491/A(E) XXVIII. GP
Eingebracht am 24.09.2025
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Parlamentarische Materialien
ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
der Abgeordneten Elisabeth Götze, Freundinnen und Freunde
betreffend echte "zweite Chance" für Selbständige
BEGRÜNDUNG
Ziel des Insolvenzrechts ist es, im Fall eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs eines Schuldners einen Schlussstrich zu ziehen. Das Insolvenzrecht schützt die Interessen der Gläubiger, ermöglicht die Sanierung von Unternehmen und bietet verschuldeten Personen einen Weg zur Entschuldung – das alles in einem geordneten, gesetzlich geregelten Verfahren. Das Insolvenzrecht mündet in der Chance für einen wirtschaftlichen Neuanfang – allerdings gibt es hier eine wesentliche Einschränkung: Sozialversicherungsträger können bis ins hohe Pensionsalter von ehemalig insolventen Selbständigen hinein Aufrechnungen durchführen, und das auch in unpfändbare Einkommensteile.
Das Steuerreformgesetz 2000 brachte viele neue Regelungen, darunter auch die „trägerübergreifende“ Aufrechnung nach § 103 ASVG.
Bis zum Inkrafttreten der Novelle am 01.10.1999 konnte ein Versicherungsträger nur mit solchen Beiträgen aufrechnen[1], die dem leistungspflichtigen Versicherungsträger konkret geschuldet wurden. So konnte also z.B. die Pensionsversicherung mit den nicht verjährten Beitragsteilen zur Pensionsversicherung gegen die von ihr zu erbringende Pension aufrechnen. Durch die Änderung in § 103 ASVG[2] wurde die trägerübergreifende Ausweitung der Beitragsaufrechnung etabliert. Damit können z.B. Pensionsversicherungsträger mit (offenen) Beiträgen zur Kranken- und Unfallversicherung, und zwar auch die einzelnen Sozialversicherungsträger übergreifend, gegen die Pension aufrechnen.[3]
In der Praxis wird die trägerübergreifende Aufrechnung durch Übermittlung eines Aufrechnungsersuchens eines Trägers, bei dem offene Forderungen bestehen, an einen bezugauszahlenden Träger eingeleitet. So erfolgt z.B. im Rahmen der Pensionsversicherung die Prüfung, ob eine Aufrechnung zwischen dem Pensionsanspruch und einer offenen Forderung der Krankenversicherung möglich ist. Ziel der Reform war eine höhere Einbringungsquote und ein höherer Deckungsgrad.
Die Höhe des monatlichen Aufrechnungsbetrags ist in zweifacher Hinsicht begrenzt. Zum einen darf sie nur bis zur Hälfte der zu erbringenden Geldleistung (=Nettoauszahlungsbetrag) erfolgen. Zum anderen muss dem:der Anspruchsberechtigten ein Gesamteinkommen (= Nettoauszahlungsbetrag zuzüglich eines weiteren Nettoeinkommens nach § 292 und allfälliger Unterhaltsansprüche nach § 294) in Höhe von 90% des jeweils in Betracht kommenden Ausgleichszulagenrichtsatzes verbleiben. § 103 Abs 2 ASVG ist eine gegenüber dem Exekutionsrecht vorrangige Norm, weshalb eine Aufrechnung somit innerhalb der Grenzen des Abs 2 auch gegen den pfändungsfreien Teil einer Forderung zulässig ist.[4] Das Aufrechnungsrecht gemäß § 103 besteht auch im Insolvenzverfahren von Personen, die Geldleistungen aus der Sozialversicherung (z.B. Pensionen) beziehen, fort.
Es ist hinsichtlich der Aufrechnungsbefugnis des Versicherungsträgers dahingehend zu differenzieren, ob sich die Aufrechnung auf die pfändbaren, d.h. zur Insolvenzmasse gehörenden, oder auf die unpfändbaren (= insolvenzfreien) Einkommensteile bezieht.[5]
Soweit die Aufrechnung den pfändbaren Teil der vom Versicherungsträger zu erbringenden Geldleistung betrifft, kann trotz Insolvenzverfahren aufgerechnet werden, wenn sich die Forderungen im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung aufrechenbar gegenüberstanden (§ 19 IO). Nach rechtskräftiger Bestätigung eines Sanierungs- bzw. Zahlungsplanes und Aufhebung des Insolvenzverfahrens kann der Versicherungsträger (der während des laufenden Verfahrens nicht aufrechnen kann) nur mehr mit der Quote seiner Forderung aufrechnen. Dabei ist zu beachten, dass diese Aufrechnung nach geltendem Recht nur zwei Jahre lang erfolgen kann (§ 12a Abs 2 IO).
Soweit die Aufrechnung nach § 103 ASVG den unpfändbaren Teil der Geldleistung des Versicherungsträgers betrifft, führt das dazu, dass die nach Beendigung des Abschöpfungsverfahrens erteilte Restschuldbefreiung (§ 213 IO) nicht zum Erlöschen der für die Aufrechnung herangezogenen Forderung an rückständigen Sozialversicherungsbeiträgen führt. Die Aufrechnungsbeschränkung des § 12a Abs 2 IO ist daher nicht anwendbar.[6] Der unpfändbare Bezugsteil bildet keinen Bestandteil der Insolvenzmasse, weshalb die Beschränkungen des § 12a IO nicht gelten. Eine Aufrechnung in den unpfändbaren Bezugsteil ist daher nicht auf die Frist von zwei Jahren nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschränkt, sondern kann auch über diesen Zeitraum hinaus vorgenommen werden.[7]
Im Jahr 2023 gab es bei der Schuldnerberatung einen Aktenbestand von rund 6.607 Personen, die sich im Zuge ihres Insolvenzverfahrens an die Schuldnerberatung wendeten. Bei diesen ist in rund 31% eine „Versicherungsanstalt“ auf der Gläubigerliste. Somit ist potenziell jede dritte Person von einer drohenden Aufrechnung betroffen. Die durchschnittliche Forderung betrug rund € 12.000. In manchen Fällen konnte statt der Aufrechnung eine Einigung mit einer monatlichen Ratenzahlung erwirkt werden. Da die Personen, die die Schuldnerberatung in Anspruch nehmen, ein Durchschnittseinkommen von rund € 1.300 haben, liegt der Ratenbetrag pro Monat zwischen € 30 und € 80, die jahrzehntelang geleistet werden müssen. Diese Aufrechnungen noch viele Jahre nach Abschluss des Insolvenzverfahrens und darüber hinaus unter das Existenzminimum widersprechen dem Grundgedanken der Entschuldung.
Schulden und Rückstände bei Sozialversicherungsträgern sollen nicht dazu führen, dass Menschen lebenslang in der Schuldenfalle sitzen. Der Insolvenzordnung liegt das Konzept des „Neuanfangs“, der „zweiten Chance“, zugrunde, die mit der beschriebenen Rechtslage nicht vereinbar ist. Eine trägerübergreifende Aufrechnung der Sozialversicherungsträger soll auch im Falle von Schulden gegenüber Sozialversicherungsträgern lediglich die Teile des Vermögens betreffen können, die der Exekution unterworfen sind. Dadurch wird auch ein Gleichklang mit der Insolvenzmasse (§ 2 Abs 2 IO) hergestellt.
Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgenden
ENTSCHLIESSUNGSANTRAG
Der Nationalrat wolle beschließen:
„Die Bundesregierung, insbesondere die Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, wird aufgefordert, dem Nationalrat eine Regierungsvorlage zuzuleiten, mit der die einschlägigen Bestimmungen im Sozialversicherungsrecht (§ 103 ASVG und korrespondierend) geändert werden, wobei das Budget der Sozialversicherungsträger durch entsprechende Ausgestaltung der Finanzierung der Maßnahme nicht belastet werden soll: Im Insolvenzfall soll eine trägerübergreifende Aufrechnung künftig im Einklang mit den Regelungen der Insolvenzordnung stehen. Das umfasst die zeitliche Aufrechnungsbeschränkung auf 2 Jahre, sowie die Beschränkung der Aufrechnung nur auf den pfändbaren Teil des Vermögens; eine Aufrechnung unter das Existenzminimum soll künftig nicht mehr erfolgen können.“
In formeller Hinsicht wird die Zuweisung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales vorgeschlagen.
[1] Aufrechnung ist die Aufhebung gegenseitiger Forderungen durch Verrechnung ohne effektiven Leistungsaustausch. Soweit die Forderungen einander decken, tritt wechselseitige Schuldtilgung ein.
[2] Und damit korrespondierend u.a. § 71 ABs 1 Z 1 GSVG, § 67 Abs 1 Z 1 BSVG, § 3 FSVG iVm § 71 Abs 1 Z 1 GSVG, § 44 ABs 1 Z 1 B-KUVG und § 34 Abs 1 Z 1 NVG.
[3] Vgl. Derntl, Die Aufrechnung mit Beiträgen gemäß § 103 ASVG (Teil I), SozSi 2003, 188; https://www.sozialversicherung.at/cdscontent/?contentid=10007.844549
[4] Vgl. OGH 10 ObS 54/11f, SSV-NF 25/99; RIS-Justiz RS0110623.
[5] Vgl. I. Faber/Fellinger in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm, § 103 ASVG (Stand 15.01.2023, rdb.at).
[6] OGH 10 ObS 128/17x, SSV-NF 31/59; RIS-Justiz RS0107924.
[7] OGH 10 ObS 63/12f, SSV-NF 26/52; 10 ObS 54/11f, DRdA 2013/6, 46(Nunner-Krautgasser/Anzenberger) = SSV-NF 25/99; Konecny/Weber, ZIK 1999, 191 [194]).