604/A(E) XXVIII. GP

Eingebracht am 20.11.2025
Dieser Text wurde elektronisch übermittelt. Abweichungen vom Original sind möglich.

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG

der Abgeordneten Agnes-Sirkka Prammer, Süleyman Zorba,

Freundinnen und Freunde

 

betreffend Stopp der Massenüberwachung - Überwachungsgesamtrechnung jetzt!

 

 

BEGRÜNDUNG

 

Am 12. August 2025 kündigte Innenminister Karner den verstärkten Einsatz von Videoüberwachung im öffentlichen Raum an. In Zusammenarbeit mit Städten und Gemeinden soll die polizeiliche Kameraüberwachung ausgeweitet und die Einrichtung neuer Kameras deutlich erleichtert werden.

 

Diese Ankündigung fällt in eine Zeit, in der mit dem sogenannten Bundestrojaner gerade erst ein neues Überwachungsinstrument eingeführt wurde. Mit diesem Überwachungsinstrument wird es der Direktion für Staatsschutz und Nachrichtendienst in Zukunft möglich sein, verschlüsselte Nachrichten für nachrichtendienstliche Zwecke auszulesen. Dafür wird Spyware auf den Geräten von überwachten Personen installiert. Die große Missbrauchsgefahr, sowie die Hintergründe der Firmen, die solche Software herstellen, sind dabei nur zwei der vielen kritischen Aspekte dieses Überwachungstools.

 

Gleichzeitig nimmt der Einsatz künstlicher Intelligenz (KI) rasant zu. Moderne Auswertungssoftware kann große Datenmengen schneller und effizienter verarbeiten – birgt jedoch auch das Risiko unbekannter algorithmischer Verzerrungen („Bias“). Dabei kann es auf Grund von menschlichem Einfluss bei der Datensammlung, dem Trainingsprozess und der Designentscheidung zur übermäßigen Betonung problematischer Muster kommen. Die Auswirkungen einer deshalb möglichen Diskriminierung können weitreichend sein. Hinzu kommt, dass diese extrem schnelle und umfangreiche Verknüpfung von Daten die Auswertung von Überwachungsdaten eingriffsinvasiver machen kann.  

 

Dass sicherheitsrechtliche Überwachungsmaßnahmen einen Eingriff in grund-rechtlich geschützte Freiheiten darstellen, ist in der Rechtsprechung von EuGH und EGMR[1] anerkannt. Für die betroffene Person ist oft allerdings schwer erkennbar, wie hoch die Überwachungslast in ihrem Umfeld tatsächlich ist. Selbst wenn keine unmittelbaren Konsequenzen spürbar sind, ist der sogenannte „chilling effect“ gut dokumentiert: Die anlasslose und dauerhafte Beobachtung führt zu einer spürbaren Einschüchterung, die sich auch auf völlig legitime Verhaltensweisen – wie Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum – auswirken kann.[2]

 

Der Ausbau bestehender und bislang verbotener Überwachungsmaßnahmen ist daher kritisch zu bewerten. Problematisch ist dabei insbesondere, dass keine systematische Bewertung der Gesamtbelastung der Privatsphäre und der Gesellschaft stattfindet. Während einzelne Maßnahmen für sich betrachtet verhältnismäßig erscheinen mögen, wird die kumulative Wirkung mehrerer parallel eingesetzter Instrumente und ihre Auswirkung auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht umfassend geprüft. Hinzu kommt, dass der Einsatz von KI die Eingriffsintensität potenziell weiter erhöht.

 

Eine Neubewertung aller sicherheitspolitischen Überwachungsmaßnahmen wäre im Lichte dieser technischen Entwicklungen eigentlich unerlässlich, um zu prüfen, ob das Maß der Überwachung über die Schwelle des Ertragbaren getreten ist. Durch eine Überwachungsgesamtrechnung könnte festgestellt werden, wie stark der Überwachungsdruck auf einzelne Personen und die Gesellschaft als Ganzes ist.

 

Dabei geht es darum zu erkennen, wie vielen Überwachungsmaßnahmen eine durchschnittliche Person ausgesetzt ist, wie viele Daten über sie bekannt sind und wie schnell und von wie vielen Behörden und Softwares diese verknüpft werden können. Denn während eine einzelne Maßnahme darauf geprüft wird, ob die Rückschlüsse auf Persönlichkeit, Privatleben, Vorlieben und Meinungen verhältnis-mäßig sind, wird nicht überprüft, wie invasiv diese Maßnahme in Kombination mit anderen Auswertungstools oder Datenreserven ist. Dabei ist es eigentlich nur ein Blick auf die Gesamtheit der Maßnahmen, der eine ordentliche Einschätzung der Verhältnismäßigkeit erlaubt.

 

Die Bundesregierung muss angesichts der hohen Überwachungslast auf die Gesellschaft und einzelne Personen eine Überprüfung aller Überwachungsmaß-nahmen in ihrer Gesamtheit auf ihre Verhältnismäßigkeit prüfen.

 

Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgenden

 

 

ENTSCHLIESSUNGSANTRAG

 

 

Der Nationalrat wolle beschließen:

 

„Die Bundesregierung und insbesondere der Bundesminister für Inneres, die Bundesministerin für Justiz und die Bundesministerin für Landesverteidigung werden aufgefordert, alle gesetzlichen Regelungen zur Datenverarbeitung zu Zwecken der Ermittlung oder Überwachung in ihrer Gesamtheit auf ihre Verhältnismäßigkeit und den Umfang der generellen Überwachung in Österreich zu prüfen.

 

Dabei sollten folgende Kriterien erhoben werden:

·         Umfang der Befugnis (einschließlich Zahl der Betroffenen und Ort der Maßnahme),

·         Betroffenheit der Bürger:innen,

·         Art der Maßnahme (insbesondere: erfolgt die Überwachung verdeckt?),

·         Schranken der Maßnahme (Dauer),

·         Ziel und Zweck der Befugnis,

·         Verknüpfung diverser Maßnahmen/Datenbanken,

·         Einsatz technischer Mittel (einschließlich Hersteller und Geräteklassen),

·         Technische und organisatorische Maßnahmen iSd DSGVO (einschließlich Zugriffsrechte und Schulungen, Sicherheitsstufen, Protokollierung, Löschkonzepte)

·         Verantwortlichkeit (Sektionen/Abteilungen, auslösende Stelle, Aufgaben des Bundesrechenzentrums)

·         Kontrolle durch Rechtsschutzeinrichtungen,

·         Sanktionierung des Missbrauchs (konkret anhand Statistik) und

·         Eingriffsintensität in Grundrechtspositionen.

 

Nach Erhebung des Ist-Stands, muss eine Evaluierung der derzeit rechtlichen Möglichkeiten unter Berücksichtigung folgender Aspekte erfolgen:

 

·         der Wirksamkeit der Maßnahme;

·         der Eignung zur Zweckerreichung;

·         der Überlegung, ob die Maßnahme (weiterhin) ein dringendes soziales Bedürfnis erfüllt;

·         der technischen Möglichkeiten heute im Vergleich zum Zeitpunkt des Erlassens der jeweiligen Bestimmungen, insbesondere im Hinblick darauf, ob die technischen Möglichkeiten der angewandten Technologie noch den gesetzlichen Einschränkungen entsprechen;

·         Auswirkungen auf die Bevölkerung;

·         der Eingriffsintensität in Grundrechte (insbesondere Recht auf Privat- und Familienleben, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Nichtdiskriminierung), insbesondere durch die Zusammenschau sämtlicher Maßnahmen;

·         Identifizierung unverhältnismäßiger Grundrechtseingriffe.“

 

 

In formeller Hinsicht wird die Zuweisung an den Ausschuss für innere Angelegenheiten vorgeschlagen.



[1] EuGH, Urteil v. 8.4.2014, C-293/12, C-594/12 (Digital Rights Ireland) = NJW 2014, 2169. EGMR, Urt. v. 25.05.2021, Nr. 58170/13, 62322/14, 24960/15 (Big Brother Watch / Vereinigtes Königreich); dazu B. Huber, NVwZ-Beilage 2021.

[2] https://www.amnesty.de/informieren/blog/deutschland-wie-ueberwachung-die-meinungsfreiheit-gefaehrdet