3181/J XXVIII. GP
Eingelangt am 08.09.2025
Dieser Text ist elektronisch textinterpretiert. Abweichungen vom Original sind
möglich.
Anfrage
der Abgeordneten Lukas Hammer, Freundinnen und Freunde
an den Bundesminister für Innovation, Mobilität und Infrastruktur
betreffend Zwischenfall mit einer vollbesetzten defekten ICE-Garnitur der DB im Tunnel Hadersdorf am 26. Juli 2025
BEGRÜNDUNG
Am 26.07.2025, einem Samstag, kam es im „Tunnel Hadersdorf“ im äußersten Westen des Wiener Stadtgebiets zu einem Zwischenfall mit einer ICE-Garnitur der Deutschen Bahn, die sich gerade fahrplangemäß auf den Weg nach Hamburg gemacht hatte.
Dieser Tunnelabschnitt umfasst im Wesentlichen die Weichenhalle Hadersdorf, welche die alte und neue Westbahnstrecke unterirdisch verknüpft, als tiefstgelegenen Abschnitt der Schienenstrecken in diesem Bereich.
Laut vorliegendem, internem Protokoll ist die nicht völlig geglückte Bewältigung dieses Zwischenfalls im Einzelnen folgendermaßen verlaufen:
o Der mit rund 400 Fahrgästen besetzte Zug ICE 90 blieb um etwa 13:30 Uhr stromlos liegen, in unmittelbarer Nähe eines Notausstiegs aus dem Tunnel.
o Nach vergeblichem Reparaturversuch und in der Folge nötigem Reset meldete der Triebfahrzeugführer um 13:56, dass der Stromabnehmer nicht mehr gehoben werden könne und die Garnitur stromlos im Tunnel stehe.
o Erst eine Viertelstunde später (14:12) war der Triebfahrzeugführer via Handy erreichbar, die Entstörung stellte sich weiter als „langwierig“ heraus.
o Daraufhin wurde seitens der Betriebsführungszentrale Wien (BEKO/NOKO, 14:20) beschlossen, den „Gegenzug“ ICE 23 Hamburg-Wien in St.Pölten zu räumen und mit dieser Garnitur zu versuchen, den liegengebliebenen ICE abzuschleppen.
o Um 14:46 Uhr war diese „Hilfsgarnitur“ vom Bahnhof Tullnerfeld in den Tunnel in Richtung Einsatzstelle unterwegs.
o Währenddessen wird (15:02) gemeldet, dass die Lage im Zug unter Kontrolle sei und die Fahrgäste durch die Zugbegleitung „versorgt und beruhigt“ würden.
o Um 15:03 Uhr wird angegeben, dass die Dauer der Vereinigung der beiden ICE-Garnituren zwecks Abschleppung voraussichtlich 10 bis 15 Minuten betragen werde.
o 15:27 „Lage im Zug unter Kontrolle: Garnitur ist dunkel WC ausgefallen – keine medizinischen Notfälle im Zug – B.B werden durch Zugmannschaft mit Wasser versorgt.“
o 15:37 rückt die Fahrdienstleitung Westbahnhof zur Unterstützung des bisher (seit 14:25 via Tunnel-Notausgang) vor Ort anwesenden FDL Hadersdorf aus.
o Erst um 15:43 sind demzufolge die Einsatzkräfte der Blaulichtorganisationen alarmiert, um Stellung an den Notausgängen zu beziehen.
o 15:54 fährt SIBE (Sicherungsaufsicht Betriebskoordination) zu,
o 16:14 trifft Einsatzleitung (ÖBB-EL WBF) am (dem Vorfallsort nicht nächstliegenden, Anm.) Notausstieg 23 ein.
o Nachdem um 16:24 schließlich OLSIG (Oberleitungs-Freischaltung) aktiviert wird, wird
o 16:30 (also: 3 Stunden nach dem Zwischenfall) das Betriebsstörungskonzept in Kraft gesetzt.
o Um 16:35 wird festgehalten, dass der Hilfszug um 17:00 Uhr ab dem Bahnhof Matzleinsdorf in Gang gesetzt „werden soll“.
o 17:08 vermerkt das Vorfallsprotokoll, dass die Evakuierung (vom einen in den anderen, da offenbar ebenfalls stromlosen Zug) „um 17:00 Uhr geordnet gestartet“ wurde.
o Ab 17:15 ist SIBE (siehe oben: 81 Minuten zuvor „zugefahren“) vor Ort, drei Wagen der Garnitur seien bereits evakuiert.
o Ab 17:21 begleitet die Polizei nach Verständigung durch die Betriebsführung den Einsatz.
o 18:01 Evakuierung ist abgeschlossen, Rückgabe der Einsatzstelle von Feuerwehr an ÖBB „am Laufen“.
o 18:20 ist der Ersatzzug mit den Evakuierten an Bord „in Kürze abfahrbereit“.
o Jedoch: Mit Zeitstempel 18:32 wird vermerkt, dass Personen den Zug verlassen und Abfahrt daher unmöglich ist.
o 18:43 werden Busse durch Rettung und Postbus zum Notausstieg 23 beordert, „Ankunft derzeit leider noch nicht bekannt“.
o 18:53 die lapidare Feststellung „keine Möglich(keit) mehr zu eruieren wohin die Personen vielleicht entkommen sind“, alle Zugsfahrten auf den Tunnelästen werden unterbunden, um 19:12 auch noch der Betrieb auf einer Anschlusstrecke. ÖBB-Personal begibt sich zu den jeweiligen Tunnelausgängen und bewacht diese „augenscheinlich“.
o Zugleich evakuiert die Feuerwehr den Zug ab 18:53 neuerlich.
o 19:05 begibt sich ÖBB-Personal zum Tunnelportal bei Unter-Purkersdorf, um ein Einfahren der Feuerwehr zu organisieren. Deren Einsatz (Grund wird nicht ausgeführt, womöglich aber Absuchen der Tunnelröhren nach Personen, Anm.) - wird 19:20 ÖBB-seits auf „mehrere Stunden“ taxiert.
o 19:23 ist ein Schienenersatzverkehr „eingerichtet“ bzw werden „2 Busse in 30 Minuten“ beim Notausstieg – nunmehr NA25 – eintreffen; die Fahrgäste sollen nach St.Pölten gebracht werden und dort einen angehaltenen Zug Richtung Deutschland zur Weiterfahrt vorfinden.
o Während im Lainzer Tunnel und an den bewachten Portalen noch keine Personen gesichtet wurden (die ja auch offenbar ca 18:30 den Tunnel über den Notausgang verlassen hatten, Anm.), kann die Feuerwehr 19:30 laut ÖBB nicht ausschließen, dass Personen Richtung Unter Purkersdorf oder Chorherrn/Tullnerfeld gegangen sind.
o 19:34 ist die Einsatzleitung ÖBB mit etwa 300 Evakuierten in der Nähe des Notausstiegs 25, Sicherheitsstreifen fahren zu um sie zu unterstützen.
o 19:35 (also gut 6 Stunden nach dem Vorfall) ist schließlich ein Pendelverkehr nach St.Pölten eingerichtet. Die gestrandeten Fahrgäste sind teilweise damit weitergekommen, teilweise nach Wien zurückgebracht worden, teilweise eigeninitiativ (zB mit der S-Bahn) nach Wien zurückgekehrt. Erst um etwa 20 Uhr war die Evakuierung schließlich abgeschlossen.
Soweit das ÖBB-interne Protokoll.
Berichte von Betroffenen legen jedoch – entgegen der internen wie externen ÖBB-Kommunikation – nahe, dass in St. Pölten keine Garnitur zur Weiterfahrt Richtung Deutschland vorhanden war. Allerdings soll ein Teil der Betroffenen ab dort später mit einem (dann überbesetzten) Nightjet, dessen Personal Kulanz walten ließ, weitergekommen sein.
Wie sich aus diversen Bausteinen der internen und externen Unternehmenskommunikation rekonstruieren lässt, scheiterte der Versuch den liegengebliebenen ICE mit der anderen ICE-Garnitur abzuschleppen daran, dass das kraftschlüssige Kuppeln aufgrund der Position des defekten ICE im geneigten Gleisbogen misslang - was bei der Sehartenberg-Kupplung konzeptionell und aus Vorfällen in Deutschland bekannt sein sollte. (Der Zug soll Stunden später jedoch mit einer zweiten Garnitur gekuppelt worden sein, den Tunnel jedenfalls selbständig verlassen haben.)
Die Einsatzleitung vor Ort soll die Feuerwehr vor 17 Uhr angewiesen haben, die Fahrgäste nicht zur Oberfläche zu bringen, sondern in den zweiten, stromlosen Zug, was auf zahlreichen Widerstand der Fahrgäste gestoßen sein soll, die ja den nahen Notausgang vor ihrem Zugsfenster hatten. Nachfragenden Fahrgästen wurde laut Involvierten vom Personal zur Frage, warum nicht nach oben evakuiert wurde, bedeutet, dass oberhalb des Notausgangs die Pampa, das Nirvana, 2 Stunden von Wien bzw. vom nächsten Ort entfernt sei, man stünde „oben in der Botanik“. In Wirklichkeit befindet sich der fragliche Notausgang in unmittelbarer Nähe der S-Bahn-Station Hadersdorf im Wiener Stadtgebiet.
Dass Fahrgäste bereits rund um diesen Zeitpunkt unbefugt den Zug verlassen hätten und daher die Abfahrt des Ersatzzuges - in den trotzdem evakuiert wurde - verhindert hätten wie unternehmensseitig kommuniziert und weiterverbreitet ist nicht bestätigt. Vielmehr dürfte dies laut Vorfallsprotokoll und Augenzeugen erst um etwa 18:30 erfolgt sein, die betreffenden Personen sollen schlicht den nahen Notausgang benützt haben und überraschten an dessen Oberflächen-Ausgang die dort postierte Feuerwehr, die Augenzeugen zufolge offenbar überzeugt war, dass „unten“ alles in Ordnung und im Laufen sei. Dass diese Fahrgäste zu diesem Zeitpunkt (also: knapp 5 Stunden im Tunnel, davon fast dreieinhalb Stunden nach dem Ende der Notstromversorgung im Dunkeln, ohne WC und Klimatisierung) seitens der ÖBB-Kommunikation als „ungeduldig“ abqualifiziert wurden, wurde selbst ÖBB-intern deutlich kritisiert.
Wann und wo die laut Unternehmensangaben im Tunnel „verschollenen“ Fahrgäste konkret gefunden wurden bzw wieder aufgetaucht sind, wurde bislang öffentlich nicht aufgelöst.
Der ÖBB-Kommunikation, wonach zu keiner Zeit eine Gefahrensituation bestanden hätte, steht neben dem bei jeder Evakuierung in Tunneln bestehenden Risiko zB infolge der Ausstiegshöhe auch gegenüber, dass zwei Fahrgäste von der Rettung zu versorgen waren. Dem generell nach „Alles richtig gemacht!“ klingenden Lob der Spitzen von Betrieb und Infrastruktur für Abläufe, Kommunikation und Krisenmanagement bis zum Abend des 27.07. stehen die Fakten mit unverständlichen Verzögerungen und Entscheidungen gegenüber.
Seitens anderer ÖBB-Mitarbeiter:innen wurde hingegen intern rasch auf die Bedeutung eines klaren, unverzerrten Bildes „auf die Realität, unser Handeln und die Auswirkungen“ hingewiesen sowie auf die Notwendigkeit, aus weniger gut Gelaufenem gemeinsam zu lernen.
Die Gesamteinschätzung des Vorfalls dürfte sich schließlich doch geändert haben:
o Am 28.07. wurde seitens des Unternehmens auch medienöffentlich eingestanden, dass einiges schiefgegangen sei, „das darf nicht mehr passieren“.
o Bereits am frühen Nachmittag des 29.07. erging eine mehrfach den Begriff „unverzüglich“ und „ausnahmslos“ enthaltende interne Anweisung zur „sofortigen“ Verbesserung der Vorgehensweise in derartigen Situationen durch den Leiter Betriebsführung.
o Und schließlich wurde von den ÖBB sehr schnell ein über das gesetzlich Vorgesehene weit hinausgehender 100-Prozent-Ersatz der Ticketkosten plus womögliche Nächtigungskosten und Entschuldigungs-Gutschein kommuniziert und umgesetzt.
Innerhalb des BMIMI wurde laut Eisenbahnaufsichtsbehörde ersucht, vorzunehmen. Medieninfos vom 28.07. nachmittags die eine umfassende Untersuchung des Vorfalls vorzunehmen.
Laut Mediendarstellung sei in einem Bericht der Untersuchungsstelle SUB bereits zuvor Kritik an der internen Auswahl der ÖBB-Einsatzleiter:innen für Notfälle geübt worden.
Laut einem weiteren Medienbericht vom 31 .07. hätte der Sprecher der Feuerwehr Verwunderung über die späte Verständigung geäußert.
Mehrfach wurde nach dem Vorfall erwähnt, wie wichtig ausreichend qualifiziertes Personal sei, das auch in Ausnahmefällen professionell handeln könne. Trotz des Umfangs des Vorfalls dürften weniger erfahrenen Kräften entscheidende Verantwortlichkeiten zugekommen sein.
So engagiert und tatkräftig viele Beteiligte bei der Bewältigung des Vorfalls aktiv waren, lassen das interne Vorfallsprotokoll, die „postwendende“ Anweisung zur künftig „ausnahmslos“ einzuhaltenden Vorgehensweise sowie die Einblicke involvierter Fahrgäste und Blaulichtorganisationen einige offene Enden und Fragen etwa bei praktischen Abläufen und Organisationsstrukturen erkennen.
Die unterfertigenden Abgeordneten stellen daher folgende
ANFRAGE
1) Wann wurde beim ICE-Vorfall von Hadersdorf der Regionale Ereignisstab bei den ÖBB einberufen?
2) Wann, von wem und auf welchem Weg wurde der Geschäftsbereichsleiter Betrieb von diesem Vorfall verständigt?
3) Von welchem Ort aus ist SIBE zum Vorfallsort zugefahren?
4) Über welche Ausbildung bzw. welche Ausbildungsdauern verfügt der/die primär eingesetzte Einsatzleiter:in?
5) In welchem zeitlichen Umfang wurde der/die Einsatzleiter:in mit den Anlagen des Tunnels vertraut gemacht?
6) Wie ist erklärbar, dass gegenüber Fahrgästen offenbar grob von der Realität abweichende und zur Eskalation geeignete Angaben über die Lage der vorfallsrelevanten Notausstiege und über die bei diesen an der Oberfläche vorzufindenden Umstände gemacht wurden?
7) In Deutschland ist das Abschleppen von ICE-Triebzügen mit Fahrgästen angeblich verboten - gilt diese Regelung auch in Österreich?
8) Wenn ja, warum wurde die Garnitur nicht zeitnah über die alle 500m angelegten Fluchttreppenhäuser geräumt?
9) Wenn nein - welche Kriterien sind in Österreich anders, sodass ein derartiges Abschleppen mit Fahrgästen erlaubt werden kann?
10) Werden die Einsatzleiter mit den bei ICE-Garnituren verwendeten Scharfenberg-Kupplungen unterwiesen?
11) Wenn ja, warum gab es dann Probleme beim Abschleppversuch, wenn nein - wer müsste diese Kompetenz von den am Zug befindlichen Personen aufweisen?
12) Warum wurde die Fahrleitung ausgeschaltet? Bestand ein Fahrleitungsschaden? Worin bestand eine allfällige Gefahr für Personen am Randweg aus der Fahrleitung?
13) Warum wurden die Blaulichtorganisationen erst rund 2 1 /4 Stunden nach Auftreten der Störung verständigt?
14) Warum ist der Hilfszug erst rund 3 1/2 h nach Auftreten der Störung in Richtung Schadensstelle aufgebrochen?
15) Werden für dringliche Hilfszüge Reservelokomotiven inkl. Zugpersonal vorgehalten? Mit welcher Alarmierungszeit ist zu rechnen, bis eine Abfahrt erfolgen kann?
16) Wie oft werden a) angekündigte, b) nicht angekündigte Störfallübungen in den Tunneln der ÖBB abgehalten und wie werden diese Ergebnisse evaluiert?
17) Wann hat insbesondere die letzte derartige Übung a) im Bereich der Weichen halle Hadersdorf bzw. b) in den angrenzenden Tunnelabschnitten stattgefunden?
18) Warum wurde die Dienstanweisung zur zeitnahen Zugevakuierung erst nach dem jüngsten Vorfall erlassen?
19) Gab es bereits im Vorfeld - wie medial kolportiert zB seitens der SUB - Hinweise, dass dies ein Thema sein könnte?
20) Warum wurde erst relativ spät ein/e zweite/r Einsatzleiter:in hinzugezogen?
21) Ist es richtig, dass der ICE-Triebzug den Tunnel letztlich mit eigener Kraft verlassen konnte?
22) Wenn ja: Worin bestand das technische Problem, das einer vorherigen Eigenfahrt entgegenstand?
23) Wann und wo sind die laut Unternehmensangaben etwa um 17:00 Uhr im Tunnel „verschollenen“ Fahrgäste, die laut Augenzeugen jedoch erst um 18:30 Uhr den Zug verlassen und den in unmittelbarer Nähe liegenden Notausgang benützt hatten, tatsächlich gefunden worden bzw wieder aufgetaucht?
24) Gibt es im Bereich der Weichenhalle und in den angrenzenden Tunnelabschnitten Kameraüberwachung?
25) Hätte es Möglichkeiten gegeben, den Ausfall der Strom- und später auch der Notstromversorgung der liegengebliebenen Garnitur infrastrukturseitig zu überwinden, wenn ja welche?
26) Welchen Auftrag bzw welche Aufträge hat die Eisenbahnaufsichtsbehörde in Ihrem Ressort zur Untersuchung des Vorfalls wann im Einzelnen von Ihnen erhalten?
27) Welches Ergebnis dieser Untersuchung(en) liegt bzw. welche Ergebnisse liegen vor und wo sind diese veröffentlicht?
28) Falls noch nichts vorliegt: Wann werden die Ergebnisse vorliegen und wie werden diese veröffentlicht werden?
29) Welche Informationen liegen Ihnen zum Zeitpunkt Ihrer Anfragebeantwortung über sonstige Untersuchungen des Vorfalls - etwa durch die SUB, die ÖBB, oder Blaulichtorganisationen - und deren Ergebnisse vor?
30) Welche Lehren ziehen Sie bzw Ihr Ressort aus diesem Vorfall im Hinblick auf die Ausrüstung, Absicherung und Überwachung derartiger Schlüsselelemente der kritischen Bahn-Infrastruktur?