RN/6
9.14
Bundeskanzler Dr. Christian Stocker: Sehr geehrter Herr Präsident! Herr Vizekanzler! Frau Außenministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen der Bundesregierung! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Österreicherinnen und Österreicher und alle Menschen, die hier leben! Ich stehe hier heute schweren Herzens vor Ihnen. Die letzten Tage waren Tage der Trauer für uns und das ganze Land. Es gibt keine Worte, die dem Schmerz, der Fassungslosigkeit und der Trauer gerecht werden könnten, die wir alle, die ganz Österreich empfinden.
Der Amoklauf am Grazer Borg Dreierschützengasse ist eine nationale Tragödie von einer Dimension, die uns bis dato glücklicherweise unbekannt war, und stellt eine Zäsur dar. Neun junge Menschen und eine Lehrerin wurden auf brutalste Art und Weise viel zu früh aus dem Leben gerissen. Pläne, die geschmiedet wurden für den Tag, für den Sommer, für das Leben werden sich nicht mehr erfüllen können. Die Opfer wurden um ihre Zukunft und ihre Familien und Angehörigen um ihre Liebsten gebracht. Meine Anteilnahme und mein tief empfundenes Mitgefühl gilt den Hinterbliebenen: den Eltern, die ein Kind verloren haben; den Geschwistern, die nun ohne ihren Bruder oder ihre Schwester weiterleben müssen; den Familien, in deren Mitte nun ein Platz leer bleibt; den Angehörigen, den Freundinnen und Freunden, den Schülerinnen und Schülern, den Lehrerinnen und Lehrern und dem Schulpersonal, die das Unfassbare miterleben mussten und deren Leben dadurch von einem Moment auf den anderen für immer verändert wurde. Wir denken auch an jene, die schwer verletzt wurden – an Körper und an Seele.
Eine Gesellschaft, die darauf baut, dass Schulen sichere Orte sind, wird durch solche Taten und durch solch eine Tat mitten ins Herz getroffen. Schulen sind ein Raum der Sicherheit und wurden durch diesen Amoklauf in der Dreierschützengasse durch sinnlose Gewalt erschüttert. Das alles lässt uns fassungslos zurück, weil man das Geschehene einfach nicht fassen kann. Gerade in solchen Situationen müssen wir zusammenstehen: als Gemeinschaft, die Halt gibt, als Gesellschaft, die Mitgefühl zeigt, und auch als Staat.
Mein Dank gilt besonders jenen, die in den Stunden höchster Gefahr und größter Not mit Mut und Entschlossenheit gehandelt haben: den Einsatzkräften der Polizei, den Rettungsdiensten und den unzähligen Helferinnen und Helfern. Sie waren schnell vor Ort, haben Leben gerettet, Sicherheit gegeben und noch Schlimmeres verhindert.
Mein Dank gilt all jenen, die nun die Hintergründe der Tat aufklären werden, und jenen, die den Überlebenden und den Angehörigen beistehen – psychologisch, medizinisch, seelsorgerisch und vor allem menschlich.
Ich bitte Sie alle: Reichen wir in dieser Zeit einander die Hand! Zeigen wir, was Österreich ausmacht: eine Gesellschaft der Verantwortung, des Respekts und der Menschlichkeit! Denn in diesen schweren Stunden ist Menschlichkeit unsere stärkste Kraft.
Als Bundesregierung haben wir unmittelbar nach diesem furchtbaren Ereignis eine dreitägige Staatstrauer ausgerufen. Als sichtbares Zeichen wurden die österreichischen Fahnen auf allen öffentlichen Gebäuden auf halbmast gesetzt und am vergangenen Mittwoch hat ganz Österreich in einer gemeinsamen Minute des stillen Gedenkens innegehalten – ein Zeichen der Verbundenheit mit den Opfern, ihren Familien, ihren Freunden.
Doch unsere Verantwortung endet nicht mit der Staatstrauer oder mit einer Schweigeminute. Unsere Verantwortung ist es, die richtigen Lehren aus dieser Tat zu ziehen und alles zu tun, um ähnliche Vorfälle in Zukunft bestmöglich zu verhindern. Wir müssen uns die Frage stellen, wie wir unsere Schulen noch sicherer machen können.
Wir müssen uns fragen, wie wir junge Menschen, die mit psychischen Problemen kämpfen, früher erreichen können, und zwar bevor Verzweiflung oder Wut in Gewalt umschlagen. Wir müssen uns fragen, wie wir sicherstellen können, dass Lehrerinnen und Lehrer, Eltern und Mitschüler Warnsignale erkennen und die Betroffenen auch Unterstützung bekommen. Und natürlich müssen wir uns auch die Frage stellen, was wir gesetzlich ändern müssen, nachschärfen müssen, um die Menschen in unserem Land besser schützen zu können.
Diese Fragen zu beantworten, ist unsere Verantwortung, und ich kann Ihnen versichern, dass sich die Bundesregierung dieser Verantwortung bewusst ist und ihr auch nachkommt. Deshalb werden wir bereits diese Woche ein umfassendes Maßnahmenpaket im Ministerrat beschließen. Dieses Paket umfasst einerseits unmittelbare Unterstützungen für die Betroffenen, andererseits auch grundlegende Anpassungen und Verbesserungen im Bereich der Sicherheit, der Prävention, der Jugendhilfe. Konkret werden wir einen Entschädigungsfonds einrichten, der den betroffenen Familien rasch und unbürokratisch helfen soll. Dabei geht es um Begräbniskosten, psychologische Betreuung oder andere dringend notwendige Unterstützungsleistungen. Auch gezielte Maßnahmen an der betroffenen Schule selbst werden aus diesem Fonds finanziert werden, um diesen Ort des Lernens für unsere jungen Menschen und für die Gemeinschaft wieder zu einem sicheren Raum zu machen.
Zudem wird es für die Schülerinnen und Schüler dieser Schule größtmögliche Flexibilität bei der Abwicklung der diesjährigen Matura geben. Wer sich entscheidet, auf die mündliche Prüfung zu verzichten, soll dennoch einen regulären Abschluss erlangen können – ein Zeichen des Verständnisses für die außergewöhnlichen Belastungen, unter denen diese jungen Menschen stehen.
Darüber hinaus werden wir in enger Abstimmung mit den Bildungsdirektionen die Polizeipräsenz vor Schulen erhöhen, zumindest bis zum Ende dieses Schuljahres. Damit soll nicht nur die objektive Sicherheit gewährleistet sein, sondern auch dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Schülerinnen und Schüler, der Lehrkräfte und der Eltern Rechnung getragen werden.
Ein Schwerpunkt dieses Pakets ist die massive Aufstockung der schulpsychologischen Betreuung im gesamten Bundesgebiet. Schulpsychologie muss künftig nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel sein, und sie muss jene erreichen, die sie am dringendsten brauchen. Künftig werden daher auch Beratungsgespräche mit Schulabbrechern durchgeführt werden, um gefährdete Jugendliche rechtzeitig zu erkennen und aufzufangen.
Wir werden zudem die Sicherheits- und Präventionskonzepte an den Schulen deutlich stärken und weiterentwickeln. Jede Schule soll in Zukunft ein praxistaugliches und erprobtes Sicherheitskonzept haben, das regelmäßig evaluiert und angepasst wird.
Ein weiterer ganz wesentlicher Schritt ist die Verschärfung des Waffengesetzes. Der Zugang zu Waffen muss in Österreich noch verantwortungsvoller geregelt werden. Dazu zählen strengere Eignungsvoraussetzungen für den Waffenbesitz sowie Einschränkungen für bestimmte Risikogruppen. Ergänzend wird der Datenaustausch zwischen den zuständigen Behörden verbessert – überall dort, wo eine individuelle Gefährdungslage gegeben ist, müssen künftig automatisch waffenrechtliche Konsequenzen gezogen werden. Gerade bei Jugendlichen mit erkennbarem Risikoprofil wollen wir dieses Monitoring intensivieren und verpflichtende Unterstützungsmaßnahmen verankern. Prävention darf nicht an den Grenzen von Zuständigkeiten oder an fehlenden Informationen scheitern.
Schließlich werden wir uns auch für strengere Regelungen im Umgang von Kindern und Jugendlichen mit sozialen Medien einsetzen, denn wir sehen: Digitale Plattformen sind längst nicht mehr nur Orte der Information oder der Unterhaltung, sie können auch Orte der Radikalisierung und der Verrohung sein. Da braucht es klare Regeln und klare Verantwortung auch seitens der Plattformbetreiber.
Dieses Maßnahmenpaket ist ein erster, entschlossener Schritt. Und klar ist: Nichts, was wir jetzt tun werden, wird die zehn Menschen, die wir letzten Dienstag verloren haben, zurückbringen. Nichts wird das unerträgliche Leid der Familien ungeschehen machen können. Das ist uns schmerzlich bewusst. Aber, meine sehr geehrten Damen und Herren, Österreich hat auch gezeigt, dass es in der Stunde der Not zusammensteht. Die große Welle des Mitgefühls, die Solidarität in den sozialen Medien, die stille Anteilnahme auf den Straßen, all das gibt Hoffnung in dieser dunklen Zeit, gibt Hoffnung darauf, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten, wenn es darauf ankommt, dass wir es gemeinsam schaffen werden, die notwendigen Konsequenzen aus dieser Tragödie zu ziehen, und dass wir unsere Schulen als Orte des Friedens und der Zukunft schützen.
Denn eines muss heute und in Zukunft gelten: Unsere Schulen müssen sichere Orte bleiben, an denen unsere Kinder unbeschwert lernen, wachsen und Freundschaften schließen können, Orte, an denen Neugier und Freude gedeihen und nicht Angst und Gewalt. Wir werden die Aufarbeitung dieser schrecklichen Tat mit aller Sorgfalt und Gründlichkeit durchführen. Und ich kann Ihnen eines versprechen: Wir werden aus dieser Tragödie lernen. Wir werden handeln und wir werden als Gesellschaft zeigen, was unser Land stark macht – Mitmenschlichkeit, Verantwortung und Zusammenhalt.
Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei den Opfern, bei den Hinterbliebenen, bei der Schulgemeinschaft in Graz. Möge die Solidarität unserer gesamten Republik ihnen in diesen dunklen Stunden und in dieser schweren Zeit ein wenig Trost spenden. – Vielen Dank. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen sowie bei Abgeordneten der FPÖ.)
9.27
Präsident Dr. Walter Rosenkranz: Ich danke dem Herrn Bundeskanzler für seine Ausführungen und darf nun dem Herrn Vizekanzler das Wort erteilen.