1036/J XXVIII. GP
Eingelangt am 07.04.2025
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Anfrage
der Abgeordneten Agnes-Sirkka Prammer, Freundinnen und Freunde
an den Bundesminister für Inneres
betreffend Anzeigenstatistik 2024 und Jugendkriminalität
Am 14. April 2025 präsentierte Bundesminister Gerhard Karner die Anzeigenstatistik des Bundesministeriums für Inneres für das Jahr 2024.[1] Einen besonderen Fokus legte er dabei auf die Entwicklung im Bereich der Anzeigen minderjähriger Tatverdächtiger - der Innenminister betonte in der öffentlichen Kommunikation einen Anstieg der Anzeigen bei minderjährigen Tatverdächtigen. In der Präsentation wurde dabei auf den verstärkten Einsatz polizeilicher Kontrollmaßnahmen, insbesondere durch die im Jahr 2024 eingerichtete „Einsatzgruppe Jugendkriminalität“, verwiesen.
Vor diesem Hintergrund stellen sich zahlreiche inhaltliche, statistische und kriminalpolitische Fragen zur Aussagekraft der präsentierten Zahlen und zur tatsächlichen Entwicklung der Jugendkriminalität in Österreich. Zählweise, Bevölkerungsentwicklung, Kontrolltätigkeit, höhere Anzeigenbereitschaft und eine höhere Aufklärungsquote erschweren es, pauschal von mehr kriminelleren Jugendlichen als früher zu sprechen.
Die in der Anzeigenstatistik 2024 präsentierten Zahlen beruhen auf Fallzählung und nicht auf Personenzählung. Einzelne Tatverdächtige können also mehrfach in die Statistik eingehen, was die Vergleichbarkeit über die Jahre und die tatsächliche Entwicklung von Jugendkriminalität einschränkt. Dazu der Kriminalsoziologe Hermann Kuschej im ORF: Einzelne Täter würden auch teils mehrere Straftaten begehen, und das sei ein Problem für die Statistik, da ja die einzelnen Anzeigen gezählt würden. Es gehe auch um das Alter der Gruppen, die auffällig würden. Hier sei kein Unterschied zwischen heimischen und zugewanderten, so der Kriminalsoziologe.[2]
Die Änderung der Zählweise im Jahr 2018 von Ein- auf Mehrfachzählung führte zusätzlich zu einem Anstieg der Zahlen der Statistik im Zeitverlauf.
Hinzu kommen vermehrte Anzeigen auf Grund verstärkter Kontrolltätigkeit der Polizei gegenüber Minderjährigen mit zusätzlichen Ressourcen. So erfolgte die Einrichtung der Einsatzgruppe Jugendkriminalität im BMI im März 2024. Bis Ende 2024 wurden allein von ihr rund 55.500 Personen von der Einsatzgruppe kontrolliert.[3] Detaillierter und erfreulich differenziert wird hier das Bild im Bericht „Polizeiliche Kriminalstatistik 2024“ des BMI gezeichnet: „Durch die verstärkten Kontrolltätigkeiten der EJK werden mehr Tatverdächtige ermittelt, insbesondere in den Altersgruppen der Jugendlichen. Dies führt zwangsläufig zu einem Anstieg der erfassten Jugenddelikte, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass tatsächlich mehr Straftaten begangen werden. Vielmehr werden durch die intensive Ermittlungsarbeit Fälle aus dem Dunkelfeld in das Hellfeld der Kriminalstatistik überführt.“[4]
Statistische Verzerrungen ergeben sich insbesondere auch durch eine kleine Gruppe von sogenannten „Mehrfach- oder Intensivtäter:innen“. Eine kleine Gruppe von Jugendlichen ist für eine überproportionale Anzahl an Straftaten verantwortlich. Das sind minderjährige bzw. unmündige Intensivtäter, die mehr als 50 Taten pro Monat auf ihr Konto bringen. Den aktivsten unter ihnen gelten mehr als 150 Strafanzeigen pro Monat. Die Nummer eins liege bei mehr als 1.200 Straftaten insgesamt, die Nummer zwei bei mehr als 1.000 und die Nummer drei bei über 900 Anzeigen. „Die drei sind alleine für 28 Prozent der Straftaten von unter 18-Jährigen verantwortlich“, so Dieter Csefan, Leiter der Abteilung zur Bekämpfung der organisierten und allgemeinen Kriminalität im Bundeskriminalamt (BK) und der im vergangenen Jahr neu gegründeten Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.[5]
Auch die Frage der Zählung unmündiger Minderjähriger, die nicht strafmündig sind, sowie mögliche Mehrfachzählungen, beeinflusst die Aussagekraft statistischer Daten. Vielmehr schlagen sich durch Smartphones neue Delikte und vermehrt Zufallsfunde in der Statistik nieder.[6]
Im Detail unterzieht Koss im Journal für Strafrecht im März 2025 die vermeintlich angestiegene Kinder- und Jugendkriminalität einem Faktencheck: Die Zahl der verurteilten Jugendlichen sei in den vergangenen 10 Jahren um 22% gesunken, obwohl die Aufklärungsquote massiv gestiegen ist. Ein um Aufklärungsquote, Mehrfachzählungen und Bevölkerungsentwicklung bereinigtes Modell ergibt keinen Hinweis auf steigende Jugendkriminalität (14-17-jährige) in den letzten 10 Jahren. Im Bereich der Kinder gäbe es einen Anstieg um 9,6% seit 2014.[7]
Das zeigt auch, dass die Präsentation einer Statistik kein Selbstzweck ist, sondern sowohl Ermittlungsbehörden als auch Kinder- und Jugendhilfeträgern eine Basis für das Erarbeiten zielgerichteter Maßnahmen gegen Jugendkriminalität sein soll. Dafür ist es aber wichtig, dass ein möglichst aussagekräftiges Datenfundament zur Verfügung steht, das für die Gesellschaft verständlich ist. Denn unabhängig davon, ob nur die Fallzahlen steigen, oder die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die Straftaten begehen - jeder Fall ist einer zu viel.
Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgende
1) Wie viele Anzeigen gegen minderjährige Tatverdächtige wurden in den Jahren 2018 bis 2024 registriert?
a. Wie viele unterschiedliche Tatverdächtige wurden dabei jeweils gezählt?
b. Wie viele davon galten als Mehrfach- bzw. Intensivtäter:innen und wie definieren Sie diese?
(Bitte jeweils gegliedert in mündige und unmündige Minderjährige sowie nach Geschlecht und Bundesland.)
2) Wie stellt sich die Entwicklung der Angezeigtenzahlen im Zeitverlauf seit 2005 dar, wenn man die Daten um Mehrfach- und Intensivtäter:innen bereinigt?
3) Wie entwickelt sich die Jugendkriminalität, wenn die Zahlen der drei besonders häufig auffälligen sog. „Systemsprenger“ herausgerechnet werden? Ist ein Anstieg weiterhin noch ableitbar?
4) Wie viele der angezeigten Delikte im Bereich Jugendkriminalität sind sogenannten „Kontrolldelikten“ zuzurechnen, also solchen, die durch gezielte Polizeikontrollen sichtbar wurden?
5) Wie viele Anzeigen gegen Minderjährige erfolgten im Zusammenhang mit den neu eingerichteten Waffenverbotszonen in Wien?
6) Wie hat sich die Anzahl polizeilicher Kontrollen von Minderjährigen in den Jahren 2004 bis 2024 entwickelt?
a. Auf welcher rechtlichen Grundlage werden unmündige Minderjährige angehalten und durchsucht?
7) Welche Auswirkungen zeigt die 2021 erfolgte Verländerung der Kinder- und Jugendhilfe auf die Jugendkriminalität? Gibt es hier messbare Zusammenhänge in der Statistik?
8) Welche Zahlen berücksichtigt die am 14.4.2025 präsentierte polizeiliche Anzeigenstatistik 2024 und in welchem Verhältnis steht sie zur Polizeilichen Kriminalstatistik 2024?
9) Inwiefern werden statistische Verzerrungen durch Mehrfachzählungen berücksichtigt, wenn Sie öffentlich von einem Anstieg der Jugendkriminalität sprechen?
10) Wie erfolgt die statistische Zählung von Tatverdächtigen unter 14 Jahren, also strafunmündigen Minderjährigen?
11) Werden in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gesonderte Statistiken für Jugendliche und unmündige Minderjährige geführt? Wenn ja, seit wann und wie ist deren Struktur?
12) Gab es in den letzten zehn Jahren Erlässe, die sich explizit auf den Umgang mit minderjährigen bzw. unmündigen minderjährigen Tatverdächtigen beziehen? Wenn ja, welche?
13) Welche weiteren Erlässe existieren aktuell zum Umgang mit minderjährigen Tatverdächtigen?
14) Wie viele angezeigte Jugendliche waren 2024 im Bereich der Internetkriminalität involviert?
15) Seit 2024 besteht die Einsatzgruppe zur Bekämpfung der Jugendkriminalität.
a. Wie viele Einsätze und wie viele kontrollierte Personen wurden bisher registriert?
b. Inwiefern beeinflusste diese Maßnahme die Zahl der Anzeigen gegen Jugendliche?
c. Entspricht der Anstieg den im Vorfeld getroffenen Einschätzungen zur Wirkung dieser Maßnahme?
d. Wie viele Ressourcen wurden hier personell und finanziell eingesetzt?
e. Welche besondere Ausbildung oder Schulung haben die eingesetzten Beamt:innen erhalten? Wenn es keine gesonderte Schulung gab, wieso nicht?
f. Welche Erkenntnisse ziehen Sie aus dem Einsatz dieser Gruppe? Gibt es präventive Maßnahmen, die den Einsatz obsolet machen würden?
g. Wie lange soll die Einsatzgruppe aufrechterhalten werden?
16) Wie viele Anzeigen gemäß § 207a StGB (bildliche sexualbezogene Darstellungen minderjähriger Personen) betrafen minderjährige Tatverdächtige im Jahr 2024?
17) Warum wird in öffentlichen Stellungnahmen regelmäßig von einem Anstieg der Jugendkriminalität gesprochen, obwohl laut Kriminalstatistikbericht selbst dieser Schluss als unzulässig dargestellt wird?
18) Welche Expert:innengruppe wurde im Rahmen der Kriminalstatistik wie angekündigt eingerichtet? Wer ist daran beteiligt, aus welchen Fachbereichen sind die Expert:innen, wie oft trifft sich diese Gruppe und was sind die konkreten Empfehlungen?
19) Welche konkreten präventiven Maßnahmen gegen Jugendkriminalität, für die keine Gesetzesänderungen notwendig sind, setzen Sie derzeit in Ihrem Wirkungsbereich um?
20) Wurden zwischen 2021 bis 2024 Fallkonferenzen mit minderjährigen Tatverdächtigen durchgeführt? Welche anderen Mittel haben Sie, um gemeinsam mit anderen Akteur:innen Fälle zu besprechen?
21) Im Bericht zur polizeilichen Kriminalstatistik kündigen Sie einen Ausbau von Kooperationen im Bereich Prävention an: „Durch den weiteren Ausbau nationaler und internationaler Kooperationen mit Strafverfolgungsbehörden, Bildungseinrichtungen und gesellschaftlichen Akteuren soll das bewährte Präventionsnetzwerk weiter gestärkt werden.“ Welche Kooperationen mit Bildungseinrichtungen und gesellschaftlichen Akteur:innen wurden im Jahr 2024 konkret umgesetzt?
22) Inwiefern soll die Aussetzung des Familiennachzugs, bei der bestehende Familienverbände getrennt bleiben, zur Reduktion von Jugendkriminalität beitragen?
23) Welche gesetzlichen Maßnahmen im Bereich Jugendkriminalität sind derzeit in Ausarbeitung oder Vorbereitung?
24) Wurde das Institut für Wissenschaft und Forschung (IWF) der Sicherheitsakademie (SIAK) mit wissenschaftlicher Begleitung oder Studien zur Entwicklung der Jugendkriminalität beauftragt?
a. Wenn ja, mit welchen konkreten Fragestellungen und wann sind Ergebnisse zu erwarten? Wurden/werden die Ergebnisse veröffentlicht?
b. Wenn nein, warum nicht?
25) Inwiefern wird der aktuelle kriminologische, kriminalsoziologische und jugendpsychologische Forschungsstand in der Arbeit des BMI berücksichtigt?
[1] https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=7962637151765A6A5A496B3D
[2] https://orf.at/stories/3390591/
[3] https://www.bmi.gv.at/news.aspx?id=6D70524F4F717078646A6B3D
[4] Polizeiliche Kriminalstatistik 2024, https://www.bundeskriminalamt.at/501/files/PKS-24-web3_bf_20250414.pdf
[5] https://orf.at/stories/3390591/
[6] Koss, Kinder- und Jugendkriminalität – ein Faktencheck, JSt 2025, 25
[7] Koss, Kinder- und Jugendkriminalität – ein Faktencheck, JSt 2025, 25