Transkript der Veranstaltung:

Verleihung der Simon-Wiesenthal-Preise 2021

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(Es folgt ein Musikstück.)

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(Beifall.)

Rebekka Salzer (Moderation): „Mayn yiddishe Meydele” war das – ich hoffe, ich habe es richtig ausgesprochen –, interpretiert von Ethel Merhaut und Béla Korény.

Damit darf ich Ihnen einen schönen guten Abend wünschen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist ein ganz besonderer Abend, denn heute wird zum allerersten Mal der Simon-Wiesenthal-Preis verliehen, und zu diesem Anlass darf ich ganz herzlich den Gastgeber der heutigen Veranstaltung begrüßen, den Präsidenten des Nationalrates und Vorsitzenden des Kuratoriums des Nationalfonds, Mag. Wolfgang Sobotka. (Beifall.)

Ich freue mich sehr, den Botschafter des Staates Israel, Mordechai Rodgold, bei uns begrüßen zu dürfen. (Beifall.)

Ganz herzlich willkommen heißen darf ich die Mitglieder der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury: Katharina von Schnurbein, Vorsitzende der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury und Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission (Beifall), Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Barbara Stelzl-Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung – einen schönen guten Abend! (Beifall) –, Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Beifall), sowie Dr. Ariel Muzicant, Vizepräsident des European Jewish Congress. (Beifall.)

Es ist eine besondere Freude, dass so viele Nominierte der Einladung gefolgt sind, und ich darf an dieser Stelle stellvertretend Karl Pfeifer, einen Überlebenden des Holocaust und des NS-Terrors, in unserer Mitte begrüßen. (Beifall.)

Des Weiteren möchte ich auch Nina Forman willkommen heißen. Sie nimmt anstelle ihrer Großmutter Lily Ebert an der heutigen Veranstaltung teil, die ebenfalls in der Kategorie Hauptpreis nominiert ist. Herzlich willkommen! (Beifall.)

Namentlich begrüßen möchte ich außerdem Gerhard Botz, Professor emeritus für Zeitgeschichte an der Universität Wien, der die heutige Veranstaltung mit einem Vortrag über Simon Wiesenthal eröffnen wird (Beifall), sowie die Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus Mag.a Hannah Lessing, die im Rahmen der heutigen Veranstaltung ebenfalls noch aktiv in Erscheinung treten wird. (Beifall.)

Mit dem Simon-Wiesenthal-Preis werden Personen oder Personengruppen ausgezeichnet, die sich durch ihr besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und/oder für die Aufklärung des Holocaust Verdienste erworben haben.

„Obwohl ich immer hoffe, daß wir aus der Geschichte lernen, habe ich zugleich die Angst, daß wir nichts dazulernen könnten und dieselben Fehler unter neuen Bedingungen wiederholen. Dazu zählt, daß wir meinen, die Demokratie sollte nicht gleich alle ihre Muskeln anspannen, um faschistische Gruppen zu bekämpfen. Dazu gehört, daß wir Angst haben, Recht gegen das Unrecht einzusetzen.“ – Das ist ein Zitat von Simon Wiesenthal.

Den Grundsatz, dass eine Demokratie mit allen Mitteln gegen Unrecht und ein Verdrängen der eigenen Geschichte kämpfen müsse, hat Wiesenthal rigoros verfolgt. Nicht zuletzt deshalb ist Simon Wiesenthal, der österreichisch-jüdische Architekt, Publizist, Schriftsteller, und ich würde auch sagen: Kämpfer, Namensträger dieses Preises. Er als Überlebender des Holocaust hat es sich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, zu seiner Mission, NS-VerbrecherInnen aufzuspüren und vor Gericht zu bringen.

Ich darf jetzt Gerhard Botz bitten, uns ein bisschen etwas über die Person Simon Wiesenthal zu erzählen. – Bitte sehr. (Beifall.)

Gerhard Botz (Professor emeritus für Zeitgeschichte, Universität Wien): Sehr geehrter Herr Präsident! Exzellenz! Sehr geehrte Mitglieder der Simon-Wiesenthal-Preis-Jury! Sehr geehrte bereits Nominierte! Sehr geehrte Damen und Herren! Simon Wiesenthal wurde 1908 in Butschatsch, ein Name der uns – traurigerweise – jetzt geläufig ist, geboren und verstarb hochbetagt 2005 in Wien. Nebenbei gesagt: Ich hatte die Ehre und das Glück, ihn sehr lange zu kennen und mit ihm auch Gespräche zu führen und Kooperationen durchzuführen.

Sein Geburtsort gehörte zum habsburgischen Kronland Galizien-Lodomerien. Das war eine Region, die um 1900 einem Kaleidoskop glich und sich aus Polnisch und Ukrainisch Sprechenden, aber auch aus Juden und anderen ethnisch-kulturellen Minderheiten zusammensetzte. Daraus hatte sich ein langes wirtschaftlich und geistig erfolgreiches Zusammenleben, ja gegenseitiges Befruchten ergeben – hier war es auch, dass Simon Wiesenthal schon im Gymnasium Cyla Müller, seine spätere Frau, kennenlernte –, allerdings war dieses Land immer auch von starken religiösen, wirtschaftlichen und klassenmäßigen Gegensätzen und von nationalen Kämpfen geprägt; vor allem Juden wurden wiederholt Opfer von grausamen Pogromen. Zudem brach 1914 der Große Krieg auch über Galizien herein und Simons Vater fand als kaiserlicher Soldat den Tod. Wiesenthals Mutter konnte mit einem Teil der Familie, wie Zehntausende auch, nach Wien flüchten, von wo sie erst nach Kriegsende wieder in ihre Heimat zurückkehrte.

Doch für den aufgeweckten Schüler und Architekturstudenten Simon wurden diese Ereignisse zu einer Art Vorschule für kommende, noch gefährlichere Zeiten. Die davon katastrophal betroffenen Regionen wurden durch die stalinistischen und nationalsozialistischen Genozide mit ihren einheimischen Kollaborateuren zu veritablen „Bloodlands“, wie der amerikanische Historiker Timothy Snyder sagt.

Als Wiesenthal ab 1939 in einer immer ärger werdenden Abfolge Arbeitslager, Gefängnisse, Ghettos und KZs des NS-Regimes zu überstehen hatte, müssen ihm seine Vorerfahrungen und seine Willenskraft, aber auch unwahrscheinliche Glücksfälle immer wieder geholfen haben, nicht ganz in das schwarze Loch des Holocausts gezogen zu werden. So gelang es ihm gerade noch zu überleben, bis er – schon fast sterbend – im Mai 1945 in Mauthausen von US-Einheiten gerettet wurde. Sein Körpergewicht betrug damals kaum noch 50 Kilogramm.

Mit einer ungebrochenen Energie stürzte sich Wiesenthal sofort in neue Aufgaben: Den Überlebenden zu helfen und mitzuhelfen, die Verbrecher zu finden. Ich zitiere: Ich habe niemanden, für den und mit dem ich leben möchte, sagte er. Das ist sein Motivationspunkt, genau genommen auch der seiner Arbeit. Ich komme am Schluss noch auf diese Arbeit, wo das zitiert ist, zurück.

Er sagte das, noch bevor er seine Frau, die als einzige seiner Familie überlebt hatte, glücklich doch wiederfand. Unmittelbar nach der Besiegung des NS-Regimes war ein auch für die amerikanischen und anderen alliierten Befreiungstruppen kaum überschaubares Chaos entstanden. Viele Hunderttausende Befreite, von denen immer noch zahlreiche starben, versuchten auf irgendeine Weise so schnell wie möglich in ihr Zuhause zu kommen, wenigstens in ihre nationalen Heimaten. Die Freunde und Familienangehörigen, die es für die meisten überlebenden Juden jedoch nicht mehr gab, sollten durch Augenzeugen selbst erfahren, welchen ungeheuerlichen Gräueltaten sie ausgesetzt gewesen waren.

Dies – und dabei die allmählich wirksam werdenden staatlichen und internationalen Organisationen, konfessionellen Hilfsorganisationen und zivilen Selbsthilfegruppen zu unterstützen – war das vordringlichste Ziel Wiesenthals, aber auch Zeitzeugen zu befragen und die Namen von SS-Leuten und anderen Tätern zu ermitteln, um sie einer gerechten Strafe zuzuführen, sah Wiesenthal bis zu einem Lebensende als seine Berufung an. So arbeitete Wiesenthal sofort beim US War Crimes Office mit und gründete 1947 mit Schicksalsgenossen in Linz den Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes.

Schon der große Nürnberger Prozess und andere Kriegsverbrecherprozesse behandelten den millionenfachen Massenmord an den Juden und an anderen rassisch Verfolgten, dennoch wurde in den deutschsprachigen Öffentlichkeiten kaum eine nachhaltige vergangenheitspolitische Wirkung erzielt.

Während die USA und andere Alliierte im Kalten Krieg neue Prioritäten setzten, widmete sich Wiesenthal weiterhin ungebremst und verstärkt der Aufdeckung der sogenannten Odessa und anderer geheimer Fluchthilfenetzwerke für ehemalige Nazigrößen. Damit begann auch seine Suche nach einem gewissen Adolf Eichmann und später anderen Kriegsverbrechern, zu der er immer wieder einen entscheidenden Beitrag leisten konnte.

Schließlich erlangte der abschätzig so genannte Eichmannjäger breite internationale Bekanntheit und er konnte seinen sieben Jahre zuvor aufgelösten Bund 1961, während der Eichmannprozess noch lief, als Dokumentationszentrum in Wien neu und größer wieder aufleben lassen. Damit entstand eine Institution, die bald auch mit innerstaatlichen und außenpolitischen Stellen vor allem in Israel und in den USA, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland zusammenarbeiten konnte. In Österreich stieß Wiesenthal aber lange noch auf taube Ohren, auf Ablehnung, die bis zu Verleumdungen und Gewalt ging, aber bereits in den Sechzigerjahren wurde immer sichtbarer, dass die Institution Wiesenthal bestehende Leerstellen der Justizpolitik und der universitären Wissenschaften auffüllen, nachfüllen, liefern konnte.

Ein Extempore, von mir kurz eingeschoben: Erst seit den 1970er-Jahren trat auf diesem Feld, nicht zuletzt in meinem eigenen Fachgebiet und benachbarten Gebieten, eine nachhaltige Wende ein. Ich will mich hier nicht ausnehmen – obwohl ich selber, also so glaube ich, nicht direkt betroffen bin –, aber das Fach soll gelobt werden, wissend, dass es hätte besser sein können.

Die Liste seiner stetig präziser werdenden Publikationen wurde immer länger. Doch Wiesenthal selbst nannte mir gegenüber 1985 in Salzburg als sein allerwichtigstes Buch für Probleme der Ethik und Praxis von Recht und Verzeihung die hierzulande wenig bekannt gewordene autobiographische Erzählung „Die Sonnenblume“ – eines der wichtigsten Bücher, um auch präzise die Probleme, die schon angesprochen wurden, neu zu denken; nicht veraltet, obwohl schon 40 Jahre her.

Hier abbrechend möchte ich allen, die sich wissenschaftlich, politisch bildend und sozialpolitisch engagieren, bei der Weiterführung der vielfältigen geschichts- und vergangenheitspolitischen Erbschaft Simon Wiesenthals vollen Erfolg wünschen, denn wie wir, meine ich, gesehen haben: Simon Wiesenthal war ein wahrhaft echter Österreicher, ja ein großer österreichischer Weltbürger! – Danke für die Aufmerksamkeit! (Beifall.)

Rebekka Salzer: Vielen Dank, Gerhard Botz! Wir haben jetzt sehr viel gehört - -

Gerhard Botz: Wenn Sie so freundlich sind, es ist ganz eine private ... Problem: Ein Professor am Gymnasium in Schärding hat das auch so ausgesprochen. Ich glaube, in Schärding, nicht bei Ihnen (Moderatorin Salzer: Ja?), war das sozusagen ein Versuch, mich in die jüdische Kultur- und Glaubensgemeinschaft zu platzieren, weil es im Alten Testament eine Bozz oder eine Booz gibt. Sie sind natürlich freigesprochen, aber es ist zum ersten Mal, dass mir das passiert, ist nicht ganz zum ersten Mal. – Aber entschuldigen Sie dieses Extempore!

Rebekka Salzer: Also Botz?

Gerhard Botz: Botz, bitte!

Rebekka Salzer: Botz. Alles klar!

Gerhard Botz: Auch Blitz können Sie sagen.

Rebekka Salzer: Blitz? – Potz Blitz! Okay! Gut, danke schön! (Beifall.)

Ja, vielen Dank, Herr Botz, für diese Ausführungen zur Person Simon Wiesenthal!

Jetzt wollen wir auch ein wenig über die Entstehungsgeschichte des Preises plaudern, und ich darf dazu Hannah Lessing und Oskar Deutsch zu mir nach vorne bitten. Darf ich Sie kurz bitten, sich einzurichten? – Ja.

Frau Lessing, der beim österreichischen Parlament eingerichtete Nationalfonds lädt dazu ein, sich für den Simon-Wiesenthal-Preis zu bewerben. Wie und wann ist denn diese Idee für diesen Preis entstanden?

Hannah Lessing (Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus): Jetzt habe ich mein Mikrofon liegen lassen.

Wie man so schön sagt: Beim Reden kommen die Leute z’samm’. – Es war, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, bei einer Israelreise des Herrn Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka. Da hat er die Enkelin von Simon Wiesenthal, Rachel Kreisberg, kennengelernt, und da hat man angefangen, zu reden und zu überlegen, um einfach eine Möglichkeit zu finden, einen Preis auszurichten, der die Erinnerung an die Arbeit der Aufklärung und des Kampfes gegen den Antisemitismus im Namen Simon Wiesenthals wachhalten sollte.

Das war sozusagen die Initialzündung, und dann folgten noch viele Gespräche. Präsident Sobotka hat sich darangemacht, das dann im Parlament umzusetzen, und im Juli 2020 wurde schließlich hier im Parlament das dementsprechende Gesetz beschlossen, und es ist dem Nationalfonds wirklich eine große Ehre, dass wir diesen Preis, diese Aufgabe, begleiten dürfen.

Der Preis trägt auch das Vermächtnis der Opfer weiter, denen unsere Arbeit im Nationalfonds seit über 27 Jahren gewidmet ist. Wir haben immer wieder gesehen, wie wichtig das den Überlebenden ist, dass ihr Schicksal nicht vergessen wird und dass man an sie erinnert und das nämlich für die nächsten Generationen auch erhält. Simon Wiesenthal steht für dieses klare und entschlossene Bekenntnis zur Erinnerung.

Rebekka Salzer: Wie groß war denn der Andrang bei den Bewerbungen, also nämlich auch international?

Hannah Lessing: Ja, da werde ich Sie vielleicht ein bisschen sozusagen mit Statistiken beschießen, und ich habe deswegen auch den Zettel bei mir. Das Interesse an einer Bewerbung war sowohl in Österreich als auch im Ausland extrem hoch. Innerhalb der sechswöchigen Einreichfrist, das ist eine ziemlich kurze Frist, langten insgesamt 284 Bewerbungen ein; zehn waren ungültig. Von allen anderen, also 274 – insgesamt waren 175 auf Deutsch und immerhin 109 auf Englisch –, von den 274 gültigen Bewerbungen, und das ist auch interessant in der Aufteilung, kamen 145, also etwa die Hälfte, aus Österreich, 129 waren internationale Bewerbungen, die uns aus vier Kontinenten aus über 30 verschiedenen Ländern erreichten. Von diesen kamen die meisten Bewerbungen aus Deutschland, 28, Israel, 16, USA, 13, es gab sogar Anträge aus Bosnien-Herzegowina, aus Polen, der Schweiz, Argentinien und Großbritannien.

Bei den BewerberInnen war das Verhältnis zwischen Einzelpersonen und Vorschlägen, Einzelbewerbungen und Vorschlägen, die von anderen Personen kamen, auch interessant. Etwa 60 Prozent der Bewerbungen waren Eigenbewerbungen, und das zeigt schon auch, dass das eine niederschwellige Sprache war bei diesem Preis, damit Personen einfach entscheiden: Ich mache eine gute Arbeit!, und die Zivilgesellschaft sich hiermit einfach zeigen kann.

Die jüngste Person, die sich für den Preis beworben hat, ist 17 Jahre alt, und die älteste Person ist 98.

Rebekka Salzer: Danke schön. Herr Deutsch, Sie sind Mitglied der hochkarätigen Jury. Nach welchen Kriterien sind denn die Nominierten und die PreisträgerInnen ausgesucht worden?

Oskar Deutsch (Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien): Das ist nicht so einfach, so wie es auch nicht einfach gewesen ist, die auszusuchen, nämlich erstens die Nominierten und dann auch die Gewinner, denn erstens haben wir eine sehr bunte Jury, und es war nicht eine Person oder zwei, sondern relativ viele Leute, die alle dazu aufgefordert sind, ihren Beitrag dazuzugeben, und eigentlich hätte jeder Kandidat, jeder Verein, der sich hier beworben hat, auch nominiert werden können und sogar gewinnen können.

Man muss sich vorstellen: Alles war zumindest eine Seite lang, also wir haben uns da 274 Bewerbungen durchlesen dürfen, und ich glaube, dass wir alle viel dabei gelernt haben. Ich persönlich habe mir gedacht, es ist wichtig, einmal zu schauen – also wenn eine Bewerbung viele Leute erreicht hat in der Vergangenheit, dann ist das für mich ein Kriterium gewesen, wenn jemand sehr, sehr lange, viele, viele Jahre im Kampf gegen Antisemitismus tätig war und ist, dann war das ein Kriterium für uns, und ich darf sagen, wir haben uns trotz verschiedener Meinungen am Anfang zusammengesprochen, zusammendiskutiert, so wie es sich gehört, und haben uns dann einstimmig geeinigt.

Rebekka Salzer: Einstimmig, das ist gut. Sie haben ja Simon Wiesenthal auch persönlich gekannt. Wie würden Sie ihn denn beschreiben, oder was hat Sie am meisten beeindruckt?

Oskar Deutsch: Also was mich am meisten beeindruckt hat, war, dass er seit der Befreiung aus dem Konzentrationslager sein Leben dem Aufspüren der Nazischergen gewidmet hat, um sie in weiterer Folge vor Gericht zu bringen. Das heißt, er hat sein ganzes Leben diesem Thema gewidmet, von der ersten Sekunde, Minute an, als er aus Mauthausen gerettet wurde.

Das zweite, was viele von Ihnen vielleicht noch nicht wissen, und das war Simon Wiesenthal sehr wichtig: Simon Wiesenthal war von 1963 bis 1983, 20 Jahre, Kultusvorsteher in der Kultusgemeinde, und ihm war es wichtig, dass nicht nur die Arbeit, die er gemacht hat, auch bei den Jungen zu Kenntnis genommen wird, sondern auch dass junge Leute mithelfen. Ihm war es wichtig, dass es jüdisches Leben in Österreich, in Wien geben soll. Das war damals noch nicht so klar, und wir sehen heute, dass sein Wunsch erfüllt wurde, und das macht mich auch sehr stolz.

Rebekka Salzer: Jetzt ist es so, dass wir beinahe täglich in der Zeitung lesen, dass antisemitische Vorfälle steigen. Hat man nichts gelernt aus der Geschichte? Warum ist das so, Frau Lessing?

Hannah Lessing: Ich denke schon, dass wir aus der Geschichte gelernt haben, aber es ist einfach kein abgeschlossener Prozess. Jede Generation muss für sich selbst die richtigen Schlüsse ziehen. Es ist ein lebendiger Lernprozess und dafür braucht es Geduld, langen Atem, Beharrlichkeit – und auch da kann uns Simon Wiesenthal ein Vorbild sein.

Wenn bei den Coronademonstrationen gelbe Davidsterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ oder Schilder mit dem Spruch „Impfen macht frei“ hochgehalten werden, dann glaube ich, dass vielen gar nicht bewusst ist, was sie da sagen und was sie da tun, aber wenn Sprechchöre wie „Wir sind die Juden!“ skandiert werden, wenn Verschwörungstheorien die alten Stereotypen und Feindbilder wieder bedienen, so muss uns das wirklich zu denken geben. Man kann sicher nicht alle erreichen, weil das natürlich eine Diskussion ist, die wir ja immer wieder haben – Antisemitismus wird nicht einfach so verschwinden –, aber man kann ein neues Bewusstsein und ein immer wieder mehr wachsendes Bewusstsein schaffen.

Auch international ist hier Österreich sehr aktiv im Rahmen der IHRA, International Holocaust Remembrance Alliance, wo wir Mittel und Wege erarbeiten, die Sinne der Menschen zu schärfen. Zum Beispiel: Woran erkennt man Antisemitismus? In welchen Formen tritt Antisemitismus auf? Oder: Wohinter verbirgt sich eine Verharmlosung oder eine Leugnung oder Verfälschung des Holocaust? Also das sind alles Sachen, die wir lernen müssen, denn wenn wir etwas bekämpfen wollen, müssen wir auch wissen wovon wir reden.

Rebekka Salzer: Herr Deutsch, Sie haben wahrscheinlich auch nahezu täglich mit diesem Thema zu tun. Warum steigen diese Vorfälle so rasant?

Oskar Deutsch: Es gibt unterschiedlichste Gründe, aber im Endeffekt ist es mir vollkommen egal, was die Antisemiten zu ihren Taten bewegt, wie sie sich da rechtfertigen oder welche Möglichkeiten sie nutzen.

Wichtig ist mir, dass in der Gesellschaft etwas dagegen getan wird, und es reicht nicht, zu sagen, dass die Politik mehr machen muss, auch hier in Österreich. Ich erinnere an die Strategie gegen Antisemitismus von Ministerin Karoline Edtstadler. Es wird viel gemacht, aber auf der anderen Seite wird es immer mehr, und es kann nicht sein, dass nur die Politik, und schon gar kann es nicht sein, dass die jüdische Gemeinde, also die Juden, den Kampf gegen Antisemitismus aufnimmt. Ja, wir sind auch dabei und wir kämpfen, aber es ist die Sache der Zivilgesellschaft. Jeder Einzelne, der heute hier ist, aber auch jeder Einzelne, jeder Österreicher und jede Österreicherin ist aufgefordert, etwas dagegen zu sagen.

Wenn in einem Stadion – sei es bei der Austria oder sei es bei Borussia Dortmund – Antisemitismus stattfindet, dann soll es dort Maßnahmen dagegen geben. Wenn sich im Gasthaus oder wo auch immer jemand antisemitisch äußert, dann erwarte ich von der Zivilcourage eines jeden Menschen, dagegen aufzustehen und demjenigen oder derjenigen klarzumachen, dass das falsch ist, und nur so können wir den Antisemitismus reduzieren. Ich habe bereits aufgegeben, dass wir dieses Krebsgeschwür von Antisemitismus besiegen können, es wird, so wie ein Krebs halt leider immer mehr, und wir bemühen uns alle, dagegen anzukämpfen. Aber wie gesagt: Für mich ist jeder Mensch auf der Erde, nicht nur Österreicherinnen und Österreicher, denn wir haben das Problem ja bei Weitem nicht nur in Österreich, aufgefordert, dagegen anzukämpfen. (Beifall.)

Rebekka Salzer: Also Sie sagen, Antisemitismus ist quasi eine chronische Krankheit. Hat so ein Preis, der jetzt vergeben wird, vielleicht auch einen positiven Einfluss?

Oskar Deutsch: Ich glaube, dass das sehr wichtig ist. Wenn so viele Menschen - - Wir sehen ja dadurch die Menge und die Vielfalt an Menschen, an Vereinen weltweit – du hast es gesagt, aus wie vielen Nationen das gekommen ist, und das war ja nur der Beginn, da kommt ja noch sehr viel, Herr Präsident –, dass viele ankämpfen gegen Antisemitismus, und trotzdem – trotzdem! ist das nicht genug. Und wie gesagt: Wir alle können schauen, dass wir etwas dagegen tun, und dann hoffe ich wirklich, dass es irgendwie Klick macht und wir den Antisemitismus reduzieren können – aber wir werden sehen.

Rebekka Salzer: Ich darf Sie noch um einen Abschlusssatz dazu bitten, vielleicht zum Thema Antisemitismus.

Hannah Lessing: Na ja, zum Thema Antisemitismus ist für mich sozusagen wirklich diese Aufgabe, dass wir aufklären, worüber wir sprechen. Ich glaube wirklich, dass sehr viele Leute des Antisemitismus bezichtigt werden, obwohl sie es nicht wissen und daher aktiv machen. Ich glaube, dass dieser Preis genau diese neue Einstellung Österreichs zeigt. Wir haben den Holocaust lange verdrängt, aber eben auch dadurch verabsäumt, gegen Antisemitismus die richtigen Maßnahmen jeder Generation zu setzen. Und dieser Preis kann jetzt hier wirklich etwas verändern, denn Antisemitismus macht einfach nicht Halt vor Grenzen, und daher ist dieser Preis, und das würde ich gerne auch noch sagen, auch international so wichtig, weil er als Best Practice für andere Länder dienen kann.

Rebekka Salzer: Vielen Dank, danke schön. (Beifall.)

Ja, danke schön für diese wertvolle Diskussion.

Hier geht es jetzt wieder weiter mit Musik von Ethel Merhaut und Béla Korény. Sie interpretieren das Lied „Ojfn Pripetschik“ von Mark Warschawski.

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(Es folgt ein Musikstück.)

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(Beifall.)

Rebekka Salzer: Vielen Dank für diese Interpretation Ethel Merhaut und Béla Korény.

Ja, meine Damen und Herren, das Parlament spielt in Österreich eine sehr, sehr wichtige Rolle, wenn es um den Kampf gegen Antisemitismus geht. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka setzt sich auch persönlich sehr für dieses Anliegen ein, und ich darf ihn jetzt um seine Worte bitten. (Beifall.)

Wolfgang Sobotka (Präsident des Nationalrates): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werte Gäste aus allen Ländern Europas! Es freut mich, dass Sie den Weg nach Österreich, ins österreichische Parlament gefunden haben.

Werter Herr Karl Pfeifer! Es ist uns eine große Ehre und eine Freude, dass Sie als Zeitzeuge, der schon so vieles auch gerade in der Aufklärungsarbeit über die Schoah und die Verbrechen des Nationalsozialismus im Sinne einer demokratischen Jugenderziehung geleistet hat, heute mit Ihrer Gattin hier sind. – Herzlichen Dank. Damit auch ein herzliches Dankeschön an alle Nominierten, die heute nicht hier sein können, die aber Vertreter gesandt haben.

Exzellenz, es freut mich, dass Sie sich Zeit genommen haben. Werte Damen und Herren des Nationalrates und des Bundesrates! Liebe Juryvorsitzende! Es war für uns ganz wesentlich, dass wir für die Jury eine ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet finden konnten. Katharina von Schnurbein, die Beauftragte der Europäische Kommission im Kampf gegen den Antisemitismus, hat sich bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. – Vielen, vielen herzlichen Dank für Ihr Engagement!

Werte Mitglieder der Jury! Professores! Vor allem der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und der Vertreter der Familie Wiesenthal heute, Präsident des European Jewish Congress, lieber Herr Dr. Muzicant! Professorin Stelzl-Marx! Es ist für uns eine Freude, dass Sie sich alle dazu bereit erklärt haben, diese Aufgabe der Jury zu übernehmen, die immer heikel ist.

Sehr geehrter Herr Professor Botz! Vielen herzlichen Dank auch für Ihre Bereitschaft, sofort zuzusagen. Ich weiß es aus Ihren Seminaren und Ihren Vorlesungen, dass Sie sich in den Siebzigerjahren, bereits in den Anfängen Ihrer Laufbahn mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. – Vielen herzlichen Dank fürʼs Hiersein.

Ich darf auch den Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes Dr. Baumgartner recht herzlich begrüßen. Es ist eine Institution, die uns auf dem Weg vieles aufgezeigt hat und eine ähnliche Geschichte wie Simon Wiesenthal hat: Ignoranz, ein dementsprechendes Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen – aber mit der Hartnäckigkeit und Konsequenz Ihres Hauses haben Sie es letzten Endes geschafft, sich eine hohe wissenschaftliche Reputation zu eigen zu machen.

Jüdinnen und Juden haben durch Jahrhunderte hindurch das österreichische Leben bereichert und gestaltet, im Bereich der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft, und sie tun es heute noch. Es ist heute eine im europäischen Vergleich gemessen kleine Gemeinde, eine aktive Gemeinde, und es muss unsere Aufgabe sein, dieses jüdische Leben, das in ganz besonderer Art und Weise ein österreichisches ist, auch immer wieder in die Mitte der Gesellschaft hereinzuholen.

So viel, wie sie aber beigetragen haben, sind sie ausgegrenzt worden, sind der Verfolgung, dem Spott und dem Hohn und schlussendlich der gewaltsamen, letzten Endes todbringenden Maschinerie des Naziregimes ausgesetzt gewesen. Und nach 1945 hat man sie nicht zurückgerufen, nach 1945 hat man sehr wenig getan. Ihre Verluste, die menschlichen, die tragischen Verluste ausgenommen – da kann man gar nichts tun, als Scham zu haben. Aber auch die materiellen Verluste wurden nicht beglichen.

77 Jahre nach dem Ende der Schoah sehen wir heute wieder offenen Antisemitismus in Europa. Bei all meinen Besuchen in den europäischen Ländern ist das auch immer ein wesentlicher Teil meiner Besuche, denn es ist kein österreichisches Phänomen, kein europäisches, dieser Antisemitismus tritt als ein weltweites Phänomen auch mehr oder minder immer frecher wieder unglückselig auf die Bühne.

Mich hat das Forschungsergebnis von Monika Schwarz-Friesel beeindruckt. Ich glaube, man kann es gar nicht oft genug ins Bewusstsein rufen, denn wenn wir die richtige Strategie angewandt hätten, müssten wir schon längst mehr Erfolg im Kampf gegen den Antisemitismus haben. Wir haben uns auf diesen Antisemitismus konzentriert, der von rechts kommt, der aus diesem faschistischen Urgrund kommt. Aber nein, der Antisemitismus, wie Monika Schwarz-Friesel sehr, sehr klar nachgewiesen hat, kommt aus der Mitte der Gesellschaft, und das nicht erst jetzt, sondern Jahrhunderte hindurch, nur an den Rändern macht er sich deutlich bemerkbar. Er ist seit Jahrhunderten da, und es ist nicht nur ein austauschbares Vorurteil, ein austauschbares rassistisches Gedankengut, nein, es ist eine singuläre kulturhistorische Denkform, die tief in der Mitte und in der gesamten Gesellschaft, verwurzelt ist, wie es Monika Schwarz-Friesel formuliert.

Das sollte uns bewusst sein. Wir spüren die Auswirkungen – aber woher kommt er? Das heißt, auch sich selbst zu fragen und zu überlegen: Wo ist es in meinem unmittelbaren Umfeld schon passiert?

Deborah Lipstadt hat in ihren Forschungen herausgearbeitet, dass Antisemitismus zutiefst antidemokratisch ist. Deshalb ist es eine der vornehmsten Aufgaben und muss es eine der vornehmlichsten Aufgaben des Parlaments sein, wenn wir schon für die Demokratie einstehen, dass wir alle antidemokratischen Tendenzen massiv bekämpfen und ihnen entgegentreten. Deren gibt es einige, aber das ist eine, die durch Jahrhunderte letzten Endes immer wieder in den gleichen Stereotypen auftaucht, bei rechts, bei links und schlussendlich auch in Form des migrantischen Sprachgebrauchs. Das heißt für uns, dass es auf allen Ebenen massive Themen gibt, die es zu bekämpfen gilt und denen man entgegentreten muss.

Präsident Deutsch hat schon angesprochen, dass die Regierung ein Ministerium damit beauftragt hat, eine Antisemitismusstrategie zu entwickeln. Das österreichische Parlament hat in seiner Demokratiewerkstatt eigens Tools eingerichtet, eigene Workshopeinheiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen und mit denen auch Schulen aufgesucht und damit konfrontiert werden.

Wir haben ein wirklich strenges Verbotsgesetz, wir haben das Symbole-Gesetz verändert und verschärft und wir haben Studien gemacht – gerade diese letzten zwei Studien –, wie denn so quasi das Sentiment in Österreich bezüglich der antisemitischen Einstellung ist. Ja, es ist vielleicht da und dort zurückgegangen, insbesondere was den sekundären Antisemitismus betrifft, aber was ganz klar vorhanden ist: Das Internet ist eine neue Plattform, wo er am schwierigsten zu bekämpfen ist. Was sich klar zeigt, ist, dass dort Hass und ein bedingungsloses, auch zentral agierendes und scharf artikuliertes antisemitisches Ressentiment Platz gegriffen hat, sodass man es nicht für möglich halten würde, welche Plattformen sich unter der Anonymität der Meinungsfreiheit dort verstecken. Karl Popper hat einmal gesagt: Toleranz ja, aber nicht gegenüber den Intoleranten. – Dort hat die Toleranz ihre Grenzen. Es muss allen Demokraten ein Anliegen sein, wo auch immer die Möglichkeit zu suchen, dagegen aufzutreten.

Wenn wir schon die Maßnahmen gesetzt haben und nicht in diesem Maß erfolgreich sind, müssen wir uns fragen: Was ist noch zu tun? Oskar Deutsch hat es schon angesprochen: Solange wir nicht die Zivilcourage haben, auf jedem Fußballplatz dagegen aufzutreten – darum freut es mich, dass unter den Nominierten auch ein Fußballklub ist, der erkannt hat, dass es für ihn Thema ist –, wenn wir nicht in jeder Gaststube, wenn wir nicht bei jedem Gespräch im privaten oder halböffentlichen Raum, wo wir Antisemitisches hören, auch klar dagegen auftreten, werden wir diese durch Jahrhunderte hindurch – und das ist natürlich auch der katholischen Kirche geschuldet – kulturelle, negative Haltung nicht wirksam bekämpfen können.

Daher haben wir gesucht: Wie wir können wir die Zivilgesellschaft ermuntern? Daraus ist dieser Preis entstanden. Ich freue mich, dass wir so viele Einsendungen verzeichnen konnten. Daran sieht man eigentlich die Breite, die früher gar nicht bemerkbar gewesen ist. Heute bitten wir Sie vor den Vorhang, und wir werden das auch noch auf publizistischem Wege machen. Wir werden auch andere ermuntern, unserem Beispiel zu folgen.

Ich kann Ihnen versichern, wir werden nach der heutigen Preisverleihung wiederum den nächsten Simon-Wiesenthal-Preis ausschreiben, denn erst wenn es wirklich in der Breite der Gesellschaft, in der Mitte ankommt, können wir mit einer einigermaßen positiven Perspektive in die Zukunft blicken.

Welcher Name wäre besser für diesen Preis gewesen, als ihn Simon-Wiesenthal-Preis zu nennen? – Er war ein Mann, der nicht auf Auftrag, sondern aus eigenem, innerem Antrieb sich das zur Lebensaufgabe gemacht hat, der nicht daran gedacht hat, nur seinen Beruf als Architekt auszuführen, sondern zutiefst als innere Aufgabe gefühlt hat: Nicht Rache, sondern Recht muss unsere Richtschnur sein! – Er hat sich nicht nur zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. Wir sollten sehen, dass es noch nach 2000 genügend Fälle gab. Es gibt noch vieles aufzuarbeiten, wie die österreichische Gerichtsbarkeit mit diesen Themen umgegangen ist.

Wir sollten sehen, dass wir auch seinem Beispiel folgen, aufzuklären, hinauszugehen, nicht müde zu werden, junge Menschen zu informieren. Und wenn unsere Studie, die des österreichischen Parlaments etwas gebracht hat, was mich positiv stimmt, dann ist es das Faktum, dass junge Menschen, die gebildeter sind, gebildet im Sinne, zu wissen, was Antisemitismus bedeutet und woher er kommt, weniger antisemitische Einstellungen mit sich bringen. Also sollten wir dieses Faktum aufnehmen und in die Breite gehen. Ich bitte Sie heute alle – nicht nur die Ausgezeichneten, sondern auch die Zuseher und die sich hier im Auditorium Befindlichen –, hinauszugehen und auch für sich zu überlegen: Welchen Anteil kann ich einbringen?

Zu Simon Wiesenthal ist schon vieles gesagt worden, lassen Sie mich nur eines auch noch erwähnen: Simon Wiesenthal war eine Person, die nicht gescheut hat, in die Konfrontation zu gehen, die auch nicht gescheut hat, Widrigkeiten zu überwinden, und Simon Wiesenthal war eine Person, die uns gezeigt hat, wo Österreich in seiner Geschichte anzusetzen hat. Und so ist dieser Preis auch zu verstehen: als Ehre seiner Arbeit, als Ehre seiner Person. Er hat uns eben auch etwas von unserem Geschichtsbewusstsein zurückgegeben. Zu lange haben wir vom Opfermythos gelebt, zu lange haben wir die Dinge unter den Teppich gekehrt. – Es ist nie zu spät!

Dass heute dieser Preis verliehen werden kann, erfüllt mich und sicher alle, die dazu einen Beitrag geleistet haben, mit Freude. Es sind so viele, ich darf Sie eigentlich alle hier miteinschließen. Durch Ihre Anwesenheit haben Sie schon ein Bekenntnis abgelegt. Es hat auch Präsident Deutsch angesprochen: Es ist nicht die Aufgabe der jüdischen Gemeinde, es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, da eine klare Position zu beziehen. Erst dann, wenn es uns gelingt, hier ein jüdisches Leben wieder sichtbar zu machen, dass neben der Fronleichnamsprozession genauso Purim in der Öffentlichkeit gefeiert wird, wenn es genauso möglich ist, das Laubhüttenfest zu feiern, haben wir erreicht, dass wir sagen können: Die österreichische Gesellschaft ist in diesem Sinne besser geworden. Und auf dieses Besserwerden haben wir hinzuarbeiten.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Einsendungen. Sie haben uns große Freude gemacht. Vielen herzlichen Dank an die Jury. – Danke schön. (Beifall.)

Rebekka Salzer: Vielen Dank, Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka. Meine Damen und Herren, jetzt wird es spannend, denn wir kommen zum Höhepunkt des heutigen Abends, zur Preisverleihung.

Der Simon-Wiesenthal-Preis ist jährlich mit insgesamt 30 000 Euro dotiert und wird in zwei Kategorien vergeben: für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus – wir haben es gehört, das ist enorm wichtig in Zeiten wie diesen –, ausgeschrieben mit 7 500 Euro.

Die zweite Kategorie: zivilgesellschaftliches Engagement für die Aufklärung über den Holocaust, ebenso mit 7 500 Euro ausgeschrieben.

Darüber hinaus gibt es einen Hauptpreis als Auszeichnung für besonderes zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und/oder für die Aufklärung über den Holocaust, der mit 15 000 Euro dotiert ist.

Wir kommen zur ersten Kategorie des heutigen Abends: Aufklärung über den Holocaust, besonderes Engagement.

Ich darf Prof. Barbara Stelzl-Marx aufs Podium bitten. Sie sind Mitglied der Jury, und ich darf Sie um die Bekanntgabe der Nominierten und der PreisträgerInnen bitten.

Barbara Stelzl-Marx (Jurymitglied, Simon-Wiesenthal-Preis): Sehr geehrter Herr Präsident! Exzellenz! Liebe Nominierte! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mir eine besondere Ehre und Freude den Preis in dieser Kategorie heute zu verlautbaren. Spuren von Krieg, Spuren von Gewalt, Spuren des Holocaust sind vielfach unsichtbar, aber über lange Zeit, über Generationen hinweg vorhanden, subkutan vorhanden, eingebrannt in die Biografien, eingebrannt in die Landschaften.

Simon Wiesenthal, und wir haben das gehört, hat es sich wirklich zu seiner Lebensaufgabe gemacht, diese Spuren freizulegen, an die Opfer zu erinnern, die Aufarbeitung des Holocaust voranzutreiben. Dieses Motto, das ist etwas, das mir auch persönlich ganz wichtig ist: Aufklärung ist Abwehr, oder die Informationstafel an der Gedenkstätte in Rechnitz: „Nur das Erinnerte, nicht das Vergessene, lässt uns lernen“.

In der Kategorie Aufklärung über den Holocaust hat es eine Fülle von Bewerbungen gegeben, insgesamt 56 aus Österreich, aber auch international. Viele von Ihnen sind heute hier. Zehn sind in die engere Auswahl gekommen, aber alle von Ihnen haben einen ganz wichtigen Beitrag geleistet – zur Dokumentation, zur Sichtbarmachung, zur Aufklärung über den Holocaust und somit auch zum Gedenken und zum Erinnern.

Ich darf jetzt die drei Nominierten in dieser Kategorie – und es war ein Ringen innerhalb der Jury, und wir haben uns dann einigen können – bekannt geben, für den Preis für zivilgesellschaftliches Engagement, für Aufklärung über den Holocaust:

RE.F.U.G.I.U.S. – wahrscheinlich allen von Ihnen ein Begriff, die Gedenkinitiative. – Wir sehen hier Kreuzstadl in Rechnitz. Seit über 30 Jahren setzt sich Refugius für das Gedenken an das Massaker in Rechnitz ein – Rechnitz, ein Synonym für die Todesmärsche der ungarischen Juden kurz vor Kriegsende in Richtung KZ Mauthausen, ein Synonym für den Holocaust vor unserer Haustür –, und Refugius erinnert seit drei Jahrzehnten an diese Verbrechen, die in Rechnitz passiert sind und klärt generell über Gefahren von Antisemitismus und Rassismus auf, etwas, das so wichtig ist, wie wir heute gehört haben, und unterstreicht damit auch den Wert von Demokratie.

Die zweite Nominierung ist für die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, und ich sehe hier eine ganze Reihe von VertreterInnen der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz – die Forschungsstelle, die ganz im Sinne von Simon Wiesenthal tätig ist, ebenfalls seit vielen Jahren, und deren Ziel darin besteht, die Akten der österreichischen Nachkriegsjustiz zu erfassen, zu erschließen, zu dokumentieren, zu archivieren und auszuwerten, ein ganz wichtiger Beitrag, und darüber hinaus, und auch hier wieder dieser große Gegenwartsbezug, nicht nur der Blick in die Nachkriegsgeschichte, sondern mit dem Blick in die Geschichte passiert hiermit eine ganz wichtige Auseinandersetzung mit Kriegsverbrechen, mit Menschenrechtsverletzungen, etwas, was heute leider traurige Aktualität hat.

Schließlich die dritte Nominierung in dieser Kategorie: Zikaron BaSalon, hebräisch für: Erinnerung im Wohnzimmer – wir sehen hier ein Beispiel dafür. Eine neue, ganz persönliche und private Möglichkeit des Gedenkens: dass Menschen sich versammeln mit ihren Freunden, mit Nachbarn, mit der Familie und gedenken, das Thema Holocaust zu Hause thematisieren. Das ist etwas, das heute bereits in über 65 Ländern regelmäßig passiert, regelmäßig tätig ist.

Das sind die drei Nominierten in dieser Kategorie: RE.F.U.G.I.U.S., Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz und Zikaron BaSalon. – Ich freue mich sehr, jetzt hiermit zu sagen, dass der Preis verliehen wird an die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz.

(Anhaltender Beifall.)

Rebekka Salzer: Ich darf Claudia Kuretsidis-Haider jetzt nach vorne bitten und Sie bitten, den Preis entgegenzunehmen.

Barbara Stelzl-Marx: Liebe Claudia, ich freue mich sehr, der Preis geht an die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz für eure jahrelange Arbeit in diesem Bereich, besonders im Sinne von Simon Wiesenthal und oft auch mit ähnlichen Problemen, ähnlichen Anfeindungen und Schwierigkeiten, wie auch Simon Wiesenthal selbst, konfrontiert. – Herzliche Gratulation und weiter so!

Claudia Kuretsidis-Haider: Danke vielmals, Dankeschön.

(Anhaltender Beifall.)

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(Es wird ein Foto gemacht.)

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Claudia Kuretsidis-Haider: Man sieht das immer im Fernsehen, und jetzt steht man selbst hier. Es ist eine ganz große Ehre, in diesem Hohen Haus sprechen zu dürfen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Exzellenz! Werte Mitglieder der Jury! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freundinnen und Freunde! Es ist mir eine ganz große Freude, für die Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz den Simon-Wiesenthal-Preis in der Kategorie Aufklärung über den Holocaust entgegennehmen zu dürfen.

Die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz wurde 1998 gegründet, und was kann es Ehrenvolleres geben, als diesen Preis am Vorabend unseres 25-jährigen Bestehens zu erhalten? Ich bin aber nicht alleine die Zentrale Forschungsstelle Nachkriegsjustiz. Ich möchte an erster Stelle auch meinen wertgeschätzten Kollegen Dr. Winfried Garscha nennen, der mit mir die Forschungsstelle vor 25 Jahren gegründet hat und bis heute leitet. (Beifall.)

Wir haben beide Simon Wiesenthal kennenlernen dürfen, und er hat uns damals bestärkt, diese Institution zu gründen.

Die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz ist nicht universitär angebunden, sie bekommt keine Basissubventionierung, umso dankbarer sind wir dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes für die mannigfache Unterstützung. Ich möchte die Gelegenheit hier nicht verstreichen lassen, dem wissenschaftlichen Leiter Dr. Gerhard Baumgartner dafür zu danken, ebenso wie seinen VorgängerInnen Dr. Brigitte Bailer und Dr. Wolfgang Neugebauer. (Beifall.)

Simon Wiesenthal war über viele Jahrzehnte oft das ungeliebte Gesicht der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen; Prof. Botz hat das auch in seinem Vortrag erwähnt. Seine Kritik an der österreichischen Justiz – mit dem Blick auf viele Verfahren, die noch vor Anklageerhebung eingestellt worden sind, mit dem Blick auf die Skandalurteile in den 1960er- und 1970er-Jahren – war berechtigt. Der große Elan der österreichischen Justiz nach 1945 in Form der Volksgerichte ist, wie Sie vielleicht wissen, nach wenigen Jahren bereits erlahmt. Dessen ungeachtet und auch ungeachtet des Ausgangs der Verfahren hat die österreichische Justiz in den Jahrzehnten nach 1945 eine nahezu unüberschaubare Anzahl an Gerichtsdokumenten produziert. Diese Gerichtsdokumente geben Auskunft über Verbrechenskomplexe, über Tatorte, über Opfer und natürlich über Täter und Täterinnen. Die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz – Barbara Stelzl-Marx hat das schon angedeutet – hat es sich zur Aufgabe gestellt, dieses Wissen, das sich in diesen Akten verbirgt, zu bündeln, miteinander zu verknüpfen, aufzuarbeiten und für die historische Forschung zur Verfügung zu stellen – aber nicht nur für die historische Forschung, historische Forschung darf niemals Selbstzweck im Elfenbeinturm sein, sondern diese Akten auch für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Akten liegen in den jeweiligen Landesarchiven, teilweise auch noch bei der Justiz. Leider mussten wir in den letzten Jahren erfahren, dass manche Landesarchive – das Wiener Stadt- und Landesarchiv ist hier eine viel bedankte Ausnahme – den Zutritt zu den Akten, die Einsicht in die Akten restriktiver handhaben, als das noch vor einigen Jahren der Fall gewesen ist.

Ich bin gleich fertig. (Heiterkeit der Rednerin. Zwischenruf.) – Ich weiß, aber ich möchte mein Anliegen hier formulieren.

Seit 2021 gibt es in Deutschland die Möglichkeit, Urteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen online abzurufen. Wir denken, dass es diese Möglichkeit auch in Österreich geben soll, und wir werden in den nächsten Jahren daran arbeiten – nicht nur dass die Urteile abgedruckt werden, sondern dass sie eben auch wissenschaftlich erschlossen sind. Dafür werden wir nicht nur finanzielle Unterstützung benötigen, sondern auch die Unterstützung der Politik, um die genannten Probleme bewältigen zu können. Der Simon-Wiesenthal-Preis ist uns dafür Motivation und Ermunterung, aber auch Verpflichtung, unsere wissenschaftliche Arbeit im Sinne von Simon Wiesenthal fortzusetzen. Dafür möchte ich mich sehr, sehr herzlich bedanken. (Anhaltender Beifall.)

Rebekka Salzer: Vielen herzlichen Dank. Ja, der erste Preis ist vergeben, und wir kommen sogleich zur zweiten Kategorie des heutigen Abends: besondere Verdienste im Kampf gegen Antisemitismus. Ich darf das Jurymitglied Ariel Muzicant auf die Bühne und um die Bekanntgabe der Nominierten und der PreisträgerInnen bitten. – Bitte sehr.

Ariel Muzicant (Jurymitglied, Simon-Wiesenthal-Preis): Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Botschafter! Herr Oberrabbiner! Liebe Katharina! Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Jurymitglieder! Ich stehe hier im Auftrag und im Namen der Familie Wiesenthal-Kreisberg, die sich wirklich sehr, sehr, sehr bei Ihnen bedanken, Herr Präsident, und bei dir, liebe Frau Generalsekretärin, und stellvertretend für alle, die dazu beigetragen haben, dass es diesen Preis gibt. Ich glaube, wenn Simon heute hier wäre, dann würde er sich sehr, sehr darüber freuen.

Ich habe ihn 1970 kennengelernt. Hier ist sehr viel über seine Tätigkeit im Zusammenhang mit der Aufklärung vom Naziverbrechen geredet worden. Für uns – damals Studenten – war er ein Vorbild und ein ewiger Streiter, mit dem wir oft auch nicht einer Meinung waren. Es war ja nicht so, dass das alles eitel Wonne war, wir haben uns oft ganz heftig auseinandergesetzt und gestritten, ich war besonders beliebt bei ihm (Heiterkeit des Redners), aber ich habe wirklich unheimlich viel von ihm gelernt, und er war für uns alle ein Mentor und jemand, den wir unendlich bewundert haben: nach alldem, was er mitgemacht hat und nach allem, durch das er gegangen ist, den Mut, die Kraft zu haben, sich hinzustellen und immer wieder und immer wieder gegen diesen braunen Sumpf anzukämpfen – damals brauner Sumpf, heute eher wesentlich mehr.

Also ich möchte die Gelegenheit einmal wahrnehmen, um wirklich von ganzen Herzen Dankeschön zu sagen: danke schön Ihnen, Herr Präsident, danke schön dem Nationalfonds, und vor allem auch zu erwähnen, wenn ich Frau von Schnurbein sehe: Es ist sehr viel geschehen. Als ich Student auf der Universität Wien war, haben wir uns mit dem Neonazis herumgeprügelt, die geschrien haben: Juda verrecke! – auf der Uni Wien! Das ist 52 Jahre her, das ist noch nicht so viel. Ich erinnere mich, dass damals die Schmierereien am jüdischen Friedhof die Regel und nicht die Ausnahme waren. Ja, es ist heute ein anderes Österreich als vor 50 Jahren, als vor 40 Jahren, und es ist ein anderes Europa, in dem wir leben.

Wir waren jetzt vor ein paar Tagen in Jerusalem und wir haben den Bericht des Kantor Centers gegen den Antisemitismus gehört: dass trotz alldem, was wir tun und was Sie tun, die Zahlen in der ganzen Welt explodieren. Einer der Plätze, wo sie am stärksten explodieren, ist New York City – in New York City bitte! Am stärksten wächst der Antisemitismus derzeit in den Vereinigten Staaten von Amerika – in der sogenannten Goldenen Medine, wie sie bei uns immer geheißen haben.

Alles, was wir hier tun und machen, ist großartig – Katharina, ich schaue vor allem Sie an, Sie wissen, wie sehr ich Ihre Arbeit schätze, und Herr Präsident, wir haben jetzt mehrfach das Glück gehabt, miteinander Erfolge zu feiern. Ronald Lauder hat am Montag in einer Sitzung des World Jewish Congress davon gesprochen, dass wir uns auch darüber klar sein müssen, dass der Antisemitismus so etwas wie ein Kavaliersdelikt geworden ist, und wir sollten vielmehr von Judenhass sprechen als von Antisemitismus, weil anscheinend das Wort Antisemitismus oder als Antisemit bezeichnet zu werden, viele dieser Täter überhaupt nicht mehr juckt. Aber genug der Einleitung. Man hat mir gesagt, 2 Minuten, und ich versuche wirklich wieder zu präsentieren.

Ich möchte nur eines sagen: Ganz gleich, wen wir aussuchen oder wen wir ausgesucht haben: Mir tut es in der Seele weh, dass wir nicht 20 oder 30 Preise vergeben konnten. Herr Präsident, vielleicht das nächste Mal. (Heiterkeit des Redners.) Es war aber wirklich nicht einfach. Es war zwar einstimmig, aber wir haben uns wirklich schwergetan. Es waren so viele tolle Bewerbungen.

So, ich soll jetzt der Reihe nach vorstellen?

Rebekka Salzer: Bitte.

Ariel Muzicant: Dr. Andreas Kahrs und Daniel Lörcher für ihre Arbeit bei Borussia Dortmund. Wir hatten ja das Vergnügen und die Ehre, Sie vor zwei Wochen in Jerusalem zu begrüßen und Ihnen schon dort zu sagen, wie sehr wir Ihre Arbeit anerkennen. Gerade die Fußballfans, gerade das Publikum, das Sie ansprechen, ist ganz besonders wichtig für uns, weil wir damit wirklich das Herz der Gesellschaft erreichen. Dies auf den Universitäten zu tun, ist eine Sache, aber das, was Sie leisten, ist großartig. Ich glaube, dass das ein Vorbild für viele ist. Wir können Ihnen gar nicht genug dafür danken.

Das Schwedische Komitee gegen den Antisemitismus: Es vermittelt mit dem digitalen Informations- und Vermittlungsmaterial „Antisemitism – Then and Now“ Wissen über Antisemitismus in historischer und zeitgenössischer Perspektive und schafft so Verständnis für Problematik und Gefahren von Antisemitismus. Ziel ist es auch, die Fähigkeiten zu stärken, antijüdische Vorstellungen und Einstellungen zu erkennen und darauf zu reagieren. Man wird es kaum für möglich halten, aber eines der Hotbeds des Antisemitismus war vor ein paar Jahren die Stadt Malmö. Ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung hat Malmö verlassen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Dieses liberale Land, das so viele Juden im Zweiten Weltkrieg aufgenommen hat, und dann haben wir in Malmö eine Situation gehabt, wo der Rabbiner regelmäßig verprügelt wurde.

Last but not least: das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus. 2008 wurde das von Levi Salomon initiierte Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus mit der Unterstützung von Lala Süsskind und der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gegründet. Dieses Forum betreibt die Stärkung des demokratischen Staatswesens, die Förderung des interreligiösen und interkulturellen Austauschs sowie die Hilfe für politisch, rassistisch oder religiöse Verfolgte.

Rebekka Salzer: Jetzt kommen noch einmal die Nominierten.

Ariel Muzicant: Ich freue mich sehr, Ihnen heute mitzuteilen, dass das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus den Preis erhalten hat. (Anhaltender Beifall.)

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(Es wird ein Foto gemacht.)

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Rebekka Salzer: Bitte sehr, Herr Salomon.

Levi Salomon (Jüdisches Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus): Herr Sobotka, ich bin einfach baff. Ich weiß nicht, was ich sagen soll – in solchen Zeiten. Es gehen mir sehr viele Gedanken durch den Kopf, sehr viele Erinnerungen. Es ist nicht einfach. Es ist nicht nur für mich nicht einfach, es ist für uns alle nicht einfach, denn wir leben in einer besonderen Zeit, und wenn ich an das Jüdische Forum denke, wenn ich an meine Kollegen denke, an das, was wir leisten – was wollen wir erreichen? –, dann kommen mir sehr, sehr viele Gedanken.

Was machen wir? – Das Erste, das wir machen, ist: Wir beobachten. Wir beobachten, wir monitoren. Wir beobachten im Netz, was passiert, und wir gehen mit der Kamera und mit dem Fotoapparat auf die Straße und beobachten alles, was auf der Straße passiert – und viele Dinge, die auf der Straße passieren, sind aus meiner Sicht besorgniserregend, sie sind unangenehm, sie sind schlimm. Das aufgenommene Material versuchen wir dann, an die Öffentlichkeit weiterzugeben und so auf bestimmte Phänomene aufmerksam zu machen, auf antisemitische Tendenzen, auf Rassismus, auf Rechtsextremismus. Wir versuchen, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren, und wir versuchen, die Öffentlichkeit für Gegenmaßnahmen zu gewinnen.

Im nächsten Schritt versuchen wir nach ausführlicher Analyse und nach der Sensibilisierung der Öffentlichkeit, pädagogisch-didaktisches Material zu erstellen, denn: Was ist wichtig? – Wichtig ist unsere Zukunft, wichtig sind die jüngeren Menschen, das ist die Gruppe von Menschen zwischen 14 und 27. Wir versuchen, Personen zu erreichen, und wir erstellen pädagogisch-didaktisches Material und Konzepte. Wir gehen in die Schulen, an die Unis und versuchen, ins Gespräch zu kommen, wir führen Lernwerkstätten, Workshops durch. Wir probieren unsere Konzepte aus, dann kommen wir in unsere Büroräume zurück, denken darüber nach, was wir gemacht haben und wie es gelaufen ist, was man besser oder anders machen kann, erstellen neue Konzepte, probieren sie noch einmal, analysieren sie noch einmal, probieren sie noch einmal über Jahre hinaus, über längere Zeit, und dann entsteht pädagogisch-didaktisches Material und die Konzepte.

Ich will Ihren guten Willen aber jetzt nicht überstrapazieren. Ich möchte jetzt an meine Kollegen erinnern: Die sitzen im Büro und schauen zu. – Danke schön. (Anhaltender Beifall.)

Rebekka Salzer: Ich glaube, Sie haben etwas vergessen. (Heiterkeit.) Bitte sehr.

Meine Damen und Herren, wir nähern uns dem Ende des Abends, aber auch dem absoluten Höhepunkt: Wir kommen zum Hauptpreis des heutigen Abends.

Ich darf die Vorsitzende der Jury, Katharina von Schnurbein, um die Bekanntgabe der Nominierten und der PreisträgerInnen bitten. – Danke schön.

Katharina von Schnurbein (Juryvorsitzende, Simon-Wiesenthal-Preis): Vielen Dank. Sehr geehrter Präsident! Exzellenz! Sehr geehrte Damen und Herren! Lieber Herr Pfeifer – stellvertretend für alle Zeitzeugen! Vor allem aber: Hochverehrte, liebe Nominierte und Preisträger! Es ist mir eine große Ehre, jetzt als Vorsitzende der Jury den Simon-Wiesenthal-Preis, den Hauptpreis, vergeben zu dürfen.

Bevor ich zu den Nominierungen komme, möchte ich eine Ankündigung vonseiten der Europäischen Kommission machen. Wir werden alle europäischen Nominierten im November einladen, an einem zivilgesellschaftlichen Forum teilzunehmen, um sich weiter zu vernetzen. (Beifall.)

Die Nominierten für den Hauptpreis kommen aus vier Ländern: Großbritannien, Israel, Österreich und Italien. Sie haben auf vielfältige Weise als Zeitzeugen ihr Leben in den Dienst der Bildung und Erinnerung an die Schoah gestellt.

Ich darf Ihnen vorstellen: Frau Lily Ebert. Lily Ebert ist eine 97-jährige Schoah-Überlebende, geboren in Ungarn. Mit 20 Jahren wurde sie von den Nazis und deren Kollaborateuren nach Auschwitz deportiert. Sie und zwei ihrer Schwestern haben das Grauen überlebt. Sie trug einen goldenen Kettenanhänger, den sie im Absatz ihres Schuhs versteckte und später in Brotbrocken. Seit der Befreiung trägt sie diesen Anhänger jeden Tag als Symbol ihres Überlebens. Da sieht man ihn nicht, weil das Buch davor ist.

Sie trägt es auch, weil es das Einzige ist, das sie aus ihrer Kindheit hat. Seit den 1980er-Jahren ist sie als Zeitzeugin aktiv. Obwohl die Vergangenheit auf ihr lastet, erhebt diese außergewöhnliche Frau immer wieder ihre Stimme, um Zeugnis abzulegen gegen Antisemitismus und Hass. Gemeinsam mit ihrem Urenkelsohn Dov ist sie dabei äußerst kreativ und erreicht heute über Twitter und Tiktok Millionen von Menschen, eine echte Influencerin im hohen Alter. (Beifall.)

Der zweite Nominierte ist Herr Zwi Nigal. Zwi Nigal wurde 1923 in Wien geboren. 16-jährig flüchtete er 1939 nach Palästina und kämpfte in der britischen Armee gegen Nazideutschland. Sein Vater wurde im Holocaust ermordet. Mit seiner Mutter wurde er nach der Schoah in Israel wieder vereint. 1946 kehrte er als britischer Soldat nach Wien zurück, doch wollte er hier nicht bleiben. Er schloss sich der Hagana an und kämpfte 1948 im israelischen Unabhängigkeitskrieg. Seit seiner Pensionierung hält er als Zeitzeuge Vorlesungen vor jährlich etwa 1 500 Schülerinnen und Schülern in Deutschland und Österreich – und 2018 in seinem eigenen Gymnasium in Wien. (Beifall.)

Der dritte Nominierte ist Herr Karl Pfeifer. Karl Pfeifer wurde 1928 in Baden bei Wien geboren. 1938 floh er mit seinen Eltern nach Ungarn. Ihm gelang die Flucht nach Palästina. Von dort kehrte er 1951, nur sechs Jahre nach Kriegsende, nach Österreich zurück. Karl Pfeifer ist Journalist. Er war von 1982 bis 1995 Redakteur der „Gemeinde“, des offiziellen Organs der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Anfang der 1990er-Jahre und bis 2005 arbeitete er als Wiener Korrespondent des israelischen Radios und als freier Journalist des antifaschistischen Londoner Magazins „Searchlight“ sowie des jüdischen Internetmagazins „haGalil“. In seiner langen Karriere hat er die Enthüllung der Nazivergangenheit öffentlicher Akteure durch Simon Wiesenthal live miterlebt und kommentiert. Mit seiner journalistischen Arbeit warnt er bis heute vor wieder erstarkendem Extremismus und Judenhass. (Beifall.)

Die vierte Nominierte ist Frau Liliana Segre. Mit 13 Jahren, am 30. Januar 1944, wurde Liliana Segre deportiert in einem Zug vom Binario ventuno, dem dafür genutzten Gleis 21, am Mailänder Zentralbahnhof. Kurz nach Ankunft im KZ Auschwitz trennte man sie von ihrem Vater Alberto, sie sollte ihn nie wiedersehen. Von den 776 italienischen Kindern, die in die Vernichtungslager gebracht wurden, haben nur 25 überlebt. Die jetzt 91-jährige Mailänderin ist bis heute als Zeitzeugin im Fernsehen, im Theater und in Schulen aktiv und erzählt, was passiert, wenn Hass die Herzen erdrückt. Sie wurde zur Symbolfigur und zu einer der wichtigsten moralischen Autoritäten Italiens. Sie ist Senatorin auf Lebenszeit, Präsidentin des Sonderausschusses gegen Intoleranz, Rassismus und Antisemitismus sowie Mitglied im Parlamentsausschuss für das Kinder- und Jugendalter. Die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen liegt ihr besonders am Herzen. (Beifall.)

Für den Simon-Wiesenthal-Preis sind darüber hinaus viele wunderbare Vorschläge eingereicht worden, sodass uns die Wahl äußerst schwerfiel. Eines jedoch war sehr schnell klar und einstimmig beschlossen: Der Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises geht in seinem ersten Jahr an alle vier Zeitzeugen. (Lang anhaltender, teilweise stehend dargebrachter Beifall.)

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(Es wird ein Foto gemacht.)

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Karl Pfeifer (Preisträger): Sehr geehrter Herr Präsident! Exzellenz! Kwod ha-Schagrir! Sehr geehrte Damen und Herren! Im Namen aller Preisträger bedanke ich mich ganz herzlich für diesen uns ehrenden Preis. Meiner Ehefrau Dagmar, die mich seit 33 Jahren begleitet, unterstützt und ermutigt, spreche ich meinen besonderen Dank aus. Ohne sie würde ich nicht hier stehen. (Beifall.)

Als im November 1996 mein erstes Buch „Nicht immer ganz bequem“ – das charakterisiert mich angeblich – im Parlamentsklub der Grünen vorgestellt wurde und Simon Wiesenthal die Laudatio hielt, konnte sich niemand vorstellen, dass in Österreich ein Preis nach ihm benannt wird und ich die große Ehre habe, ihn zu erhalten. Leider hat damals niemand diese Rede aufgenommen, sie wurde nirgendwo veröffentlicht, wir haben ein paar Bilder davon.

Bei meiner Ankunft in Österreich vor 71 Jahren wurde ich mit der Erklärung empfangen: Heimkehrer sind diejenigen, die in der Wehrmacht oder bei der Waffen-SS waren! Ich war nur ein Rückkehrer und hatte kein Recht auf die Unterstützung des Staates. Infolgedessen war meine erste Adresse im Asyl der Stadt Wien in der Meldemannstraße, in einem Schlafsaal mit 49 anderen Männern. So habe ich hier begonnen. Heute ist dieses Land ein anderes.

Die wenigen zurückgekehrten Juden mussten erkennen, dass der tief verwurzelte Judenhass, den es schon lange vor der nationalsozialistischen Herrschaft gab, nicht verschwunden war. Sagen wir es ganz offen: keine Partei, keine gesellschaftliche Kraft dieses Landes kann von sich behaupten, den Antisemitismus in allen seinen Formen nach 1945 immer konsequent bekämpft zu haben. Wenn man diesen überhaupt wahrgenommen hat, dann in erster Linie beim politischen Gegner. Heute begreift man, dass Judenhass ein Problem der ganzen Gesellschaft ist. Dass ich heute hier stehe und diesen Preis erhalte, zeigt, dass sich seit meiner Rückkehr einiges geändert hat. Diese Änderung merke ich als Zeitzeuge in Schulen. Die Republik strengt sich an, damit die Werte der Demokratie den Schülern beigebracht werden. Die Kinder hören interessiert zu, wenn ich spreche, und oft merke ich auch Betroffenheit und Empathie.

Aloys Blumauer schrieb vor 240 Jahren in den „Beobachtungen über Österreichs Aufklärung“ – ich zitiere –: Das Verlernen von Dingen, die einmal fest in den Kopf gehämmert sind, fordert viel mehr Zeit als das Lernen. Aberglaube und Vorurteil, denen die österreichischen Aufklärer damals entgegentraten, sind, so wie Judenhass, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt, noch immer vorhanden. Mit Geduld und Verstand lassen sich diese zurückdrängen. Daran wollen wir weiter arbeiten, denn wie es bereits in den Sprüchen der Väter steht: Es ist nicht an dir, das Werk zu vollenden, aber du bist auch nicht befugt, nichts zu tun. – Danke für Ihre Aufmerksamkeit. (Anhaltender Beifall.)

Rebekka Salzer: Vielen Dank, Karl Pfeifer. Wir haben jetzt noch eine kleine Überraschung für Sie. – Frau von Schnurbein, ich darf Sie bitten.

Katharina von Schnurbein: Ich wollte noch kurz erklären, dass der Preis im Namen aller vier durch Herrn Karl Pfeifer angenommen wurde, dass wir ihn als Jury aber stellvertretend für alle Zeitzeugen geben wollten, weil jeder von ihnen eine Würdigung für diese Lebensleistung bekommen soll: dass man täglich wieder neu die Grauen, die man erlebt hat, ausbreitet, um anderen diese Geschichten näherzubringen und dadurch Hass und Antisemitismus vorzubeugen.

Wir haben jetzt noch ein Video über die anderen, inklusive Herrn Pfeifer vier, Nominierten. – Bitte schön.

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Es folgt eine Videoeinspielung:

Lily Ebert (Preisträgerin): Thank you very much for awarding me the Simon Wiesenthal Price. Thank you very much, I appreciate it.

Zwi Nigal (Preisträger): Da habe ich eine gewisse Genugtuung, dass meine Generation das gründlich geändert hat. Heute, wenn ein Jude irgendwohin flüchten muss, hat er ein Wohin, wo er mit offenen Armen aufgenommen wird. – Danke.

Liliana Segre (Preisträgerin): (Die Ausführungen erfolgen auf Italienisch.)

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(Beifall.)

Rebekka Salzer: Meine Damen und Herren, das war der Simon-Wiesenthal-Preis 2021, aber ich habe gute Nachrichten für Sie: Ab morgen schon kann man sich für den Preis 2022 bewerben. Alle Informationen dazu gibt es auf www.wiesenthalpreis.at.

Ich darf Ihnen jetzt noch einen schönen Abend wünschen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist noch ein kleiner Empfang für Sie im Kleinen Redoutensaal vorbereitet.

Wir schließen die Veranstaltung mit einer Interpretation von Ethel Merhaut und Béla Korény: Oy mame, bin ikh farlibt.

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(Es folgt ein Musikstück.)

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(Beifall.)