3059/J XXVIII. GP
Eingelangt am 17.07.2025
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Anfrage
der Abgeordneten Lukas Hammer, Freundinnen und Freunde
an den Bundeskanzler
betreffend Beteiligung der Republik am Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus am Standort Diepoldsau
2023 fällte der Schweizer Bundesrat eine Grundsatzentscheidung zur Einrichtung eines Schweizer Memorials für die Opfer des Nationalsozialismus. Es soll an die vielfältige Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts erinnern. Dabei soll insbesondere der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, der zehntausenden Geflüchteten gedacht werden, die oft nur illegal in die Schweiz kommen konnten. Jenen, die an den Grenzen abgewiesen oder wieder ausgewiesen wurden. Erinnert werden soll aber auch an die vielen Fluchthelfenden und den Umgang der Schweizer Gesellschaft mit dem Krieg und den Geflüchteten[1].
Das Memorial soll an zwei Orten in der Schweiz verwirklicht werden: in der Hauptstadt Bern und im Kanton St. Gallen an der Grenze zu Österreich.
Die Wahl für einen Ort im Kanton St. Gallen fiel auf Diepoldsau – einem Ort direkt an der österreichischen Grenze unweit von Hohenems. Hier hatten insbesondere ab dem Sommer 1938 viele Menschen Rettung vor der nationalsozialistischen Verfolgung gesucht, die meisten von ihnen kamen aus Wien.
Die Bedeutung des Rheintals für die Flucht vor dem Nationalsozialismus
Gerade das Rheintal war im Kontext der Fluchtgeschichten von jüdischen und politisch verfolgten Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus von besonderer Bedeutung, weil es eine der wenigen geografisch zugänglichen Übergangsregionen zwischen dem damaligen Deutschen Reich (einschließlich des annektierten Österreichs) und der neutralen Schweiz darstellte. Der Rhein bildete zwar eine natürliche Grenze, doch an vielen Stellen wie etwa bei Diepoldsau war er relativ schmal und konnte durchquert werden. Das Tal ist durch seine offene Landschaft und dichte Besiedlung auf beiden Seiten der Grenze historisch eng miteinander verflochten, wodurch zahlreiche familiäre, wirtschaftliche und soziale Verbindungen bestanden. Diese halfen nicht selten bei der Organisation von Fluchten. Gerade die Lage zwischen Hohenems (Österreich) und Diepoldsau (Schweiz) wurde zum Brennpunkt für Fluchtversuche, da viele Verfolgte hier auf Menschlichkeit, Solidarität – aber auch auf bürokratische Härte stießen. Die Tatsache, dass das Tal keine kulturelle oder sprachliche Barriere bot, machte es zu einem „grünen Korridor“, der Hoffnung versprach – und doch oft tödlich endete.
Das Jüdische Museum Hohenems widmet sich seit vielen Jahren der Erforschung und Präsentation dieser Fluchtgeschichte österreichischer Jüdinnen und Juden, aber auch anderer Geflüchteter, die Rettung in der Schweiz suchten.
Seit 2022 wird das Schicksal der Geflüchteten im Projekt „Über die Grenze“ auf einem 100 Kilometer langen Hörweg entlang der Grenze und einer damit verbundenen Website wie auch verschiedenen Publikationen differenziert dargestellt. Dieses Projekt veranlasste den Kanton St. Gallen im Jahr 2023 eine intensive Kooperation mit dem Museum einzugehen. Gegenstand der Kooperation soll die gesamte Geschichte der Fluchtbewegungen in die Schweiz in den Jahren 1933-45 sein, wobei der Massenflucht von Menschen aus Wien und dem übrigen Österreich eine exemplarische Bedeutung zugemessen wird.
Fluchtgeschichten
Tausende Flüchtlinge aus Österreich versuchten zwischen März 1938 und Mai 1945 über Vorarlberg die rettende Schweiz zu erreichen: Verfolgte Jüdinnen und Juden aus Wien, von den Nazis verfolgte österreichische Politiker:innen, Intellektuelle oder Künstler:innen, Zwangsarbeiter:innen, die in Österreich Sklavenarbeit leisteten, und österreichische Deserteure, die nicht in der Wehrmacht für einen Vernichtungskrieg verheizt werden wollten.
Schon in den Wochen nach dem „Anschluss“ suchten tausende von Menschen aus Wien über Vorarlberg Rettung in der Schweiz, darunter auch bekannte Schriftsteller wie Jura Soyfer, der über das Schlappiner Joch in die Schweiz zu fliehen versuchte. Getarnt als Skifahrer, wurden er und Hugo Ebner jedoch in Gargellen von einer österreichischen Grenzpatrouille kontrolliert und festgenommen. Soyfer wurde später ins KZ Dachau und dann nach Buchenwald deportiert, wo er 1939 an Typhus starb.
Auch der deutsche Schriftsteller und „Halbjude“ Carl Zuckmayer, der seit 1933 im österreichischen Exil lebte, floh nach dem „Anschluss“ über Vorarlberg in die Schweiz. Seine Werke waren im Deutschen Reich verboten und er stand auf der Liste der unerwünschten Autoren. Zuckmayer wurde von einem SS Mann am Bahnhof in Feldkirch noch kontrolliert, mit List und Glück gelang ihm am Ende die Flucht und er konnte seine literarische Arbeit im Exil fortsetzen.
Ab dem Sommer 1938 gab es fast nur noch illegale Wege in die Freiheit. Die Schweiz begann ihrerseits die Grenzen abzuriegeln. Es waren schweizerische und österreichische Fluchthelfer:innen auf beiden Seiten der Grenze, die vielen Verfolgten noch ein Entkommen ermöglichen konnten und ihnen so das Leben retteten.
Vielen gelang die Flucht, andere wurden gefasst oder zurückgewiesen und dann ermordet. Die meisten Menschen, die 1938 diesen Weg, zumeist über Hohenems und die Nachbargemeinden, in die Schweiz suchten, waren einfache Menschen aus Wien, die alltäglichen Berufen nachgingen. Sie waren Handwerker, Schneider, Kürschner oder Metzger, Arbeiter, Handelsvertreter und Chauffeure – und viele ihrer Familien hatten schon vor und während des Ersten Weltkriegs mit ihren Familien Krieg, Verfolgung und Entwurzelung erlebt.
So wie die Familie des fünfjährigen Heinz Müller, der im Dezember 1938 mit seiner Mutter den Alten Rhein bei Diepoldsau überquerte, um seinem Vater zu folgen, der zuvor in die Schweiz geflohen war. Trotz eisiger Kälte und hoher Schneelagen gelang ihnen die Flucht. Sie konnten in der Schweiz bleiben und sich niederlassen. Anders die Familie Arm aus Wien, die dem Druck der Schweizer Behörden nachgab und in die Dominikanische Republik weiter emigrierte. Für manche hingegen bedeutete die Schweizer Abschiebepraxis den Tod, zum Beispiel für die Familie Markowitz, die 1939 nach Frankreich abgeschoben und von dort nach Auschwitz deportiert wurde.
Am 28. Oktober 1938 kam die sechzehnjährige Susi Mehl nach Hohenems um mit anderen Flüchtlingen in die Schweiz zu fliehen. Ihre Familie war 1930 aus Krakau nach Wien übersiedelt und führte dort eine Metzgerei. Ihre Flucht wurde von ihren Brüdern organisiert, die schon unmittelbar nach dem „Anschluss“ im März 1938 in die Schweiz geflohen sind. Der Altacher Fluchthelfer Edmund Fleisch brachte sie von Hohenems bis zur Grenze. Der Gruppe gelang es, über den Alten Rhein nach Diepoldsau hinüberzukommen.
In St. Gallen sorgt der Polizeikommandant Paul Grüninger dafür, dass sie bleiben kann und sich die Israelitische Flüchtlingsvorsorge um sie kümmert. Auch Susi Mehls Eltern kommen im November 1983 nach Hohenems und versuchen mit Schleppern über den Alten Rhein zu gelangen. Doch zweimal werden sie an der Grenze von der Schweizer Polizei abgewiesen. Auch Paul Grüninger kann nicht mehr helfen. Er steht schon unter wachsendem Druck. Das Leben ihrer Eltern endet in Auschwitz.
Später, im Verlauf der Kriegsjahre, kamen auch Geflüchtete aus anderen Teilen des Deutschen Reiches. Deserteure und Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter:innen, Widerständler, aber immer wieder auch Jüdinnen und Juden, die nun unmittelbar von der Deportation in die Vernichtungslager bedroht waren. So zum Beispiel Paula Hammerschlag, Marie Winter, Paula Korn, Gertrud und Clara Kantorowicz: Diese fünf zwischen 63 und 80 Jahren alten jüdischen Frauen aus Berlin versuchten am 7. Mai 1942 über den Alten Rhein bei Hohenems nach Diepoldsau zu fliehen. Fluchthelfer aus der Schweiz halfen ihnen dabei. Doch das Unternehmen schlägt fehl, weil sie im Stacheldraht hängen bleiben und von deutschen Grenzbeamten entdeckt werden. Vier der Frauen werden von der Gestapo verhaftet. Paula Hammerschlag nahm sich nach der Verhaftung in Hohenems das Leben, um der Deportation zu entgehen. Marie Winter sowie Gertrud und Clara Kantorowicz wurden später in Konzentrationslagern ermordet. Nur Paula Korn gelingt es in die Schweiz zu entkommen, wo sie interniert wurde. Nach dem Krieg wanderte sie in die USA aus.
Es war der St. Galler Polizeikommandant Hauptmann Grüninger, der nach der Grenzschließung am 18. August 1938 noch vielen hundert jüdischen und anderen Flüchtlingen das Leben rettete, indem er ihnen durch Vordatierung ihrer Einreise und Aufenthaltsbewilligungen die Einreise in die Schweiz ermöglichte. Für diese lebensrettenden „Amtspflichtverletzungen“ und „Urkundenfälschungen“ wurde Paul Grüninger 1939 vom Dienst entlassen und 1940 zu einer Geldstrafe verurteilt. Erst 1995, mehr als zwanzig Jahre nach seinem Tod (1972), wird er rehabilitiert und das Urteil gegen ihn aufgehoben. 2012 wurde die Grenzbrücke zwischen Hohenems und Diepoldsau nach ihm benannt.
Projektstatus des Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus
Inzwischen wurde der „Verein Netzwerk Schweizer Memorial an die Opfer des Nationalsozialismus“ mit Sitz in Zürich beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) gegründet. Damit wurde das Fundament gelegt, damit der Prozess zur Entwicklung und die für 2028/29 geplante Einrichtung des Vermittlungszentrum Flucht im Rheintal im historischen Zollgebäude an der Grenze zwischen der Schweiz und Hohenems voranschreiten kann[2].
Ein Team des Jüdischen Museums Hohenems hat im Auftrag und in Kooperation mit dem Departement des Innern des Kanton St. Gallen und dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) im Juni 2024 eine zweitägige Tagung organisiert, um eine breite Fachöffentlichkeit über diesen Plan zu informieren und vor allem fachliche sowie methodische Grundlagen als auch konzeptionelle Ideen zu diskutieren[3]. Das Jüdische Museum Hohenems ist aufgrund der direkten Nähe zum geplanten Standort des Vermittlungszentrums des Memorials auch weiterhin in den Entwicklungsprozess auf vielfältige Weise eingebunden. Dies erscheint den Beteiligten auch wegen der Möglichkeiten in besonderem Maße bedeutsam, die das einzigartige Ensemble vor Ort bietet: bestehend aus einem international angesehenen Jüdischen Museum, dem Kulturerbe des Jüdischen Viertels, der eindrucksvollen Grenzlandschaft am Rhein, den historischen Schweizer Zollgebäuden an dieser Grenze und dem Standort des damals größten Flüchtlingslagers im Rheintal.
Diese Zusammenarbeit ist nun auch in Form eines längerfristigen Kooperationsvertrags zwischen Verein und Museum gesichert.
Das Fluchtgeschehen an der Grenze zur Schweiz und das Schicksal der Geflüchteten in der Schweiz ist ein Teil der österreichischen Geschichte. Zugleich haben schweizerische und österreichische Fluchthelfer gemeinsam an dieser Grenze viele Leben gerettet. Es steht daher die Frage im Raum, ob die Republik Österreich sich ebenfalls an der Errichtung des Vermittlungszentrums des „Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus“ mit dem Standort direkt an der österreichischen Grenze finanziell und organisatorisch beteiligen kann und will.
Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgende
1) Haben Sie Kenntnis von der Errichtung des Vermittlungszentrums des „Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus“ mit dem Standort in Diepoldsau unweit der österreichischen Grenze?
2) Haben Vertreter:innen der Republik Österreich
bzw. der österreichischen Bundesregierung formelle oder informelle
Gespräche mit Verterter:innen der Schweiz oder des Kantons St.Gallen
über eine mögliche Beteiligung der Republik Österreich am
Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus geführt?
Wenn ja, bitte beschreiben Sie Inhalt und Ergebnis dieser Gespräche.
3) Ist geplant, dass sich die Republik Österreich organisatorisch und/oder finanziell an der Errichtung des Zentrums sowie begleitenden Forschungs-, Archiv- und Vermittlungsprojekten beteiligt? Wenn ja, in welcher Form? Wenn nein, warum nicht?
4) Das Jüdische Museum Hohenems ist an der Errichtung des Vermittlungszentrums des „Schweizer Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus“ mit dem Standort in Diepoldsau beteiligt. Wird es von Seiten der Bundesregierung für diese Arbeit des Jüdischen Museum Hohenems eine finanzielle oder organisatorische Unterstützung geben? Wenn ja, in welcher Form? Wenn nein, warum nicht?
5) Gab bzw. gibt es bereits jetzt konkrete Ideen, Anfragen, Anträge bzw. Projekte an die österreichische Bundesregierung bzw. an den National- und Zukunftsfonds zum Thema Flucht in die Schweiz während des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts? Wenn ja, welche? Bitte um Ausführungen der Themen/ Verfolgtengruppen bzw. der Antragsteller:innen? Wie gedenken Sie damit umzugehen?