Rede des Nationalratspräsidenten Wolfgang Sobotka anlässlich der Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises

Mittwoch, 11.Mai 2022 

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Werte Gäste aus allen Ländern Europas! Es freut mich, dass Sie den Weg nach Österreich, ins österreichische Parlament gefunden haben.

Werter Herr Karl Pfeifer! Es ist uns eine große Ehre und eine Freude, dass Sie als Zeitzeuge, der schon so vieles auch gerade in der Aufklärungsarbeit über die Schoah und die Verbrechen des Nationalsozialismus im Sinne einer demokratischen Jugenderziehung geleistet hat, heute mit Ihrer Gattin hier sind. – Herzlichen Dank. Damit auch ein herzliches Dankeschön an alle Nominierten, die heute nicht hier sein können, die aber Vertreter gesandt haben.

Exzellenz, es freut mich, dass Sie sich Zeit genommen haben. Werte Damen und Herren des Nationalrates und des Bundesrates! Liebe Juryvorsitzende! Es war für uns ganz wesentlich, dass wir für die Jury eine ausgewiesene Expertin auf diesem Gebiet finden konnten. Katharina von Schnurbein, die Beauftragte der Europäische Kommission im Kampf gegen den Antisemitismus, hat sich bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen. – Vielen, vielen herzlichen Dank für Ihr Engagement!

Werte Mitglieder der Jury! Professores! Vor allem der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde und der Vertreter der Familie Wiesenthal heute, Präsident des European Jewish Congress, lieber Herr Dr. Muzicant! Professorin Stelzl-Marx! Es ist für uns eine Freude, dass Sie sich alle dazu bereit erklärt haben, diese Aufgabe der Jury zu übernehmen, die immer heikel ist.

Sehr geehrter Herr Professor Botz! Vielen herzlichen Dank auch für Ihre Bereitschaft, sofort zuzusagen. Ich weiß es aus Ihren Seminaren und Ihren Vorlesungen, dass Sie sich in den Siebzigerjahren, bereits in den Anfängen Ihrer Laufbahn mit dieser Thematik auseinandergesetzt haben. – Vielen herzlichen Dank fürʼs Hiersein.

Ich darf auch den Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes Dr. Baumgartner recht herzlich begrüßen. Es ist eine Institution, die uns auf dem Weg vieles aufgezeigt hat und eine ähnliche Geschichte wie Simon Wiesenthal hat: Ignoranz, ein dementsprechendes Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen – aber mit der Hartnäckigkeit und Konsequenz Ihres Hauses haben Sie es letzten Endes geschafft, sich eine hohe wissenschaftliche Reputation zu eigen zu machen.

Jüdinnen und Juden haben durch Jahrhunderte hindurch das österreichische Leben bereichert und gestaltet, im Bereich der Wirtschaft, der Kultur und der Wissenschaft, und sie tun es heute noch. Es ist heute eine im europäischen Vergleich gemessen kleine Gemeinde, eine aktive Gemeinde, und es muss unsere Aufgabe sein, dieses jüdische Leben, das in ganz besonderer Art und Weise ein österreichisches ist, auch immer wieder in die Mitte der Gesellschaft hereinzuholen.

So viel, wie sie aber beigetragen haben, sind sie ausgegrenzt worden, sind der Verfolgung, dem Spott und dem Hohn und schlussendlich der gewaltsamen, letzten Endes todbringenden Maschinerie des Naziregimes ausgesetzt gewesen. Und nach 1945 hat man sie nicht zurückgerufen, nach 1945 hat man sehr wenig getan. Ihre Verluste, die menschlichen, die tragischen Verluste ausgenommen – da kann man gar nichts tun, als Scham zu haben. Aber auch die materiellen Verluste wurden nicht beglichen.

77 Jahre nach dem Ende der Schoah sehen wir heute wieder offenen Antisemitismus in Europa. Bei all meinen Besuchen in den europäischen Ländern ist das auch immer ein wesentlicher Teil meiner Besuche, denn es ist kein österreichisches Phänomen, kein europäisches, dieser Antisemitismus tritt als ein weltweites Phänomen auch mehr oder minder immer frecher wieder unglückselig auf die Bühne.

Mich hat das Forschungsergebnis von Monika Schwarz-Friesel beeindruckt. Ich glaube, man kann es gar nicht oft genug ins Bewusstsein rufen, denn wenn wir die richtige Strategie angewandt hätten, müssten wir schon längst mehr Erfolg im Kampf gegen den Antisemitismus haben. Wir haben uns auf diesen Antisemitismus konzentriert, der von rechts kommt, der aus diesem faschistischen Urgrund kommt. Aber nein, der Antisemitismus, wie Monika Schwarz-Friesel sehr, sehr klar nachgewiesen hat, kommt aus der Mitte der Gesellschaft, und das nicht erst jetzt, sondern Jahrhunderte hindurch, nur an den Rändern macht er sich deutlich bemerkbar. Er ist seit Jahrhunderten da, und es ist nicht nur ein austauschbares Vorurteil, ein austauschbares rassistisches Gedankengut, nein, es ist eine singuläre kulturhistorische Denkform, die tief in der Mitte und in der gesamten Gesellschaft, verwurzelt ist, wie es Monika Schwarz-Friesel formuliert.

Das sollte uns bewusst sein. Wir spüren die Auswirkungen – aber woher kommt er? Das heißt, auch sich selbst zu fragen und zu überlegen: Wo ist es in meinem unmittelbaren Umfeld schon passiert?

Deborah Lipstadt hat in ihren Forschungen herausgearbeitet, dass Antisemitismus zutiefst antidemokratisch ist. Deshalb ist es eine der vornehmsten Aufgaben und muss es eine der vornehmlichsten Aufgaben des Parlaments sein, wenn wir schon für die Demokratie einstehen, dass wir alle antidemokratischen Tendenzen massiv bekämpfen und ihnen entgegentreten. Deren gibt es einige, aber das ist eine, die durch Jahrhunderte letzten Endes immer wieder in den gleichen Stereotypen auftaucht, bei rechts, bei links und schlussendlich auch in Form des migrantischen Sprachgebrauchs. Das heißt für uns, dass es auf allen Ebenen massive Themen gibt, die es zu bekämpfen gilt und denen man entgegentreten muss.

Präsident Deutsch hat schon angesprochen, dass die Regierung ein Ministerium damit beauftragt hat, eine Antisemitismusstrategie zu entwickeln. Das österreichische Parlament hat in seiner Demokratiewerkstatt eigens Tools eingerichtet, eigene Workshopeinheiten, die sich mit diesem Thema beschäftigen und mit denen auch Schulen aufgesucht und damit konfrontiert werden.

Wir haben ein wirklich strenges Verbotsgesetz, wir haben das Symbole-Gesetz verändert und verschärft und wir haben Studien gemacht – gerade diese letzten zwei Studien –, wie denn so quasi das Sentiment in Österreich bezüglich der antisemitischen Einstellung ist. Ja, es ist vielleicht da und dort zurückgegangen, insbesondere was den sekundären Antisemitismus betrifft, aber was ganz klar vorhanden ist: Das Internet ist eine neue Plattform, wo er am schwierigsten zu bekämpfen ist. Was sich klar zeigt, ist, dass dort Hass und ein bedingungsloses, auch zentral agierendes und scharf artikuliertes antisemitisches Ressentiment Platz gegriffen hat, sodass man es nicht für möglich halten würde, welche Plattformen sich unter der Anonymität der Meinungsfreiheit dort verstecken. Karl Popper hat einmal gesagt: Toleranz ja, aber nicht gegenüber den Intoleranten. – Dort hat die Toleranz ihre Grenzen. Es muss allen Demokraten ein Anliegen sein, wo auch immer die Möglichkeit zu suchen, dagegen aufzutreten.

Wenn wir schon die Maßnahmen gesetzt haben und nicht in diesem Maß erfolgreich sind, müssen wir uns fragen: Was ist noch zu tun? Oskar Deutsch hat es schon angesprochen: Solange wir nicht die Zivilcourage haben, auf jedem Fußballplatz dagegen aufzutreten – darum freut es mich, dass unter den Nominierten auch ein Fußballklub ist, der erkannt hat, dass es für ihn Thema ist –, wenn wir nicht in jeder Gaststube, wenn wir nicht bei jedem Gespräch im privaten oder halböffentlichen Raum, wo wir Antisemitisches hören, auch klar dagegen auftreten, werden wir diese durch Jahrhunderte hindurch – und das ist natürlich auch der katholischen Kirche geschuldet – kulturelle, negative Haltung nicht wirksam bekämpfen können.

Daher haben wir gesucht: Wie wir können wir die Zivilgesellschaft ermuntern? Daraus ist dieser Preis entstanden. Ich freue mich, dass wir so viele Einsendungen verzeichnen konnten. Daran sieht man eigentlich die Breite, die früher gar nicht bemerkbar gewesen ist. Heute bitten wir Sie vor den Vorhang, und wir werden das auch noch auf publizistischem Wege machen. Wir werden auch andere ermuntern, unserem Beispiel zu folgen.

Ich kann Ihnen versichern, wir werden nach der heutigen Preisverleihung wiederum den nächsten Simon-Wiesenthal-Preis ausschreiben, denn erst wenn es wirklich in der Breite der Gesellschaft, in der Mitte ankommt, können wir mit einer einigermaßen positiven Perspektive in die Zukunft blicken.

Welcher Name wäre besser für diesen Preis gewesen, als ihn Simon-Wiesenthal-Preis zu nennen? – Er war ein Mann, der nicht auf Auftrag, sondern aus eigenem, innerem Antrieb sich das zur Lebensaufgabe gemacht hat, der nicht daran gedacht hat, nur seinen Beruf als Architekt auszuführen, sondern zutiefst als innere Aufgabe gefühlt hat: Nicht Rache, sondern Recht muss unsere Richtschnur sein! – Er hat sich nicht nur zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrecher vor Gericht zu bringen. Wir sollten sehen, dass es noch nach 2000 genügend Fälle gab. Es gibt noch vieles aufzuarbeiten, wie die österreichische Gerichtsbarkeit mit diesen Themen umgegangen ist.

Wir sollten sehen, dass wir auch seinem Beispiel folgen, aufzuklären, hinauszugehen, nicht müde zu werden, junge Menschen zu informieren. Und wenn unsere Studie, die des österreichischen Parlaments etwas gebracht hat, was mich positiv stimmt, dann ist es das Faktum, dass junge Menschen, die gebildeter sind, gebildet im Sinne, zu wissen, was Antisemitismus bedeutet und woher er kommt, weniger antisemitische Einstellungen mit sich bringen. Also sollten wir dieses Faktum aufnehmen und in die Breite gehen. Ich bitte Sie heute alle – nicht nur die Ausgezeichneten, sondern auch die Zuseher und die sich hier im Auditorium Befindlichen –, hinauszugehen und auch für sich zu überlegen: Welchen Anteil kann ich einbringen?

Zu Simon Wiesenthal ist schon vieles gesagt worden, lassen Sie mich nur eines auch noch erwähnen: Simon Wiesenthal war eine Person, die nicht gescheut hat, in die Konfrontation zu gehen, die auch nicht gescheut hat, Widrigkeiten zu überwinden, und Simon Wiesenthal war eine Person, die uns gezeigt hat, wo Österreich in seiner Geschichte anzusetzen hat. Und so ist dieser Preis auch zu verstehen: als Ehre seiner Arbeit, als Ehre seiner Person. Er hat uns eben auch etwas von unserem Geschichtsbewusstsein zurückgegeben. Zu lange haben wir vom Opfermythos gelebt, zu lange haben wir die Dinge unter den Teppich gekehrt. – Es ist nie zu spät!

Dass heute dieser Preis verliehen werden kann, erfüllt mich und sicher alle, die dazu einen Beitrag geleistet haben, mit Freude. Es sind so viele, ich darf Sie eigentlich alle hier miteinschließen. Durch Ihre Anwesenheit haben Sie schon ein Bekenntnis abgelegt. Es hat auch Präsident Deutsch angesprochen: Es ist nicht die Aufgabe der jüdischen Gemeinde, es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Mehrheitsgesellschaft, da eine klare Position zu beziehen. Erst dann, wenn es uns gelingt, hier ein jüdisches Leben wieder sichtbar zu machen, dass neben der Fronleichnamsprozession genauso Purim in der Öffentlichkeit gefeiert wird, wenn es genauso möglich ist, das Laubhüttenfest zu feiern, haben wir erreicht, dass wir sagen können: Die österreichische Gesellschaft ist in diesem Sinne besser geworden. Und auf dieses Besserwerden haben wir hinzuarbeiten.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Einsendungen. Sie haben uns große Freude gemacht. Vielen herzlichen Dank an die Jury. – Danke schön.