77 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXVIII. GP
Bericht
des Ausschusses für innere Angelegenheiten
über den Antrag 167/A der Abgeordneten Mag. Ernst Gödl, Maximilian Köllner, MA, Mag. Sophie Marie Wotschke, Kolleginnen und Kollegen betreffend ein Bundesgesetz, mit dem das Asylgesetz 2005 geändert wird
Die Abgeordneten Mag. Ernst Gödl, Maximilian Köllner, MA, Mag. Sophie Marie Wotschke, Kolleginnen und Kollegen haben den gegenständlichen Initiativantrag am 26. März 2025 im Nationalrat eingebracht und wie folgt begründet:
„Mit der Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 wurde in das 4. Hauptstück des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ein 5. Abschnitt mit Sonderbestimmungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit eingefügt (§§ 36 bis 41 AsylG 2005). Unter der Voraussetzung, dass die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates durch Verordnung feststellt, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind, ermöglichen diese Sonderbestimmungen, während der Gültigkeitsdauer von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen von einzelnen Bestimmungen des sekundären Asylrechts der Europäischen Union abzuweichen. Diese Bestimmungen sind auf Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), ABl. Nr. C 202 vom 7.6.2016 S. 47 ff., gestützt, dem zufolge die Bestimmungen des Titels V (Art. 67 ff. AEUV, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berühren. Der darin zum Ausdruck kommende Kompetenzvorbehalt soll es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der nationalen Sicherheit in vorausschauender und zugleich verhältnismäßiger, die Abweichung vom sekundären Unionsrecht minimierender Weise zu erfüllen. Dabei verlangt Art. 72 AEUV zwar, dass der betreffende Mitgliedstaat die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bzw. den Schutz der nationalen Sicherheit – auch unter Aufbietung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Fähigkeiten – nicht mehr anders als durch Abweichung vom Sekundärrecht gewährleisten kann. Er setzt aber keineswegs voraus, dass der Mitgliedstaat bereits mit einem Notstand, einer notstandsähnlichen Situation oder einem Zusammenbruch aller oder einiger seiner Teilsysteme konfrontiert ist. Der Vorbehalt gilt gegenüber allen unter Titel V fallenden Bestimmungen und damit auch gegenüber den auf Art. 77 bis 79 AEUV gestützten Sekundärrechtsakten zum Asyl-, Fremden-, Grenzkontroll- und Aufenthaltsrecht.
Der Ausarbeitung der Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 war ein Gutachten von em. Univ.-Prof. Dr. Bernd-Christian Funk (Universität Wien) zu den verfassungsrechtlichen und von Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer (Universität Innsbruck) zu den unionsrechtlichen Vorgaben vorausgegangen. Zu Einzelheiten wird auf den Bericht des Ausschusses für innere Angelegenheiten zu der erwähnten Novelle verwiesen (AB 1097 BlgNR XXV. GP 1 ff.).
Gemäß Art. 72 AEUV und der dazugehörigen Rechtsprechung des EuGH kann in Fällen, in denen gesellschaftliche Systeme überfordert sind, eine Fristhemmung eingeführt werden. Dies gilt insbesondere während der Bewältigung einer Notlage und zur Wiederherstellung eines geregelten Zustands.
Dahingehend ist es erforderlich, rechtliche Vorkehrungen zu treffen, um auf mögliche Beeinträchtigungen des Funktionierens der innerstaatlichen Einrichtungen und öffentlichen Dienste entsprechend reagieren zu können.
Der 5. Abschnitt des 4. Hauptstücks des AsylG 2005 soll daher um eine Sonderbestimmung ergänzt werden, die – für die Dauer der Gültigkeit einer von der Bundesregierung gemäß § 36 leg. cit. im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates zu erlassenden Verordnung – insbesondere eine Hemmung der Frist zur Entscheidung über Anträge auf Einreise gemäß § 35 AsylG 2005 ermöglicht. Die Kompetenz des Bundes zur Erlassung eines diesem Antrag entsprechenden Bundesgesetzes gründet sich auf Art. 10 Abs. 1 Z 3 B‑VG (‚Asyl‘).
Zum Inhaltsverzeichnis und zur Überschrift des 5. Abschnitts des 4. Hauptstücks
Aufgrund des vorgeschlagenen § 36a und der Änderung der Überschrift zum 5. Abschnitt des 4. Hauptstücks ist das Inhaltsverzeichnis entsprechend anzupassen. Die Abschnittsüberschrift ist anzupassen, weil die vorgeschlagene Sonderbestimmung zum Einreiseverfahren (§ 35 AsylG 2005 bzw. § 26 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 [FPG], BGBl. I Nr. 100/2005) auch dann anwendbar sein soll, wenn Binnengrenzkontrollen entweder überhaupt nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden.
Zu § 36
Abs. 1a:
§ 36 Abs. 1 sieht für die Anwendbarkeit des 5. Abschnitts des 4. Hauptstücks zwei kumulative Voraussetzungen vor: Erstens muss die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates feststellen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind. Zweitens müssen Grenzkontrollen an (sämtlichen Abschnitten) der Binnengrenze aufgrund einer oder mehrerer Verordnungen des Bundesministers für Inneres gemäß § 10 Abs. 2 des Grenzkontrollgesetzes (GrekoG), BGBl. Nr. 435/1996, stattfinden, unter anderem deswegen, da das bisherige Regelungsregime im Falle einer Verordnung der Bundesregierung vorsieht, dass diesfalls Anträge auf internationalen Schutz im Rahmen der Grenzkontrolle zu stellen sind.
Im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Sonderbestimmung zum Einreiseverfahren nach § 35 (§ 26 FPG) gibt es naturgemäß keinen solchen Zusammenhang zu Grenzkontrollen. Daher normiert der vorgeschlagene Abs. 1a eine Ausnahme von diesem Grundsatz und sieht vor, dass die Verordnung von der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 auch erlassen werden kann, wenn Binnengrenzkontrollen entweder überhaupt nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden, in einem solchen Fall aber konsequenterweise nur der vorgeschlagene § 36a mit seinen Sonderregelungen für das Einreiseverfahren für Familienangehörige anwendbar sein soll. Gemäß dem vorgeschlagenen ersten Satz ist in der Verordnung jedenfalls auch festzulegen, welche Bestimmungen des vorliegenden Abschnittes während ihrer Gültigkeitsdauer anzuwenden sein sollen; kommt von vornherein nur die Anwendung des § 36a in Betracht, weil Grenzkontrollen entweder nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden, so ist in der Verordnung auch dies festzuhalten. Das Vorliegen einer Verordnung der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 lässt keine Rückschlüsse auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verordnung des Bundesministers für Inneres nach § 10 Abs. 2 oder 3 Grenzkontrollgesetz zu.
Im Übrigen wird auf die Erläuterungen zu § 36a verwiesen.
Zu § 36a
Abs. 1:
Der vorgeschlagene Abs. 1 sieht vor, dass der Lauf der Frist zur Entscheidung über Einreiseanträge, die ein Fremder gemäß § 35 stellt, deren Dauer sich mangels Sonderbestimmung im AsylG 2005 aus § 73 Abs. 1 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991, ergibt, und die korrespondierende Entscheidungspflicht der Vertretungsbehörde bis zum Ablauf der Gültigkeitsdauer einer von der Bundesregierung gemäß § 36 Abs. 1 erlassenen Verordnung gehemmt sind; dies soll unter dem Vorbehalt stehen, dass sich aus dem vorgeschlagenen Abs. 2 nicht ein Anspruch auf frühere Erledigung ergibt.
Aufgrund des vorgeschlagenen Wortlauts (‚Lauf der Frist […] gehemmt‘) ist klargestellt, dass, wie z.B. auch in § 22 Abs. 8 AsylG 2005, der Fortlauf der Frist als solcher gehemmt bzw. die Gültigkeitsdauer der Verordnung nach § 36 Abs. 1 in die Frist nicht eingerechnet wird (‚Fortlaufhemmung‘). Nach Wegfall der Hemmung – d.h. nach Auslaufen der Gültigkeitsdauer der Verordnung der Bundesregierung – wird der Fristenlauf wiederaufgenommen und weiter fortgesetzt. Insgesamt erweist sich eine auf die Gültigkeitsdauer der Verordnung nach § 36 Abs. 1 abgestimmte Hemmung des Fristenlaufs, von der Ausnahmen im Rahmen des nach Art. 8 EMRK unbedingt Erforderlichen möglich sind, im Vergleich zu anderen Maßnahmen – etwa einer Aussetzungsregelung, die mit einer Zurückweisung dennoch gestellter Anträge einherginge – als jenes Mittel, das in die Rechtsposition der Antragsteller am wenigsten eingreift. Die Verhältnismäßigkeit der vorgeschlagenen Regelung kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie – aufgrund der durch sie faktisch bewirkten Verlängerung der Entscheidungsfrist über neun Monate hinaus – lediglich von einer sekundärrechtlichen Bestimmung, nämlich von Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. Nr. L 251 vom 3.10.2003 S. 12 ff., abweicht. Im Übrigen ist die Verlängerung oder Erstreckung von Fristen ein im Europäischen Asyl- und Fremdenrecht bereits jetzt weithin anerkanntes Mittel, um systemische Herausforderungen, etwa aufgrund einer außergewöhnlich hohen Zahl von Antragstellern, zu bewältigen (z.B. Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [Neufassung], ABl. Nr. L 180 vom 29.6.2013 S. 60 ff., zur Verlängerung der Frist für die Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz).
Die Weiterleitung eines bei der Vertretungsbehörde eingelangten Antrags an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) zur Einholung der nach § 35 Abs. 4 erforderlichen Prognoseentscheidung wird von Abs. 1 nicht berührt.
Abs. 2:
Wie schon in den Erläuterungen zur Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 näher ausgeführt, sind auch bei Inanspruchnahme einer aus Art. 72 AEUV abgeleiteten Kompetenzermächtigung für die Mitgliedstaaten, womit die Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht einhergeht, weiterhin alle primär-, völker- bzw. verfassungsrechtlichen Garantien, wie insbesondere die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und insofern auch die EMRK und die GFK, einzuhalten.
Mit Blick auf das durch Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sieht der vorgeschlagene Abs. 2 daher vor, dass die in Abs. 1 normierte Fortlaufhemmung nicht eintritt, wenn eine frühere, nämlich innerhalb der regulären Sechsmonatsfrist gemäß § 73 Abs. 1 AVG erfolgende Erledigung des Einreiseantrags aus Gründen des Art. 8 EMRK zwingend geboten ist. Dies ist anhand einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls im Sinne der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte und des EGMR zu entscheiden. Ein zu seinen Gunsten zu berücksichtigendes Kriterium kann es sein, dass von einer früheren Stattgabe des Antrags eine (zusätzliche) Störung der Funktionsfähigkeit gerade jener staatlichen Teilsysteme nicht zu erwarten ist, derentwegen die Verordnung nach § 36 Abs. 1 erlassen wurde, weil der Antragsteller – oder dessen in Österreich schutzberechtigte Bezugsperson – z.B. bereits über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass er sich in die österreichischen Lebensverhältnisse ohne oder nur mit geringfügiger Inanspruchnahme von Integrationsmaßnahmen eingliedern kann oder in der Lage sein wird, am Schulbetrieb ohne oder nur mit geringfügigen Fördermaßnahmen teilzuhaben. Bei minderjährigen Familienangehörigen wird etwa dann von einem Überwiegen des nach Art. 8 EMRK geschützten Interesses an einer Erledigung des Antrags innerhalb der sechsmonatigen Regelfrist (§ 73 Abs. 1 AVG) auszugehen sein, wenn der bislang im Herkunfts- oder einem anderen Drittstaat verbliebene Elternteil die einzige in Betracht kommende Bezugsperson des in Österreich asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Kindes ist, oder wenn umgekehrt ein minderjähriger Antragsteller im Herkunftsstaat über keine taugliche Bezugsperson, die für ihn sorgen und seine Interessen vertreten könnte, verfügt, insbesondere weil diese verstorben ist. Der Berücksichtigung des Kindeswohls wird aufgrund des Art. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl. Nr. 4/2011, im Allgemeinen ein maßgebliches Gewicht in der Beurteilung nach Abs. 2 zukommen.
Formal ist von der Vertretungsbehörde als zuständiger Visumbehörde zu beurteilen, ob hinreichende Gründe für den Entfall der Fristenhemmung vorliegen. Ähnlich wie bei der Einholung der Prognoseentscheidung nach § 35 Abs. 4 ist es aber selbstverständlich möglich, zu dieser Beurteilung das Bundesamt im Wege der Amtshilfe heranzuziehen; dies wird vor allem dort in Betracht kommen (oder sogar geboten sein), wo für die Abwägung nach Art. 8 EMRK die Beschaffenheit des familiären Umfeldes, das den Antragsteller in Österreich erwarten würde, von Bedeutung ist (z.B. die Integration der in Österreich schutzberechtigten Bezugsperson).
Hinsichtlich des Rechts auf einen gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRC bzw. Art. 13 EMRK) steht das etablierte Instrument der Säumnisbeschwerde (Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG) zur Verfügung.
Abs. 3:
Um die Ermittlungspflichten der Vertretungsbehörde nicht zu überspannen, sieht der vorgeschlagene Abs. 3 vor, dass die für den in Abs. 2 normierten Entfall der Fortlaufhemmung sprechenden Gründe vom Antragsteller initiativ darzulegen und bereits im Antrag auf Einreise genau zu bezeichnen sind. Die Manuduktionspflicht der Vertretungsbehörde gegenüber unvertretenen Antragstellern gemäß § 13a AVG soll dadurch jedoch nicht berührt werden.
Dies wird für jene Antragsteller nicht möglich sein, die ihren Antrag bereits vor Inkrafttreten der Verordnung eingebracht haben und deren Verfahren zu diesem Zeitpunkt noch anhängig ist; für solche Antragsteller sieht der vorgeschlagene § 75 Abs. 28, auf dessen Erläuterungen verwiesen wird, eine abweichende Regelung vor.
Abs. 4:
Um im Interesse minderjähriger (asyl- oder subsidiär schutzberechtigter) Bezugspersonen zu vermeiden, dass eine während der Hemmung von Entscheidungsfrist und Entscheidungspflicht (Abs. 1) und damit idR vor Erledigung des Einreiseantrags (des Elternteils) eingetretene Volljährigkeit sich für die beteiligten Familienangehörigen nachteilig auswirkt, sieht der vorgeschlagene Abs. 4 vor, dass die Minderjährigkeit der im Bundesgebiet aufhältigen Bezugsperson (d.h. wenn der Antragsteller ein Elternteil gemäß § 35 Abs. 5 erster Fall ist) anhand des Zeitpunktes der Antragstellung des Nachziehenden zu beurteilen ist. Eine während des Verfahrens nach § 35 eingetretene Volljährigkeit der Bezugsperson soll daher nicht zur Abweisung des Antrags des Angehörigen (d.h. des Elternteils) führen.
Eine vergleichbare Regelung für den umgekehrten Fall, dass das minderjährige ledige Kind der in Österreich bereits asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson den Antrag auf Einreise stellt, ist nicht erforderlich, weil § 35 Abs. 5 (dritter Fall) insoweit schon jetzt auf den Zeitpunkt der Stellung des Einreiseantrags abstellt.
Zu § 73 Abs. 27
Diese Bestimmung regelt das In- und Außerkrafttreten; insbesondere ist das Außerkrafttreten der vorgeschlagenen Regelungen mit Ende September 2026 vorgesehen. In weiterer Folge wird nun – wie im aktuellen Regierungsprogramm vorgesehen – die Erarbeitung eines Kontingentsystems unter Berücksichtigung der Aufnahmekapazitäten der staatlichen Systeme bei gleichzeitiger Wahrung der durch die Europäische Menschenrechtskonvention verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte näher geprüft und angegangen.
Zu § 75 Abs. 28
Der vorgeschlagene Abs. 28 enthält eine von § 36a Abs. 3 abweichende bzw. diese ergänzende Sonderregelung für jene Antragsteller nach § 35, deren Verfahren bei Inkrafttreten der Verordnung der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 bereits anhängig war. Solchen Antragstellern soll spätestens bis zur Erhebung einer Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch die Vertretungsbehörde (Säumnisbeschwerde, Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG) Zeit bleiben, um die für den Entfall der Fristenhemmung maßgeblichen Gründe in dieser Beschwerde geltend zu machen, wobei eine ordnungsgemäße Darlegung dieser Gründe durch unvertretene Antragsteller – wie Abs. 28 hervorhebt – die Manuduktion durch die Behörde (§ 13a AVG) voraussetzen wird; das zur Ermittlungspflicht der Vertretungsbehörde in den Erläuterungen zu § 36 Abs. 3 Gesagte gilt dabei sinngemäß auch für das Säumnisbeschwerdeverfahren. Dem Bundesverwaltungsgericht steht es im Verfahren über die Säumnisbeschwerde frei, insbesondere zur Beurteilung des familiären Umfeldes des Antragstellers im Bundesgebiet die Amtshilfe (Art. 22 B-VG) des Bundesamtes in Anspruch zu nehmen.
Im Übrigen wird auf die Erläuterungen zu § 36a verwiesen.“
Der Ausschuss für innere Angelegenheiten hat den gegenständlichen Initiativantrag in seiner Sitzung am 27. März 2025 erstmals in Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich außer dem Berichterstatter Abgeordneten Lukas Brandweiner die Abgeordneten Mag. Gernot Darmann und Mag. Agnes Sirkka Prammer.
Gemäß § 40 Abs. 1 GOG-NR beschloss der Ausschuss für innere Angelegenheiten einstimmig den Verhandlungsgegenstand einer Ausschussbegutachtung zu unterziehen. Im Anschluss wurden die Verhandlungen vertagt. Die eingelangten Stellungnahmen wurden auf der Homepage des Parlaments veröffentlicht.
Der Ausschuss für innere Angelegenheiten hat den gegenständlichen
Initiativantrag in seiner Sitzung am 22. April 2025 erneut in
Verhandlung genommen. An der Debatte beteiligten sich die Abgeordneten Lukas Brandweiner,
Mag. Gernot Darmann, Mag. Agnes Sirkka Prammer, Elisabeth Heiß,
Andreas Minnich, Alois Kainz, Reinhold Maier,
Maximilian Köllner, MA, Mag. Sophie Marie Wotschke,
Robert Laimer, Irene Eisenhut und Markus Leinfellner sowie
der Bundesminister für Inneres Mag. Gerhard Karner und der Staatssekretär
im Bundesministerium für Inneres Mag. Jörg Leichtfried.
Im Zuge der Debatte haben die Abgeordneten Mag. Ernst Gödl, Maximilian Köllner, MA und Mag. Sophie Marie Wotschke einen gesamtändernden Abänderungsantrag eingebracht, der wie folgt begründet war:
„Mit der Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 wurde in das 4. Hauptstück des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, ein 5. Abschnitt mit Sonderbestimmungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit eingefügt (§§ 36 bis 41 AsylG 2005). Unter der Voraussetzung, dass die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates durch Verordnung feststellt, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind, ermöglichen diese Sonderbestimmungen, während der Gültigkeitsdauer von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen von einzelnen Bestimmungen des sekundären Asylrechts der Europäischen Union abzuweichen. Diese Bestimmungen sind auf Art. 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), ABl. Nr. C 202 vom 7.6.2016 S. 47 ff., gestützt, dem zufolge die Bestimmungen des Titels V (Art. 67 ff. AEUV, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts) die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit nicht berühren. Der darin zum Ausdruck kommende Kompetenzvorbehalt soll es den Mitgliedstaaten ermöglichen, ihre Aufgaben auf dem Gebiet der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der nationalen Sicherheit in vorausschauender und zugleich verhältnismäßiger, die Abweichung vom sekundären Unionsrecht minimierender Weise zu erfüllen. Dabei verlangt Art. 72 AEUV zwar, dass der betreffende Mitgliedstaat die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bzw. den Schutz der nationalen Sicherheit – auch unter Aufbietung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Fähigkeiten – nicht mehr anders als durch Abweichung vom Sekundärrecht gewährleisten kann. Der Vorbehalt gilt gegenüber allen unter Titel V fallenden Bestimmungen und damit auch gegenüber den auf Art. 77 bis 79 AEUV gestützten Sekundärrechtsakten zum Asyl-, Fremden-, Grenzkontroll- und Aufenthaltsrecht.
Der Ausarbeitung der Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 war ein Gutachten von em. Univ.-Prof. Dr. Bernd-Christian Funk (Universität Wien) zu den verfassungsrechtlichen und von Univ.-Prof. Dr. Walter Obwexer (Universität Innsbruck) zu den unionsrechtlichen Vorgaben vorausgegangen. Zu Einzelheiten wird auf den Bericht des Ausschusses für innere Angelegenheiten zu der erwähnten Novelle verwiesen (AB 1097 BlgNR XXV. GP 1 ff.).
Gemäß Art. 72 AEUV und der dazugehörigen Rechtsprechung des EuGH kann in Fällen, in denen gesellschaftliche Systeme überfordert sind, eine Fristhemmung eingeführt werden. Dies gilt insbesondere während der Bewältigung einer Notlage und zur Wiederherstellung eines geregelten Zustands.
Dahingehend ist es erforderlich, rechtliche Vorkehrungen zu treffen, um auf mögliche Beeinträchtigungen des Funktionierens der innerstaatlichen Einrichtungen und öffentlichen Dienste entsprechend reagieren zu können.
Der 5. Abschnitt des 4. Hauptstücks des AsylG 2005 soll daher um eine Sonderbestimmung ergänzt werden, die – für die Dauer der Gültigkeit einer von der Bundesregierung gemäß § 36 leg. cit. im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates zu erlassenden Verordnung – insbesondere eine Hemmung der Frist zur Entscheidung über Anträge auf Einreise gemäß § 35 AsylG 2005 ermöglicht. Die Kompetenz des Bundes zur Erlassung eines diesem Antrag entsprechenden Bundesgesetzes gründet sich auf Art. 10 Abs. 1 Z 3 B‑VG (‚Asyl‘).
Zum Inhaltsverzeichnis und zur Überschrift des 5. Abschnitts des 4. Hauptstücks
Aufgrund des vorgeschlagenen § 36a und der Änderung der Überschrift zum 5. Abschnitt des 4. Hauptstücks ist das Inhaltsverzeichnis entsprechend anzupassen. Die Abschnittsüberschrift ist anzupassen, weil die vorgeschlagene Sonderbestimmung zum Einreiseverfahren (§ 35 AsylG 2005 bzw. § 26 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 [FPG], BGBl. I Nr. 100/2005) auch dann anwendbar sein soll, wenn Binnengrenzkontrollen entweder überhaupt nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden.
Zu § 36
Abs. 1a:
§ 36 Abs. 1 sieht für die Anwendbarkeit des 5. Abschnitts des 4. Hauptstücks zwei kumulative Voraussetzungen vor: Erstens muss die Bundesregierung im Einvernehmen mit dem Hauptausschuss des Nationalrates feststellen, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind. Zweitens müssen Grenzkontrollen an (sämtlichen Abschnitten) der Binnengrenze aufgrund einer oder mehrerer Verordnungen des Bundesministers für Inneres gemäß § 10 Abs. 2 des Grenzkontrollgesetzes (GrekoG), BGBl. Nr. 435/1996, stattfinden, unter anderem deswegen, da das bisherige Regelungsregime im Falle einer Verordnung der Bundesregierung vorsieht, dass diesfalls Anträge auf internationalen Schutz im Rahmen der Grenzkontrolle zu stellen sind.
Im Zusammenhang mit der vorgeschlagenen Sonderbestimmung zum Einreiseverfahren nach § 35 iVm § 26 FPG gibt es naturgemäß keinen solchen Zusammenhang zu Grenzkontrollen. Daher normiert der vorgeschlagene Abs. 1a eine Ausnahme von diesem Grundsatz und sieht vor, dass die Verordnung von der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 auch erlassen werden kann, wenn Binnengrenzkontrollen entweder überhaupt nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden, in einem solchen Fall aber konsequenterweise nur der vorgeschlagene § 36a mit seinen Sonderregelungen für das Einreiseverfahren für Familienangehörige anwendbar sein soll. Gemäß dem vorgeschlagenen ersten Satz ist in der Verordnung jedenfalls auch festzulegen, welche Bestimmungen des vorliegenden Abschnittes während ihrer Gültigkeitsdauer anzuwenden sein sollen; kommt von vornherein nur die Anwendung des § 36a in Betracht, weil Grenzkontrollen entweder nicht oder nur an einzelnen Grenzabschnitten stattfinden, so ist in der Verordnung auch dies festzuhalten. Das Vorliegen einer Verordnung der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 lässt keine Rückschlüsse auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verordnung des Bundesministers für Inneres nach § 10 Abs. 2 oder 3 GrekoG zu.
Im Übrigen wird auf die Erläuterungen zu § 36a verwiesen.
Abs. 2:
Nach geltender Rechtslage ist die Feststellung, dass die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Schutz der inneren Sicherheit gefährdet sind, von der Bundesregierung gegenüber dem Hauptausschuss des Nationalrates schriftlich zu begründen. Dabei ist nach dem Gesetzeswortlaut besonders auf die Anzahl der Antragsteller auf internationalen Schutz und auf jene staatlichen Systeme einzugehen, deren Funktionieren beeinträchtigt wird. Aufgrund der nunmehr vorgeschlagenen Sonderregelungen für das Einreiseverfahren für Familienangehörige von international Schutzberechtigten (§ 36a) ist im Text des Abs. 2 auch auf gemäß § 35 gestellten Anträge auf Einreise Bezug zu nehmen.
Welche staatlichen Systeme im Sinne von Art. 72 AEUV beeinträchtigt werden, hängt von den jeweils aktuellen Migrationsbewegungen ab.
Zu § 36a
Abs. 1:
Der vorgeschlagene Abs. 1 sieht vor, dass der Lauf der Frist zur Entscheidung über Einreiseanträge, die ein Fremder gemäß § 35 stellt, deren Dauer sich mangels Sonderbestimmung im AsylG 2005 aus § 73 Abs. 1 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991 (AVG), BGBl. Nr. 51/1991, ergibt, und die korrespondierende Entscheidungspflicht der Vertretungsbehörde bis zum Ablauf der Gültigkeitsdauer einer von der Bundesregierung gemäß § 36 Abs. 1 erlassenen Verordnung gehemmt sind. Dies hat zur Folge, dass während dieses Zeitraums keine Säumnis der Vertretungsbehörde eintritt; allerdings soll dies unter dem Vorbehalt stehen, dass sich aus dem vorgeschlagenen Abs. 2 nicht ein Anspruch auf frühere Erledigung ergibt.
Aufgrund des vorgeschlagenen Wortlauts (‚Lauf der Frist […] gehemmt‘) ist klargestellt, dass, wie z.B. auch in § 22 Abs. 8 AsylG 2005, der Fortlauf der Frist als solcher gehemmt bzw. die Gültigkeitsdauer der Verordnung nach § 36 Abs. 1 in die Frist nicht eingerechnet wird (‚Fortlaufhemmung‘). Nach Wegfall der Hemmung – d.h. nach Auslaufen der Gültigkeitsdauer der Verordnung der Bundesregierung – wird der Fristenlauf wiederaufgenommen und weiter fortgesetzt. Insgesamt erweist sich eine auf die Gültigkeitsdauer der Verordnung nach § 36 Abs. 1 abgestimmte Hemmung des Fristenlaufs, von der (nur) Ausnahmen im Rahmen des nach Art. 8 EMRK unbedingt Erforderlichen möglich sind, im Vergleich zu anderen Maßnahmen als jenes Mittel, das in die Rechtsposition der Antragsteller am wenigsten eingreift. Die Verhältnismäßigkeit der vorgeschlagenen Regelung kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie – aufgrund der durch sie faktisch bewirkten Verlängerung der Entscheidungsfrist über neun Monate hinaus – lediglich von einer sekundärrechtlichen Bestimmung, nämlich von Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. Nr. L 251 vom 3.10.2003 S. 12, abweicht, der eine Entscheidungsfrist von höchstens neun Monaten normiert. Im Übrigen ist die Verlängerung oder Erstreckung von Fristen ein im Europäischen Asyl- und Fremdenrecht bereits jetzt weithin anerkanntes Mittel, um systemische Herausforderungen, etwa aufgrund einer außergewöhnlich hohen Zahl von Antragstellern, zu bewältigen (z.B. Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes [Neufassung], ABl. Nr. L 180 vom 29.6.2013 S. 60, zur Verlängerung der Frist für die Registrierung von Anträgen auf internationalen Schutz).
Da Abs. 1 kein Erledigungsverbot für die Vertretungsbehörde normiert, ist es zulässig, vor allem über solche Anträge, bei denen die Voraussetzungen nach § 35 eindeutig nicht vorliegen, bereits während der Gültigkeitsdauer der Verordnung der Bundesregierung zu entscheiden. Auch die Möglichkeit der Vertretungsbehörde, Sachverhaltsermittlungen durchzuführen, um sogleich nach Wegfall der Hemmung eine Sachentscheidung ohne unnötigen Aufschub zu gewährleisten, werden von Abs. 1 nicht berührt. Die Weiterleitung des Antrags an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) zur Einholung der nach § 35 Abs. 4 erforderlichen Stellungnahme ist während der Hemmung nicht nur zulässig, sondern geboten, weil der vorgeschlagene Abs. 2 vorsieht, dass diese Stellungnahme auch eine Einschätzung des Bundesamtes enthalten muss, ob im Lichte der individuellen Situation des Antragstellers und seiner in Österreich asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson ausreichende Gründe vorliegen, die gemäß Art. 8 EMRK einen Entfall der Hemmung rechtfertigen; hierzu wird auf die Erläuterungen zu Abs. 2 verwiesen.
Zur Anwendung gelangt die Hemmung – wie bereits erwähnt – nur dann, wenn eine entsprechende Verordnung der Bundesregierung gemäß § 36 erlassen wird. Dies setzt eine Gefährdung der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit im Sinne des Art. 72 AEUV voraus. Damit ist der vorgeschlagene Eingriff in die Rechte der Antragsteller in Form einer Hemmung von Verfahrensfrist und Entscheidungspflicht aufgrund des Vorliegens eines hinreichend schwer gewichteten öffentlichen Interesses gerechtfertigt.
Abs. 2:
Wie schon in den Erläuterungen zur Novelle BGBl. I Nr. 24/2016 näher ausgeführt, sind auch bei Inanspruchnahme einer aus Art. 72 AEUV abgeleiteten Kompetenzermächtigung für die Mitgliedstaaten, womit die Befugnis zur Abweichung von Sekundärrecht einhergeht, weiterhin alle primär-, völker- bzw. verfassungsrechtlichen Garantien, wie insbesondere die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) und insofern auch die EMRK und die GFK, einzuhalten.
Mit Blick auf das durch Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GRC garantierte Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sieht der vorgeschlagene Abs. 2 daher im ersten Satz vor, dass die in Abs. 1 normierte Hemmung nicht eintritt, wenn eine frühere, nämlich innerhalb der regulären Sechsmonatsfrist gemäß § 73 Abs. 1 AVG erfolgende Erledigung des Einreiseantrags aus Gründen des Art. 8 EMRK dringend geboten ist (vgl. auch § 61 Abs. 8). Dies ist anhand einer Abwägung der Umstände des Einzelfalls im Sinne der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte und des EGMR zu entscheiden. Ein zu Gunsten des Antragstellers zu berücksichtigendes Kriterium kann es sein, dass von einer früheren Stattgabe des Antrags eine (zusätzliche) Störung der Funktionsfähigkeit gerade jener staatlichen Teilsysteme nicht zu erwarten ist, derentwegen die Verordnung nach § 36 Abs. 1 erlassen wurde, weil der Antragsteller – oder dessen in Österreich schutzberechtigte Bezugsperson – z.B. bereits über ausreichende Kenntnisse der deutschen Sprache verfügt und daher mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass er sich in die österreichischen Lebensverhältnisse ohne oder nur mit geringfügiger Inanspruchnahme von Integrationsmaßnahmen eingliedern kann oder in der Lage sein wird, am Schulbetrieb ohne oder nur mit geringfügigen Fördermaßnahmen teilzuhaben. Bei minderjährigen Familienangehörigen wird etwa dann von einem Überwiegen des nach Art. 8 EMRK geschützten Interesses an einer Erledigung des Antrags innerhalb der sechsmonatigen Regelfrist (§ 73 Abs. 1 AVG) auszugehen sein, wenn der bislang im Herkunfts- oder einem anderen Drittstaat verbliebene Elternteil die einzige in Betracht kommende Bezugsperson des in Österreich asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Kindes ist, oder wenn umgekehrt ein minderjähriger Antragsteller im Herkunftsstaat über keine taugliche Bezugsperson, die für ihn sorgen und seine Interessen vertreten könnte, verfügt, insbesondere weil diese verstorben ist. Der Berücksichtigung des Kindeswohls wird aufgrund des Art. 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl. I Nr. 4/2011, im Allgemeinen ein maßgebliches Gewicht in der Beurteilung nach Abs. 2 zukommen.
Für die Abwägung nach Art. 8 EMRK aufgrund des vorgeschlagenen Abs. 2 ist jedoch nicht nur die persönliche Situation des Antragstellers, sondern auch die Beschaffenheit des familiären Umfeldes, das ihn in Österreich erwarten würde, von Bedeutung (z.B. die Integration der in Österreich schutzberechtigten Bezugsperson). Die Vertretungsbehörde wird daher, soweit es die im Bundesgebiet befindliche Bezugsperson betrifft, regelmäßig der Amtshilfe durch das Bundesamt bedürfen, um diese Abwägung vorzunehmen. Der vorgeschlagene zweite Satz sieht daher vor, dass im Wege des Mitteilungsverfahrens nach § 35 Abs. 4 auch eine Einschätzung des Bundesamtes, ob ausreichende Gründe für einen Entfall der Hemmung nach Abs. 1 gegeben sind, einzuholen ist. Ungeachtet der dadurch normierten Notwendigkeit einer Mitwirkung des Bundesamtes hat formal die Vertretungsbehörde als zuständige Visumbehörde zu beurteilen, ob hinreichende Gründe für den Entfall der Hemmung vorliegen. Es besteht daher zwar keine strikte Bindung an die Einschätzung des Bundesamtes, gleichwohl wird diese eine zentrale Entscheidungs- und Beurteilungsgrundlage für die Vertretungsbehörde sein.
Da der Antragsteller bei der verfahrensführenden Vertretungsbehörde entweder selbst oder durch einen Vertreter jederzeit Akteneinsicht nehmen kann (§ 17 AVG), ist es dem Antragsteller jederzeit möglich, sich darüber zu informieren, ob das Bundesamt bereits eine Stellungnahme zum Vorliegen der Ausnahme von der Hemmung der Entscheidung über seinen Einreiseantrag erstattet hat bzw. ob die Ausnahme im konkreten Fall gewährt wird. Hinsichtlich des Rechts auf einen gerichtlichen Rechtsschutz (Art. 47 GRC bzw. Art. 13 EMRK) steht das etablierte Instrument der Säumnisbeschwerde (Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG) zur Verfügung, gegen deren Zurück- oder Abweisung wiederum der Rechtsmittelweg zu den Gerichtshöfen des öffentlichen Rechts offensteht.
Abs. 3:
Um die Ermittlungspflichten der Vertretungsbehörde nicht zu überspannen, sieht der vorgeschlagene Abs. 3 vor, dass die für den in Abs. 2 normierten Entfall der Fortlaufhemmung sprechenden Gründe vom Antragsteller initiativ darzulegen und bereits im Antrag auf Einreise genau zu bezeichnen sind. Diese Bezeichnungsplicht des Antragstellers soll dem Umstand Rechnung tragen, dass Vertretungsbehörden – im Gegensatz zu inländischen Behörden – im Gebiet des Empfangsstaates keine hoheitlichen Befugnisse bei der Sachverhaltsermittlung haben und daher z.B. nicht die Vorlage von Beweismitteln anordnen bzw. ihre Sicherstellung durchsetzen oder Zeugenbefragungen durchführen können. Insofern sind sie verstärkt auf die Kooperation des Antragstellers angewiesen. Die Sachverhaltsermittlungspflicht der Vertretungsbehörde (vgl. § 35 Abs. 3) und deren Manuduktionspflicht gegenüber unvertretenen Antragstellern gemäß § 13a AVG bleiben dadurch unberührt.
Für jene Antragsteller, die ihren Antrag bereits vor Inkrafttreten der Verordnung eingebracht haben und deren Verfahren zu diesem Zeitpunkt noch anhängig ist, wird die Darlegung der Gründe für den Entfall der Hemmung nicht möglich sein. Der vorgeschlagene § 75 Abs. 28, auf dessen Erläuterungen verwiesen wird, sieht für diese Personengruppe daher eine abweichende Regelung vor.
Abs. 4:
Um im Interesse minderjähriger (asyl- oder subsidiär schutzberechtigter) Bezugspersonen zu vermeiden, dass eine während der Hemmung von Entscheidungsfrist und Entscheidungspflicht (Abs. 1) und damit vor Erledigung des Einreiseantrags (des Elternteils) eingetretene Volljährigkeit sich für die beteiligten Familienangehörigen nachteilig auswirkt, sieht der vorgeschlagene Abs. 4 vor, dass die Minderjährigkeit der im Bundesgebiet aufhältigen Bezugsperson (d.h. wenn der Antragsteller ein Elternteil gemäß § 35 Abs. 5 erster Fall ist) anhand des Zeitpunktes der Antragstellung des Nachziehenden zu beurteilen ist. Eine während des Verfahrens nach § 35 eingetretene Volljährigkeit der Bezugsperson soll daher nicht zur Abweisung des Antrags des Angehörigen (d.h. des Elternteils) führen.
Eine vergleichbare Regelung für den umgekehrten Fall, dass das minderjährige ledige Kind der in Österreich bereits asyl- oder subsidiär schutzberechtigten Bezugsperson den Antrag auf Einreise stellt, ist nicht erforderlich, weil § 35 Abs. 5 (dritter Fall) insoweit schon jetzt auf den Zeitpunkt der Stellung des Einreiseantrags abstellt.
Abs. 5:
Aus Gründen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit soll nach dem Vorbild des § 17 Abs. 9 AsylG 2005 dem Antragsteller bei Antragstellung ein Merkblatt mit Hinweisen auf die Hemmung gemäß Abs. 1, die Voraussetzungen für den Entfall gemäß Abs. 2 sowie auf seine Obliegenheit zur Anführung der für den Entfall der Hemmung sprechenden Gründe gemäß Abs. 3 bzw. – in Fällen in denen das Einreiseverfahren bei Inkrafttreten der Verordnung der Bundesregierung bereits anhängig ist – gemäß § 75 Abs. 28 ausgefolgt werden.
Zu § 73 Abs. 27
Diese Bestimmung regelt das In- und Außerkrafttreten; insbesondere ist das Außerkrafttreten der vorgeschlagenen Regelungen mit Ende September 2026 vorgesehen. Mit diesem Zeitpunkt sollen auch der Eintrag im Inhaltsverzeichnis zu § 36a entfallen sowie die Überschrift des 5. Abschnitts des 4. Hauptstücks, der entsprechende Eintrag im Inhaltsverzeichnis und § 36 Abs. 2 wieder ihre Fassung vor Inkrafttreten der vorliegenden Novelle erhalten, weshalb vorgesehen wird, dass ‚die Änderungen‘ des Inhaltsverzeichnisses als solche außer Kraft treten. Mit der gesetzlichen Grundlage tritt auch eine allfällige Verordnung der Bundesregierung, welche die Anwendbarkeit des § 36a bewirkt, außer Kraft.
In weiterer Folge wird nun – wie im aktuellen Regierungsprogramm vorgesehen – die Erarbeitung eines Kontingentsystems unter Berücksichtigung der Aufnahmekapazitäten der staatlichen Systeme bei gleichzeitiger Wahrung der durch die Europäische Menschenrechtskonvention verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte näher geprüft und angegangen.
Zu § 75 Abs. 28
Der vorgeschlagene Abs. 28 enthält eine von § 36a Abs. 3 abweichende bzw. diese ergänzende Sonderregelung für jene Antragsteller nach § 35, deren Verfahren bei Inkrafttreten der Verordnung der Bundesregierung nach § 36 Abs. 1 bereits anhängig war. Solchen Antragstellern soll spätestens bis zur Erhebung einer Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch die Vertretungsbehörde (Säumnisbeschwerde, Art. 130 Abs. 1 Z 3 B-VG) Zeit bleiben, um die für den Entfall der Fristenhemmung maßgeblichen Gründe in dieser Beschwerde geltend zu machen, wobei eine ordnungsgemäße Darlegung dieser Gründe durch unvertretene Antragsteller – wie Abs. 28 hervorhebt – die Manuduktion durch die Behörde (§ 13a AVG) voraussetzen wird; das zur Ermittlungspflicht der Vertretungsbehörde in den Erläuterungen zu § 36a Abs. 3 Gesagte gilt dabei sinngemäß auch für das Säumnisbeschwerdeverfahren. Dem Bundesverwaltungsgericht steht es im Verfahren über die Säumnisbeschwerde frei, insbesondere zur Beurteilung des familiären Umfeldes des Antragstellers im Bundesgebiet die Amtshilfe (Art. 22 B-VG) des Bundesamtes in Anspruch zu nehmen.
Im Übrigen wird auf die Erläuterungen zu § 36a verwiesen.
Zu § 75 Abs. 29
Der vorgeschlagene Abs. 29 soll sicherstellen, dass auch solche Antragsteller, deren Einreiseverfahren bei Inkrafttreten der Verordnung der Bundesregierung (§ 36 Abs. 1) bereits anhängig ist, von den durch diese Verordnung bewirkten Hemmung (§ 36a Abs. 1), den davon vorgesehenen Ausnahmen (Abs. 2 leg. cit.) und der Notwendigkeit, die für den Entfall der Hemmung sprechenden Gründe darzulegen, in Kenntnis gesetzt werden. Zu diesem Zweck wird vorgesehen, dass das nach § 36a Abs. 5 zu erstellende Merkblatt solchen Antragstellern ohne unnötigen Aufschub nach Inkrafttreten des vorliegenden Bundesgesetzes zur Verfügung zu stellen ist.
Zu § 75 Abs. 30
Die vorgeschlagene Übergangsbestimmung sieht vor, dass die Minderjährigkeit der im Bundesgebiet aufhältigen Bezugsperson auch dann anhand des Zeitpunktes der Antragstellung des Nachziehenden zu beurteilen ist, wenn über diesen Antrag – infolge der durch § 36a Abs. 1 angeordneten Hemmung – erst nach dem Außerkrafttreten der gemäß § 36 erlassenen Verordnung der Bundesregierung oder nach dem 30. September 2026, also nach dem Außerkrafttreten des § 36a entschieden wird.
Im Übrigen wird auf die Erläuterungen zu § 36a Abs. 4 verwiesen.“
Bei der Abstimmung wurde der Gesetzentwurf in der Fassung des oben erwähnten Abänderungsantrages der Abgeordneten Mag. Ernst Gödl, Maximilian Köllner, MA und Mag. Sophie Marie Wotschke mit Stimmenmehrheit (dafür: V, S, N, dagegen: F, G) beschlossen.
Als Ergebnis seiner Beratungen stellt der Ausschuss für innere Angelegenheiten somit den Antrag, der Nationalrat wolle dem angeschlossenen Gesetzentwurf die verfassungsmäßige Zustimmung erteilen.
Wien, 2025 04 22
Lukas Brandweiner Mag. Ernst Gödl
Berichterstattung Obmann