RN/12
10.10
Abgeordnete Fiona Fiedler, BEd (NEOS): Danke, Herr Präsident! Werte Bundesregierung! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 10. Juni 2025, 10.48 Uhr (die Rednerin ringt um Fassung): Polizeieinsatz nach Amoklauf in Grazer Schule. – Diese Nachricht hat mich als steirische Abgeordnete und als Mutter von zwei Kindern in Graz ins Herz getroffen. Ich habe sofort zum Telefon gegriffen und versucht, meine Söhne zu erreichen. Einer arbeitet in der Nähe der Schule, und der andere wäre eigentlich am Weg in die Stadt gewesen und ist Gott sei Dank zu Hause geblieben und hat das Telefon abgenommen.
Es ist für mich nur schwer und wirklich schmerzhaft nachzuvollziehen, wie es den Eltern gehen muss, die ihre Kinder nicht erreicht haben. Meine Gedanken sind bei all diesen Eltern, Familien und Freunden, die vergeblich darauf warten, dass ihre Tochter, ihr Sohn, ihre Freundin, ihr Freund oder auch ihre Enkelkinder wieder nach Hause kommen.
Zeitgleich aber sehe ich uns hier in Verantwortung, etwas zu verändern, und zwar jetzt, sofort. Ich will nicht darauf warten, dass so etwas noch einmal passiert und wieder Lücken nicht geschlossen wurden. Wir müssen auch endlich psychische Gesundheit mit körperlicher Gesundheit gleichsetzen. So stark die Emotionen derzeit auch sind, wir hier im Hohen Haus dürfen uns nicht von ihnen leiten lassen, sondern wir müssen uns unserer Aufgabe als Politiker:innen bewusst sein, professionell und verantwortungsvoll Lösungen finden und das System neu aufsetzen.
Ich möchte Ihnen Zeilen eines Vaters zuteilwerden lassen, die all das beschreiben, was ich nicht besser hätte in Worte fassen können:
„Sehr geehrte Damen und Herren der Bundesregierung,
ich schreibe Ihnen nicht als Experte, nicht als Funktionsträger, sondern als Vater. Als Mensch. Und als jemand, der tief betroffen ist von dem, was in unserem Land gerade geschehen ist.
Am 10. Juni wurde an der Schule meiner Tochter ein Amoklauf verübt. Zwei Mädchen aus ihrer Klasse wurden getötet. Ihr ehemaliger Klassenvorstand ist tot. Der jetzige wurde angeschossen. Meine Tochter war an diesem Tag krank zu Hause. Es war Zufall. Es war Glück. Aber es hat alles verändert.
Ich schreibe Ihnen nicht, weil ich Schuldige suche. Sondern weil ich die Verantwortung spüre, aufzustehen und zu sagen: Wir müssen hinsehen. Und wir müssen endlich handeln.
Unsere Kinder sind überfordert. Nicht nur durch die digitalen Suchtplattformen, die ihnen täglich hunderte [...] Reize, Ideale und Vergleiche zumuten. Sondern auch durch die Erwartungen einer Gesellschaft, die viel verlangt, aber oft zu wenig Halt gibt. Schule, soziale Medien und gesellschaftlicher Leistungsdruck wirken zusammen – und erzeugen Stress, Angst vor Ausgrenzung und das Gefühl, nie zu genügen. Die Zahl psychischer Erkrankungen bei Kindern steigt seit Jahren.
Was unsere Kinder erleben, sind nicht nur ‚Krisen‘. Es sind Mobbing, Einsamkeit, Identitätsdruck – und Kränkungen, ausgelöst durch alltägliche Demütigungen. Sie werden in Schulen bewertet, verglichen, standardisiert. Wer die Matura nicht schafft, wird gesellschaftlich abgewertet. Wer nicht funktioniert, geht unter.
Gleichzeitig rutschen immer mehr Lehrerinnen und Lehrer in Erschöpfung oder Burnout – rund ein Viertel ist akut betroffen. 60 % der Schulleitungen bestätigen deutlich steigende Langzeitausfälle. Der Lehrermangel verschärft sich, Unterrichtsausfälle häufen sich. Auch viele Familien stehen unter permanentem Druck: Sie sollen ihre Kinder fördern, begleiten, beschützen, motivieren – und das oft inmitten von Existenzsorgen, Zeitnot und struktureller Überforderung. Das System überfordert nicht nur die Kinder, sondern auch die, die sie begleiten sollen.
Viele Schülerinnen und Schüler sehen kaum noch eine positive Perspektive für ihre Zukunft. Sie fühlen sich alleingelassen und ziehen sich in soziale Medien zurück – auf der Suche nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Ablenkung. Doch was sie dort finden, ist oft keine Hilfe, sondern eine Verstärkung ihrer Einsamkeit. So beginnt eine stille Abkehr von unserer Gesellschaft.
Wir können so nicht weitermachen. Wir dürfen nicht warten, bis sich die nächste Tragödie ereignet.
Es reicht nicht, Waffengesetze zu verschärfen oder nur mehr psychologische Hilfe zu finanzieren. Wenn psychologische Hilfe gebraucht wird, ist der Schaden meist schon passiert. Wenn unsere Gesellschaft sicher bleiben soll, brauchen wir tiefgreifende Reformen. Das sind wir unseren Kindern schuldig.
Aber: keine Schuldigen suchen. Und keine Opfer verstecken. Alle elf Toten waren Opfer unseres Systems. Und sie klagen uns an. Weil sie heute noch leben könnten. Wir schulden ihnen mehr als Worte – wir schulden ihnen Veränderung.
Hinter diesen Opfern stehen noch tausende andere, die still und leise aus unserer Mitte verschwanden.
Eine Gesellschaft, die ihre Kinder aussortiert und alleine lässt, verliert nicht nur ihre Zukunft. Sie verliert auch ihr Herz. Und ihre Menschlichkeit. Wer Kinder zu Zahlen macht, darf sich über Kälte, Wut und Verzweiflung nicht wundern.
Ich fordere Sie auf – nicht als Ihr Gegner, sondern als Vater, der glaubt, dass unser Land mehr kann als das:
[...] Machen Sie seelische Bildung zur Pflicht: Kinder sollen lernen, mit Gefühlen, Krisen, Trauer und Konflikten so umzugehen, dass sie sich selbst und anderen nicht schaden – sondern gestärkt daraus hervorgehen können.
[...] Regulieren Sie digitale Plattformen in Bezug auf Kinder und Jugendliche, wie Sie es bei Alkohol und Tabak tun.
[...] Richten Sie echte psychologische Strukturen in Schulen ein: präventiv, niederschwellig und dauerhaft. Sie sollen nicht nur Krisen auffangen, sondern auch das Miteinander stärken – über den Schulalltag hinaus.
[...] Überdenken Sie das Notensystem und die Fixierung auf standardisierte Abschlüsse: Nicht jeder Lebensweg ist linear.
Zeigen Sie unseren Menschen in diesem Land, dass Sie sie ernst nehmen. Nicht durch Worte. Durch Taten.
Ich schreibe Ihnen, weil ich nicht nur für meine Kinder Verantwortung trage. Sondern für alle. Ich glaube: Das ist es, was Gesellschaft bedeutet.“
(Den Dank auch in Gebärdensprache ausführend:) Danke. (Beifall bei NEOS, ÖVP, SPÖ und Grünen.)
10.16
Präsident Dr. Walter Rosenkranz: Nächster Redner: Herr Klubobmann Kogler. Eingemeldete Redezeit: 5 Minuten.