir uns vor Augen führen, was das mit einzelnen Personen macht, gerade auch mit Kindern: dass wir nicht über abstrakte Zahlen sprechen – so und so viele Menschen sind jetzt auf der Flucht und so viele Menschen sitzen jetzt in einem Luftschutzkeller und so weiter.

Es entsteht jetzt gerade eine neue Generation von Kindern des Krieges in der Ukraine, jene, die den Krieg hautnah erleben, jene, die auf der Flucht sind, die jetzt auch in Österreich leben, hier in die Schulen gehen und so weiter, aber natürlich auch von Kindern in Russland, die von der Propaganda beeinflusst werden, deren Angehörige eventuell auch in den Krieg, in die Ukraine geschickt werden. Diese Spaltung der Gesellschaft, die wir da jetzt auch sehen, all das sind Folgen, die uns über lange Zeit hinaus begleiten werden.

Alexander Hauer: Darf ich dazu vielleicht noch einen Satz sagen, weil es ja wirklich sprachlos macht? – Ich glaube, dass wir viel gelernt haben. Ich habe 2014, als die Annexion der Krim stattfand, ein Stück über Bertha von Suttner gemacht, und die Schlagzeilen bei Bertha von Suttner und 2014 waren wirklich vergleichbar. Ich glaube, dass wir gelernt haben, denn es hätte auch ein Weltkrieg sein können – 100 Jahre vorher war es einer.

Was ich daraus für mich immer wieder mitnehme, ist, wie fragil demokratische Systeme einfach sind, wie sorgsam wir mit unserer so privilegierten Form des Zusammenlebens und unserer Demokratie umgehen müssen; denn wo Führerprinzipien hinführen, wo es hinführt, wenn wirklich Einzelpersonen entscheiden können, das spüren wir jetzt so hautnah.

Das macht uns vielleicht auch so sprachlos, auch weil man das lange weggeschoben hat. Das ist aber vielleicht das Entscheidende, dass wir jetzt für uns selber auch nochmals bemerken: Gehen wir sorgsam mit dem demokratischen Recht um! Gehen wir vorsichtig mit all den Privilegien um, die unser Zusammenleben ermöglichen!

DDr. Barbara Glück: Wissen Sie, was sich wiederholt?

Mag. Rebekka Salzer: Ich darf um kurze Abschlusssätze bitten. Machen wir einen Abschlusssatz daraus!

DDr. Barbara Glück: Was sich wiederholt, und das denke ich vor allem noch einmal mit Blick auf die Überlebenden, deren Bilder da hinter dir, Alexander, hängen, ist der sogenannte Mauthausenschwur, und ich möchte wirklich nur einen Satz davon vorlesen, weil wir eine Erklärung unterzeichnet haben – das Mauthausen-Komitee Österreich, das Internationale Mauthausen-Komitee und wir seitens der Gedenkstätte –, dass wir uns gegen diesen Krieg aussprechen.

Ich möchte nur diesen einen Satz zitieren, den die Häftlinge im Mai 1945 geschworen haben: „Der Friede und die Freiheit sind die Garanten des Glücks der Völker, und der Aufbau der Welt auf neuen Grundlagen sozialer und nationaler Gerechtigkeit ist der einzige Weg zur friedlichen Zusammenarbeit der Staaten und Völker.“ – Dieser Appell wiederholt sich.

Mag. Rebekka Salzer: Ich darf Sie um Ihren Abschlusssatz bitten.

Univ.-Prof. Mag. Dr. Barbara Stelzl-Marx: Ich muss da immer an eine meiner Kolleginnen denken, eine Historikerin, die in Kiew ist, nach wie vor in Kiew ist, und die mir relativ rasch nach dem 24. Februar per E-Mail geschrieben hat: Sie hat jetzt jahrelang zu Krieg geforscht und über Kriege gelesen. Jetzt steckt sie mittendrin in einem Krieg, und die große Hoffnung ist, dass wir bald wieder in diese Phase kommen, in der wir dazu forschen und darüber lesen können und es nicht mehr erleben müssen.

Mag. Rebekka Salzer: Das hoffen wir alle. – Vielen Dank für diese sehr spannende und lebhafte Diskussion.

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Mag. Rebekka Salzer: Ja, vielen Dank, meine Damen und Herren, für Ihre bisherige Aufmerksamkeit.

Wir dürfen uns jetzt auf eine sicherlich sehr aufschlussreiche und mit wichtigen Fakten gespickte Gedenkrede von Frau Prof. Monika Schwarz-Friesel freuen. Sie ist Professorin an der Technischen Universität Berlin und Antisemitismusforscherin. – Ich darf Sie aufs Podium und um ihre Worte bitten.

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Keynote Monika Schwarz-Friesel

Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Bitte erwarten Sie von mir keine Sonntagsrede mit optimistischen Tönen. Die Lage ist zu ernst, um Floskelkultur zu praktizieren.

Wir befinden uns, um es mit den Worten Fritz Sterns zu sagen, in einer Zeit der kulturellen Verzweiflung, angesichts Verschwörungsdenken, Demagogie, Realitätsverdrehung, Demokratiezweifel und angesichts eines brutalen Krieges, in dem auch die letzten ukrainischen Schoahüberlebenden umgebracht werden.

Der israelische Historiker Jacob Katz stellte vor 50 Jahren die Frage, ob der Holocaust als präzedenzloses Menschheitsverbrechen einen anhaltenden Katharsiseffekt haben würde, um „endlich das alte Paradigma der Abwertung jüdischen Lebens“ beenden zu können. Heute wissen wir, dass es nicht die erhoffte flächendeckende Wende, nicht die tiefgreifende Zäsur gab. Die kollektive Emotion Judenhass, sie ist höchst präsent und aktiv, überall in der Welt.

Einige Fakten aus der Forschung:

Nein, Antisemitismus ist keineswegs primär ein Randgruppenphänomen von Radikalen und Islamisten. Ja, Judenfeindschaft ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen.

Nein, der klassische Antijudaismus ist keineswegs zurückgedrängt. Ja, über zwei Drittel aller antisemitischen Äußerungen und Verschwörungsfantasien im Netz 2.0 basieren auf ebendiesen uralten Stereotypen, und sie lassen das Echo der Vergangenheit in einer noch nie da gewesenen Quantität erschallen.

Nein, Antisemitismus ist kein austauschbares Vorurteil und ist auch nicht mit Rassismus und Xenophobie gleichzusetzen. Ja, Judenfeindschaft ist eine singuläre kulturhistorische Denkkategorie, tief verankert im kollektiven Bewusstsein.

Nein, Bildung und demokratische Gesinnung schützen keineswegs immer vor einer judenfeindlichen Gesinnung. Ja, auch gebildete, modern agierende, aufklärerische, renommierte Personen produzieren Antisemitismen. Judenfeindschaft kam stets aus der gebildeten Mitte. Der Großteil der abendländischen Kultur zeugt davon. Daher ist auch die inflationäre Schlagzeile in den Medien, Judenhass habe die Mitte erreicht, völlig irreführend. Die Mitte ist nach wie vor die Quelle, und ihre geistige Substanz nährt die Ränder – nicht umgekehrt.

Nehmen wir als Beispiel die Universitäten! In den USA grassiert heute ein Campusantisemitismus: Immer mehr junge Jüdinnen und Juden werden dort attackiert, Akzeptanz findet nur, wer sich antiisraelisch äußert, und es zeigt sich, dass akademische BDS-Aktivitäten zu einer massiven Zunahme antisemitischer Vorfälle führen. Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang daran, dass auch viele Universitäten in Europa in den Dreißigerjahren zu den ersten Institutionen gehörten, die ihre jüdischen Mitglieder drangsalierten und vertrieben!

Das antijüdische Ressentiment artikuliert sich im öffentlichen Kommunikationsraum seit Jahren wieder offen, selbstbewusster und selbstverständlicher, ohne dabei immer die dringend benötigten Reaktionen in Politik und Zivilgesellschaft auszulösen.

Da war der Friedensnobelpreisträger und Menschenrechtsaktivist, der sich gegen Rassismus engagierte, jedoch wiederholt den jüdischen Staat mit diffamierenden Phrasen stigmatisierte, der den Tod in den Gaskammern marginalisierte und stereotypfestigend „die jüdische Lobby“ beschuldigte, mächtig und angsterregend zu sein. Geschadet hat all dies ihm und seinem weltweiten Ansehen nicht.

Da ist der renommierte Postkolonialwissenschaftler, der mit antijudaistischen Floskeln Israel dämonisiert und den Holocaust relativiert. Da sind die Personen aus der Kunst- und Kulturszene, die Meinungsfreiheit ausgerechnet für die antisemitische Kampagne der BDS fordern. Da ist die renommierte Kunst- und Kulturorganisation, die die Kunstfreiheit auch bei Hass für unantastbar hält. Da sind die Friedensaktivisten und Antirassismusgruppen, die für alles und jeden Toleranz und Verständnis haben, nur in einem einzigen Punkt nicht: für das jüdische Bedürfnis, nach 2 000 Jahren Unterdrückung endlich ohne Belehrungen leben zu können.

Im 21. Jahrhundert mutet man Jüdinnen und Juden sehr viel zu. Ihre Ängste werden kleingeredet, ihr Trauma heruntergespielt, ihre kollektive Trauer- und Leiderfahrung durch krude Vergleiche verhöhnt, die Schoah von einigen Historikern gar postkolonial usurpiert und trivialisiert, stets begleitet von der Beteuerung, mit Antisemitismus habe all dies selbstverständlich nichts zu tun.

Der aktuelle Antisemitismus aber, er lebt und er nährt sich nicht nur vom explizit Ausgesprochenen, sondern auch vom Dulden, vom Wegschauen und vom Leichtnehmen! Die Lehren, die mit Jahrzehnten der Verspätung aus Auschwitz und Mauthausen gezogen wurden, erfassen oft weder die Ursache noch die Tiefe der kulturellen Verankerung von judenfeindlichem Denken und Fühlen. Vor den Konzentrationslagern gab es 19 Jahrhunderte lang ununterbrochen judenfeindliche Kommunikation  als Norm, wohlgemerkt, als Regel, nicht als Ausnahme.

Über die toxischen Wurzeln des Judenhasses wissen wir nach Jahrzehnten der Forschung so viel, dass niemand mehr eine ernsthafte Diagnose für die Therapie mit dem Hinweis, man wisse noch zu wenig über Antisemitismus, in die Zukunft verschieben muss. Wir wissen sehr genau, wie sich Judenfeindschaft manifestiert, und können sehr klar Auskunft geben, wann eine Äußerung antisemitisch ist. Wir wissen sehr genau, wie legitime Kritik von Sprechakten der Diskriminierung und Diffamierung abzugrenzen ist.

Doch faktenresistent und wissenschaftsfeindlich halten viele in der Gesellschaft an der Behauptung fest, man wolle die Meinungsfreiheit beschränken und es gebe ein Kritiktabu. Dabei offenbart sich allzu oft eine Doppelmoral – man könnte es auch Scheinheiligkeit nennen: die toten Juden ehren, die lebenden als Landräuber, Kindermörder und Rassisten verunglimpfen. Ich halte es da als Wissenschaftlerin mit George Steiner: Man kann eine mit Lügen gefüllte Sprache nur durch drastischste Wahrheiten bekämpfen.

Wer heute öffentlich den jüdischen Staat als Apartheidsregime diffamiert, der produziert genauso realitätsverzerrenden Antisemitismus wie die, die behaupten, Juden schlachteten Kinder für rituelle Zwecke. Wie dringend notwendig wären da Stimmen des Bedauerns ob des Missgriffs in die Schublade unangemessener Rhetorik; doch stattdessen: selbstgerechte Unterdrückungs- und Opferfantasien. Wer in unseren Demokratien von Zensur, von Gesinnungsdiktatur fabuliert, der sollte beschämt den Blick auf Länder lenken, wo Menschen tatsächlich für ihre Meinungsfreiheit weggesperrt oder getötet werden.

Ganz gleich, in welcher Form und von wem auch immer artikuliert, auch wenn es vom russischen Außenminister kommt: Judenfeindliche Äußerungen müssen ohne Ansehen der Person, ohne Wenn und Aber zurückgewiesen werden, und zwar auch dann, wenn es für die jeweilige Realpolitik unbequem ist. Abgelegt werden muss hierbei auch die Zurückhaltung, den lautstark artikulierten islamischen Judenhass unzweideutig anzusprechen. Judenfeindliche Rhetorik nur bei Radikalen und Extremisten zu brandmarken, den Bildungsbürgern im Feuilleton jedoch „kritische Reflexionen“ zu bescheinigen: Das konterkariert jedwede Aufklärung.

In der Bereitschaft, jeden Antisemitismus zu kritisieren, zeigt sich, ob die rituell benutzten Sprüche Nie Wieder und Mit aller Entschiedenheit wirklich ernst gemeint oder am Ende nur Worthülsen sind. Benötigt wird eine kommunikative Ethik und Praxis, die die Macht und das Gewaltpotenzial von Sprache berücksichtigt und die bei aller benötigten Meinungsfreiheit dann Einspruch erhebt, wenn vergiftende Wörter benutzt werden. Freiheit ohne moralische Begrenzung verliert sich nämlich in Intoleranz und Rücksichtslosigkeit. Die Begrenzung ebensolcher destruktiver Aktivitäten aber macht am Ende eine wirklich humane Gesellschaft aus. Mit Blick auf die „offene Gesellschaft“ schrieb daher schon vor über 70 Jahren Karl Popper: „Im Namen der Toleranz sollten wir uns das Recht vorbehalten, die Intoleranten nicht zu tolerieren.“

Die moralische Substanz einer demokratischen Gesellschaft muss nicht nur gefühlt und getragen, sondern auch tatsächlich gelebt und vorgelebt werden. Dies wäre die effektivste Waffe gegen Judenhass: antisemitische Äußerungen immer zu kritisieren, ganz gleich, wie schöngefärbt sie daherkommen; denn jeder öffentlich artikulierte Antisemitismus, der nicht mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen wird, verstärkt erneut – und rückwärtsgewandt – das alte kulturelle Normalisierungsgefühl. Folglich würde Antisemitismus dann wieder habituell. In bestimmten Kreisen ist dies schon der Fall.

Die Vergangenheit lässt sich nicht ausblenden, sie durchdringt mit Wucht die Gegenwart und sie wird unsere Zukunft weiterhin gestalten, wenn man sich ihr nicht stellt und sie explizit immer beim Namen nennt. Solange Antisemitismen im Namen von Kritik, Kunstfreiheit oder politischer Empörung akzeptiert werden, solange wird Antisemitismus bleiben und sein geistiges Gift ungehindert verbreiten. – Danke. (Beifall.)

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank, Monika Schwarz-Friesel, für diese ungeschönten Worte, die nachdenklich stimmen. – Danke schön.

Einen weiteren Baustein des diesjährigen Gedenktages bildet das Stück „Hanni“ des oberösterreichischen Schriftstellers Franzobel, der für seine Werke schon vielfach ausgezeichnet wurde, unter anderem mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis.

Das Leben der Hanni Rittenschober war geprägt von bitterer Not, Armut und Entbehrungen. Mit ihrem Vater wurde sie gezwungen, beim Bau der Baracken für das Konzentrationslager Gusen mitzuarbeiten. Später hat sie gesehen, was dort vorgegangen ist, und wurde Zeugin der Mühlviertler Hasenjagd, einem Kriegsverbrechen, bei dem im Februar 1945 über 500 entflohene Häftlinge nach einem Großausbruch aus dem KZ Mauthausen gejagt und ermordet wurden.

Hanni Rittenschobers mutige Versuche, den Häftlingen zu helfen, waren allerdings wenig aussichtsreich. Ihr Mann ist 1947 völlig verändert aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt.

Franzobel hat aus dieser realen Biografie ein Monodrama für die Schauspielerin Maxi Blaha gemacht. Ein Ausschnitt davon wurde für Sie, meine Damen und Herren, in der Küchenbaracke in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen aufgezeichnet.

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Monolog mit Musik: Ausschnitt aus „Hanni – Von der kleinen Leute Größe“

Es folgt die Einspielung eines Ausschnitts aus „Hanni – Von der kleinen Leute Größe“, aufgezeichnet in der KZ-Gedenkstätte Mauthausen.

Autor: Franzobel

Komposition: Gerald Resch

Regie: Alexander Hauer

Schauspiel: Maxi Blaha

„Wias hoit so is,

wias hoit so is,

wias hoit so is.

 

Oiwei zweng zum essen,

oiwei zweng zum essen,

ois oaschichtig,

oidamlang Not und Leid.

 

Des Gwand vü z’ weit,

die Schuach vü z’ eng,

des Gsicht von da Sunn verbrennt,

im Hirn verrennt.

 

Die Bauern san recht nadig g’wen,

wias hoit so is,

Nie is vü g’redt wordn,

sogar zum Redn hats z’weng gebn.

 

Da hamma spurn müssen,

da hamma spurn müssen, spurn.

Ois is oiwei so a Soch,

so a Soch.

 

Wias hoit so is,

wias hoit so is,

wias hoit so is...

 

Es war immer schön.

Im Krieg nicht.“

 

„Essen hat gefehlt.

Beim Einmarsch haben wir geschrien.

Heil Hitler.

Alle haben geschrien wie besoffen.

Ein Rausch war das.

Bis dahin haben die Leute geglaubt, ihre Hände wären nur zur Arbeit

und zum Abwehren von Schlägen da.

Plötzlich haben sie sie in die Luft gereckt und Heil gebrüllt.

Und alle haben mitgemacht, sogar der Wald, die Luft, Gras und Brot.

Es hat ja keiner gewusst, welchen Schatten diese Sonne bringt,

was die Fahnen, die jetzt überall entrollt wurden, bedeuteten.

Niemand hat damals an den Krieg geglaubt,

Es war wie vor einem Gewitter,

wenn alles schwarz wird und man seltsam aufgeganselt ist.

Dann hat es gedonnert und geblitzt.“

 

„Hast du die Zuchthäusler mit den ausgemergelten Figuren gesehen?

Schattenwesen, wächsern blasse Silhouetten.

Das sind auch Menschen.

Aber ich sag eh nichts.

Ich weiß, dass ich nichts sagen darf.“

 

„Wie ich und der Vater am Lager mitgebaut haben, hat es geheißen,

das wird für Familien zur Erholung.

Ich hab Pfosten, Latten geschleppt.

Und jetzt rauchen beim Krematorium die Toten raus.

Aber ich sag eh nichts.

Ich weiß, dass ich nichts sagen darf. In der gemauerten Baracke ist ein Bordell.

Die schönsten Judenweiber

aber einen gleichgültigen Blick haben die,

ein Lächeln wie eine Sardinenbüchse, aus der Öl heraustropft.

Ist eine nicht mehr gut genug, wird sie ausrangiert.

Ich sag eh nichts, aber richtig ist das nicht.“

 

„Obwohl aus dem Schornstein Zuchthäusler ,aussarauken‘,

obwohl überall dieser Geruch ist, den man nicht mehr aus der Nase bekommt,

obwohl alle sehen, wie man Wagenladungen Asche in die Gusen kippt,

singen sie und tanzen und trinken Most, als ob nichts wäre,

keine Asche und kein Aussarauken.

Die Leute haben andere Sorgen als den Krieg.“

 

„Alles wissen wir, aber wir haben keine Wörter, uns zu wehren.

Die Juden sind auch Leut.

Mir tun die so leid.

Stofffetzen um die Füße, barfuß im Winter und Blicke wie aufgeschlagene Eier.

 

Und wie die geschunden werden.

Kanäle graben, mit einer großen Schotterwalze Wege planieren oder im Steinbruch. Ist einer zu schwach, wird er geschlagen, bis ihm die Hoffnung aus dem Schädl rinnt.

Ich sag eh nichts, weil, wer was sagt, ist auf der Stelle weg.

Alles, was man hört, ist: Uns geht das nichts an.“

 

„Sagen tu ich nichts, aber zuschauen kann ich auch nicht.

Der Scharführer kommt oft zum Bauern auf einen Most und sagt,

er ist nicht freiwillig beim Lagerdienst, ihm gefällt das Aussarauken nicht.

Die Vorschriften verlangten es und Dienst ist Dienst.

Ein kultivierter Mensch, aber nicht einmal der kann etwas machen.“

 

„Die machen sich eine Hetz und jagen Schäferhunde auf KZler.

Hast die spitzen Schreie gehört, Bauer?

Bis zu uns waren die zu hören.

Ist das der totale Krieg mit seinem totalen Sieg?

Oder ist es der totale Irrsinn?“

 

„Zuerst habe ich gedacht, die Zuchthäusler sind ausgewuzelte Kunten.

Aber nicht alle sind Verbrecher, die haben auch Augen und Mund,

die sind aus dem gleichen Teig wie wir.

Letzte Woche haben sie mich angefleht:

Bitte, bitte eine Rübe, einen Erdapfel. Bitte. Bitte.

Da muss man doch was tun.

 

Weißt Bauer, wir könnten die Rüben so auf den Leiterwagen schlichten,

dass welche runterfallen, wenn wir vorbeigehen!

Weißt, Fanny, wenn wir bei den Zuchthäuslern vorkommen,

wirst etwas schneller, damit ein paar Rüben runterkullern.

Dann machst du einen schnellen Schritt und … Nichts passiert.

Was willst du mit dem Ochsenziemer, Bauer?

Einestochern, damit was runterfällt.

Hätt ich nie geglaubt von dir, wo du sonst so geizig bist.

 - Schau, wie di Rüben in den Graben rollen.

Und die Zuchthäusler sind gleich da.“

 

„Nein, Herr Scharführer, das war keine Absicht.

Ja, wir wissen, wenn das noch einmal vorkommt, sind wir auch im Lager.

Wir können nichts dafür, die Rüben sind von ganz allein runter.

Was schreien Sie denn so?

Ja, wir haben verstanden, wenn das noch einmal passiert, gehen wir ins Gas.

Wir sehen ja den grünen Wagen.

Wir wissen, wer abgeholt wird, ist weg.“

 

„Bauer! Bäuerin! Habt ihr es gehört.

Ausbruch! 500 Zuchthäusler! Russen.

Sie haben Decken über den Stacheldraht geworfen und sind ausgebüxt.

Der Bürgermeister hat eine Rede gehalten,

hat etwas von Verbrechern gesagt.

 

Dann sind die Leute mit Mistgabeln, Prügeln, Gewehren und Hunden ausgerückt, haben in jeden Heuhaufen gestochen,

und wen sie erwischt haben, haben sie erschlagen, erstochen, erschossen.

Auf geht’s, haben sie gesagt, jetzt geht es auf die Hasenjagd.

Wenn zu uns einer kommt, ich versteck ihn.

Was heißt, ich soll die Goschen halten?

Was machst du mit der Mistgabel, Bauer?

Was heißt, du musst mitgehen, damit du nicht schief angeschaut wirst?

Na ja, wennst meinst, gehst halt mit.

Aber wenn zu uns einer kommt, ich sag’s euch, ich versteck ihn.“

 

„Überall sind die Erschlagenen gelegen

mit heraushängendem Gedärm, eingeschlagenen Schädeln, blutgetränkt.

Tagelang sind die da gelegen.

Russen? Zuchthäusler? Verbrecher?

Ich hab denen ins Gesicht geschaut.

Junge Männer! Halbe Kinder!

 

Nicht der Hitler hat die umgebracht, nicht der Himmler oder der Eichmann,

es waren der Bürgermeister, der Greissler, der Wirt und der Metzger,

ohne Uniform, ohne Armbinde.

Wer das gesehen hat, glaubt nicht mehr an Gott.“

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Mag. Rebekka Salzer: Ein Einblick in das Leben der Hanni Rittenschober war das, sehr berührend, sehr bedrückend.

Meine Damen und Herren, wir sind fast am Ende des heutigen Gedenktages gegen Gewalt und Rassismus angekommen. Ich darf jetzt Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka um seine Abschlussworte bitten.

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Abschlussworte des Präsidenten des Nationalrates der Republik Österreich

Nationalratspräsident Mag. Wolfgang Sobotka: Sehr verehrter Herr Bundespräsident! Werte Ehren- und Festgäste aus der Politik, aus der Verwaltung, Abgeordnete! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Manche fragen: Braucht es Gedenktage heute noch? Sind im digitalen Zeitalter Gedenktage dieser Art noch zeitgemäß? – Zweifellos haben Gedenktage es heute schwerer. Die Zeitgenossen und Zeitzeugen werden weniger. Schmerzlich vermissen wir sie, die, die Authentizität zu vermitteln wissen und Betroffenheit empfinden lassen. Geschichtsrevisionismus greift Platz, wie wir es gerade im russischen Angriffskrieg bitter erleben. Die Statistik stellt trocken fest: Der Antisemitismus in Europa, auch in Österreich, steigt. Die Vielzahl der Gedenktage raubt dem einzelnen seine Bedeutung und seine Besonderheit. Also wenn schon Gedenktage, dann schnell noch einen zum 5. Mai oder zum 8., um danach unvermittelt wieder zur Tagesordnung der kleineren und größeren Krisen zurückkehren zu können. Nein! Nein, Gedenken und Erinnern dürfen nicht zu gedankenlosen, sinnentleerten und erstarrten Ritualen werden!

Gedenken hat stets auch eine in die Zukunft weisende Dimension und muss ein sicherer Handlauf für unser gegenwärtiges werteorientiertes Denken und Handeln sein. Bleibt Erinnern nur in der Vergangenheit verhaftet, droht es meist zu einer formelhaften Pflicht zu verkommen, denn vergangenes Geschehen ist abgeschlossen, es ruht in der Geschichte. Wenn wir uns nicht wie heute danach umdrehen, bewusst danach suchen, dann bleibt es auch dort und ruht weiter in der Geschichte, still, und je weiter der Blick in die Vergangenheit zurückreicht, umso mehr bleibt er letztlich ein freiwilliger, vor allem ein konsequenzenloser, ein ungefährlicherer. Der Beraubten und Ermordeten lässt sich leicht gedenken, sie stellen keine Forderungen, und über die Mörder ist heute leicht und furchtlos zu urteilen, sie können einem nichts anhaben.

Anders verhält es sich in der Unmittelbarkeit der Gegenwart. Da hat moralisch zu handeln einen Preis, und es ist ein Risiko damit verbunden. Verantwortung zu übernehmen erscheint ungleich schwieriger.

Meine Damen und Herren, wir sind heute, 81 Jahre nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, Zeitzeugen eines neuerlichen Überfalls, des Überfalls Russlands auf die Ukraine, und wir werden auch dabei zu Zeugen  Zeugen von neuerlichem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Zeugen von Grausamkeiten, die der Zivilbevölkerung angetan werden, Zeugen einer ungeheuerlichen Kriegsrhetorik der höchsten Repräsentanten Russlands, einer Kriegsrhetorik, die den übelsten Antisemitismus bedient, von Verbrechen und Grausamkeiten, die dann wieder Anlass und Ausgangspunkt für künftige Gedenktage sein werden!

Da, meine Damen und Herren, sind wir in der unbequemen, unausweichlichen Unmittelbarkeit. Da sind wir gefordert, Stellung zu beziehen, hier und jetzt; und ob und wie wir Stellung beziehen, sagt dann wohl auch etwas über den moralischen Wertekompass unseres heutigen Gedenkens aus.

Im Lichte des Gedenkens an den 5. Mai, die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen, oder auch an das Befreien Österreichs am 8. Mai 1945 muss der gemeine Überfall Russlands, der zynisch als Militäroperation zur Entnazifizierung der Ukraine in Russland und auch anderswo firmiert, aufs Schärfste verurteilt werden, muss die Ukraine mit allen verfassungsrechtlich möglichen Mitteln unterstützt werden und muss jede Möglichkeit ergriffen werden, zu Dialog und Waffenstillstand zu führen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ja wir haben es heute und gestern wieder erleben dürfen –, die Republik Österreich hat ihre Verantwortung gegenüber der eigenen Geschichte nach einem langen und teilweise ignoranten Weg der Verdrängung und Leugnung heute klar erkannt. Aber auch wenn wir die Aufarbeitung unserer eigenen Geschichte inzwischen ernst nehmen, so ist sie längst nicht abgeschlossen und so ist auch die Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte längst nicht durchgehend beendet. Dieser Ignoranz die Stirn zu bieten, das ist wohl das Mindeste, was wir heute zu tun haben zur Geschichte der Zweiten Republik, ihrer Länder, ihrer Städte und Gemeinden zu stehen.

Mehr noch, die Zeit nach 1945 hat bis heute viele blinde Flecken. Es braucht, es benötigt eine Aufarbeitung, sie muss in Bälde und mit Rasanz fortgesetzt werden und weitergetrieben werden. Nur exemplarisch: Was ist mit der Nachkriegsjustiz? Hat sich Österreich entschuldigt? Hat es denen, die die Mordmaschinerie der Nazis überlebten, vertrieben wurden, den Jüdinnen und Juden, ein Angebot gemacht? Was war mit den verleugneten und getarnten Nazis im Dienste der Zweiten Republik, Opfer und Mythos versus Identitätsstiftung? Was geschah mit den weiteren Opfergruppen, den Roma und Sinti, den Homosexuellen, den Zeugen Jehovas?

Es gilt auch rechtlich Relevantes zu thematisieren: Wie ist es mit dem Umgang mit den eigenen Stiftungen? Ist die Restitution von gestohlenem Besitz abgeschlossen? Was geschah mit den nicht geführten Gerichtsfällen? Und so fort.

Bernhard Schlink hat es in „Der Vorleser“ folgendermaßen formuliert: „Weil die Wahrheit dessen, was man redet, das ist, was man tut, kann man das Reden auch lassen.“ Und so ist es: Im Handeln liegt unsere Verantwortung.

Die Republik hat gehandelt, indem sie die Teile des Konzentrationslagers Gusen gekauft hat, um sie dementsprechend dem Vergessen der Geschichte zu entreißen. Ein wichtiger, ein notwendiger Schritt, unsere Geschichte nach 1945 im Handeln aufzuarbeiten. (Beifall.)

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Mag. Rebekka Salzer: Vielen Dank für diese wichtigen Worte, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka.

Wir schließen die Veranstaltung mit dem Künstler Viktor Andriichenko und dem Musikstück „Schindler’s List“ von John Williams.

Ich darf mich an dieser Stelle von Ihnen verabschieden und hoffe, Sie haben von dieser Gedenkveranstaltung auch etwas für sich mitnehmen können. Ich darf Ihnen an dieser Stelle noch einen angenehmen Tag wünschen. Auf Wiedersehen!

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Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Schindlers List“ von John Williams, dargebracht von Viktor Andriichenko.

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Schluss: 12.22 Uhr