Erläuterungen:
Allgemeiner Teil
Ausgangslage
1. Streitigkeiten über (behauptete) Besitzstörung umfassen ein breites Spektrum an tatsächlichen Konstellationen, das von Fällen, in denen etwa ein Kraftfahrzeug beim Umkehren oder Rückwärtsfahren für einen kurzen Zeitraum wenige Zentimeter über fremden Grund ragt bis zum Umschneiden eines Baumes an der Grundstücksgrenze reicht.
Grundsätzlich wird das Thema Besitzstörung in Lehre und Rechtsprechung, aber auch in der öffentlichen Wahrnehmung als nicht besonders problematisch angesehen; lediglich am Thema Besitzstörung durch Kraftfahrzeuge entzündet sich in regelmäßigen Abständen eine heftige Diskussion. Schon auf Basis der geltenden Rechtslage können die unterschiedlichen Fallkonstellation einer ausgewogenen und sachgerechten Lösung zugeführt werden, sodass eine Änderung der materiell-rechtlichen Grundlagen nicht angezeigt ist.
Zuletzt sind allerdings vermehrt Fälle zu beobachten, in denen wegen (behaupteter) Störung des Besitzes durch ein Kraftfahrzeug eine Besitzstörungsklage angedroht wird, sollte nicht ein höherer Geldbetrag (der mehrere hundert Euro erreichen kann) gezahlt werden. Diese Abmahnungen führen bei Unsicherheit über grundlegende Fragen wie beispielsweise die Eingriffsintensität oder (das Bestehen oder der Wegfall der) Wiederholungsgefahr dazu, dass den Abgemahnten ein Eingehen auf die Forderungen als ökonomisch sinnvollere Lösung erscheint. Dass dabei scheinbar Rechtsschutz gegen Geld abgelöst wird und so finanzielle Anreize bestehen könnten, Besitzstörungen strukturell zu verfolgen, ja sogar die Position einer oder eines in ihrem oder seinem Besitz Gestörten systematisch anzustreben, wird in diesem Zusammenhang von manchen kritisiert.
2. Das Regierungsprogramm sieht – offenbar vor diesem Hintergrund – „Maßnahmen gegen Abzocke bei Besitzstörung und gegen Abmahnmissbrauch“ vor.
Zu jener Unsicherheit, die ein Eingehen auf außergerichtliche Forderungen selbst hoher Beträge nahelegt, trägt neben fehlender Inanspruchnahme einer Beratung oder Fehlberatung auch bei, dass die Judikatur in Besitzstörungssachen nicht immer einheitlich ist.
Zu jenen ökonomischen Faktoren, die ein Eingehen auf Forderungen bei außergerichtlicher Abmahnung begünstigen, zählen jene Kosten, die für eine Besitzstörerin oder einen Besitzstörer anfallen, selbst wenn sie oder er diese nicht bestreitet und einen gerichtlichen Titel gegen sich ergehen lässt. Sind die außergerichtlich erhobenen Forderungen niedriger, so besteht ein gewisser Anreiz, diese selbst dann zu befriedigen, wenn über ihre inhaltliche Berechtigung Zweifel bestehen.
Änderungen bei der Anrufbarkeit des Obersten Gerichtshofs
Nach geltendem Zivilverfahrensrecht entscheiden die Landesgerichte in zweiter Instanz in Besitzstörungssachen endgültig. Der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof ist ausgeschlossen, weil § 528 Abs. 2 Z 6 ZPO den Revisionsrekurs in Besitzstörungsstreitigkeiten für jedenfalls unzulässig erklärt.
Mit dem vorgeschlagenen Entwurf sollen Leitentscheidungen des Obersten Gerichtshofs ermöglicht werden, dies mit dem Ziel, die bestehende divergierende Judikatur verschiedener Landesgerichte zu vereinheitlichen und durch Rechtsklarheit und Rechtssicherheit Missbrauch zu vermeiden. Leitentscheidungen werden nicht nur für Kundige offene Fragen lösen, sondern auch dem Thema „Besitzstörung und ihre Grenzen“ zu einer verbesserten Sichtbarkeit verhelfen: dadurch werden – so ist es zumindest angestrebt – auch allgemein das Wissen um Recht und Unrecht verbessert und künftig auch Fälle tatsächlicher Besitzstörungen unterbleiben, öfter Beratung in Anspruch genommen werden und die Qualität der Beratung steigen.
Zu diesem Zweck sieht der Entwurf für einen bestimmten Zeitraum einen Instanzenzug in Besitzstörungssachen an den Obersten Gerichtshof vor.
Änderungen bei der Kostenstruktur von Gerichtsverfahren über unbestrittene Besitzstörungen
Vorgeschlagen werden Änderungen im anwaltlichen Kostenrecht, die auf den Kostenersatz im Zivilverfahren durchschlagen. Dadurch soll es für diejenigen, die eine Besitzstörung begangen haben und dies auch nicht bestreiten, kostengünstiger werden, eine gerichtliche Entscheidung ergehen zu lassen. Das soll jene außergerichtlichen Abmahnungen zurückdrängen, die unter Hinweis auf die Kosten eines Gerichtsverfahrens höhere Zahlungen für die Abstandnahme von einer Besitzstörungsklage verlangen.
Verhältnis zu den Rechtsvorschriften der Europäischen Union:
Rechtsvorschriften der Europäischen Union sind nicht berührt.
Kompetenzgrundlage:
Der vorliegende Entwurf stützt sich auf Art. 10 Abs. 1 Z 6 B-VG (Zivilrechtswesen; Angelegenheiten der Rechtsanwälte).
Besonderheiten des Normerzeugungsverfahrens:
Keine.
Besonderer Teil
Zu Art. 1 (Änderungen des Rechtsanwaltstarifgesetzes)
Allgemeines:
Für jene Konstellationen, in denen eine unbestrittene Störungshandlung durch ein Kraftfahrzeug vorliegt, soll durch ein Gerichtsverfahren zu einem festen niedrigen Streitwert nach dem RATG eine kostengünstigere Alternative zu einer bloß außergerichtlichen Einigung zu hohen Kosten zur Verfügung gestellt werden. Hingegen soll es für tatsächlich abgeführte Gerichtsverfahren bei den bisherigen Regelungen bleiben.
Zu Z 1 (§ 10 Z 1 RATG)
Um zu verdeutlichen, dass die neue Regelung des § 10 Z 1a RATG nicht bloß auf Grund der lex specialis-Regel der allgemeinen Regelung zu Besitzstörungsklagen vorgeht, wird hier der Vorrang des § 10 Z 1a RATG ausdrücklich festgehalten.
Zu Z 2 (§ 10 Z 1a RATG)
In Verfahren, deren Rechtsschutzziel die Abwehr oder Unterlassung einer störenden Handlung durch ein Kraftfahrzeug ist, soll unter bestimmten Voraussetzungen der Streitwert nach dem RATG mit 40 Euro festgelegt werden. Das betrifft nicht nur Besitzstörungsverfahren, sondern auch alle sonstigen Verfahren, in denen Rechtsschutz gegen eine störende Handlung durch ein Kraftfahrzeug angestrebt wird. Damit soll verhindert werden, dass zur Aufrechterhaltung einer Drohkulisse hoher Verfahrenskosten von der Ankündigung einer Besitzstörungsklage auf andere Formen des Rechtsschutzes wie die Eigentumsfreiheitsklage ausgewichen wird.
Kommt es in diesen Verfahren zu einer frühen Verfahrensbeendigung, weil die oder der Beklagte die Störungshandlung nicht bestreitet, soll ein fester niedriger Streitwert gelten; andernfalls soll es bei dem sonst anwendbaren Streitwert (bei Besitzstörungsklagen etwa dem Streitwert nach § 10 Z 1 RATG) bleiben. Damit soll der ersatzfähige Verdienst anwaltlicher Vertretung nicht geschmälert werden, wenn es zu einer tatsächlichen gerichtlichen Auseinandersetzung kommt, sondern nur in jenen Konstellationen begrenzt werden, in denen das Gericht bloß deshalb angerufen wird, um einen vollstreckbaren gerichtlichen Titel über eine unbestrittene Störungshandlung zu schaffen.
Damit wird nur dort in die bestehenden Regelungen zu den ersatzfähigen Kosten eingegriffen, wo der Besitzstörungsklage oder alternativen Formen der Rechtsverfolgung bei einer behaupteten störenden Handlung durch ein Kraftfahrzeug, deren Abwehr oder Unterlassung angestrebt wird, von der Gegnerin oder vom Gegner der oder des Gestörten gar nicht entgegengetreten wird. Dieser Eingriff ist insoweit gerechtfertigt, als die Drohung insbesondere mit diesen Kosten eines gerichtlichen Verfahrens als wirtschaftliche Begründung einer außergerichtlichen „Prozesskostenablöse“ verwendet wird, und die nahezu formelhafte Abwicklung von Verfahren über unbestrittene Störungen geringeren Aufwand verursacht.
Zur Verdeutlichung sei hier eine Berechnung der kostenseitigen Auswirkungen für den Bereich des RATG angeschlossen:
- Klage TP 3A RATG, 60% Einheitssatz, ERV-Gebühr und 20% USt: 73,39 Euro
- Verhandlung TP 2 RATG, 60% Einheitssatz und 20% USt: 34,37 Euro
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107,76 Euro
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Zu Z 3 (§ 26a Abs. 8 RATG)
Die Regelungen über das Inkrafttreten und die Übergangsbestimmungen sind auf die entsprechenden Regelungen in der ZPO abgestimmt und berücksichtigen, dass es sich um ein Vorhaben mit einem vorab geplanten Außerkrafttreten (sunset clause) handelt.
Zu Art. 2 (Änderungen der Zivilprozessordnung)
Allgemeines:
In Besitzstörungssachen ergeht die Entscheidung in der Sache in erster Instanz in Form eines Endbeschlusses, der mit Rekurs angefochten werden kann. Entscheidungen der zweiten Instanz in Besitzstörungssachen sind bisher unanfechtbar, weil § 528 Abs. 2 Z 6 ZPO den Revisionsrekurs in Besitzstörungsstreitigkeiten (§ 49 Abs. 2 Z 4 JN) für jedenfalls unzulässig erklärt und damit die Anrufung des Obersten Gerichtshofs ausschließt. Vorgeschlagen wird, die Anrufung des Obersten Gerichtshofs für einen bestimmten Zeitraum zu eröffnen, um Leitentscheidungen zu erhalten.
Zu Z 1 (§ 528 Abs. 3a ZPO)
Die vorgeschlagene Regelung soll alle in § 49 Abs. 2 Z 4 JN genannten Besitzstörungsstreitigkeiten umfassen. In jenen Besitzstörungsstreitigkeiten, die nicht im Besitzstörungsverfahren, sondern im ordentlichen Verfahren geführt werden, kann der Oberste Gerichtshof weiterhin nach den allgemeinen Regeln angerufen werden. Die Regelung soll nicht auf Endbeschlüsse beschränkt sein, um Abgrenzungsfragen zu vermeiden.
Die mit dem Entwurf vorgeschlagene Zulassung eines Rechtmittels an den Obersten Gerichtshof soll auf fünf Jahre befristet sein. Dementsprechend ist vorzusehen, dass die Bestimmung auf Verfahren anzuwenden ist, in denen die Besitzstörungsklage nach dem 31. Dezember 2025 und vor dem 1. Jänner 2031 bei Gericht eingebracht wurde.
Um den Rechtszug an den Obersten Gerichtshof effektiv zu eröffnen, wäre die Streichung nur der Z 6 in § 528 Abs. 2 ZPO zu kurz gegriffen, weil die meisten Besitzstörungsstreitigkeiten in Zusammenhang mit Kraftfahrzeugen einen Streitwert von unter 5 000 Euro haben und damit eine Anrufung des Obersten Gerichtshofs nach § 528 Abs. 2 Z 1 ZPO unzulässig wäre. Derartige Streitigkeiten sind somit auch von der absoluten Beschränkung durch eine Wertgrenze auszunehmen.
Das System der Zulassung des Revisionsrekurses durch das Gericht zweiter Instanz bei Streitigkeiten, in denen der Entscheidungsgegenstand insgesamt 30 000 Euro nicht übersteigt, soll für die Dauer der Eröffnung eines Rechtszuges zum Obersten Gerichtshof nicht beibehalten werden. Daher wird auch die Anwendung des § 528 Abs. 2 Z 1a ZPO implizit ausgeschlossen (kein Zulassungsmodell).
Zur Vereinheitlichung divergierender Judikatur der Gerichte zweiter Instanz in den verschiedenen Sprengeln muss zudem der Ausschluss des Revisionsrekurses in Streitigkeiten, in denen der angefochtene erstrichterliche Beschluss zur Gänze bestätigt wurde (Konformatsbeschlüsse), beseitigt werden.
Der Revisionsrekurs über den Kostenpunkt (§ 528 Abs. 2 Z 3 ZPO), über die Verfahrenshilfe (§ 528 Abs. 2 Z 4 ZPO) und über die Gebühren der Sachverständigen (§ 528 Abs. 2 Z 5 ZPO) bleibt wie bisher jedenfalls unzulässig und damit der Rechtszug an den Obersten Gerichtshof ausgeschlossen.
Aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit und Klarheit soll ein neuer Absatz geschaffen und nicht in den einzelnen Ziffern eine inhaltliche Änderung vorgenommen werden. Die Bestimmung soll systematisch nach Abs. 3 und vor Abs. 4 als Abs. 3a angesiedelt werden, weil die hier vorgeschlagenen Regelungen Abweichungen zu Abs. 2, 2a und 3, nicht aber zu Abs. 4 sind, der für alle in Abs. 1 bis 3a geregelten Fälle gilt.
Zu Z 2 (§ 636 Abs. 6 ZPO)
Das Inkrafttreten und der Beginn des zeitlichen Geltungsbereichs der hier vorgeschlagenen Regelungen soll zusammenfallen, weshalb für das Inkrafttreten der 1. Jänner 2026 vorgeschlagen wird.
Die hier vorgeschlagenen Regelungen sollen bloß vorübergehend gelten und im Anschluss auch wieder aus der Rechtsordnung entfernt werden. Angesichts dessen, dass mit Übergangsrecht in § 528 Abs. 3a ZPO der zeitliche Geltungsbereich der Regelungen bestimmt werden soll, ist das Datum des bloßen Außerkrafttretens auch weniger bedeutsam. Es sollte aber bedacht werden, dass Regelungen so lange nicht aus der Rechtsordnung entfernt werden sollen, als sie noch anzuwenden sind. Da der zeitliche Geltungsbereich der Regelungen mit dem Übergangsrecht so festgelegt werden soll, dass die Regelungen auf alle Verfahren anzuwenden sind, in denen die Klage vor dem 1. Jänner 2031 bei Gericht eingebracht wird, soll das Außerkrafttreten der Regelungen erst zu einem Zeitpunkt erfolgen, zu dem füglich angenommen werden kann, dass diese Verfahren bereits abgeschlossen sind. Drei Jahre scheinen angesichts des beschleunigten Charakters von Besitzstörungsverfahren angebracht, weshalb für das Außerkrafttreten der 31. Dezember 2033 vorgeschlagen wird.