RN/102
15.00
Abgeordnete Leonore Gewessler, BA (Grüne): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Werte Frauen Ministerinnen! Liebe Zuseherinnen und Zuseher! In knapp einer Woche beginnen die sogenannten 16 Tage gegen Gewalt an Frauen: 16 Tage, in denen wir sehr viel über Frauen und die Geschichten von Frauen sprechen werden – und das zurecht. Wir werden über Geschichten von Frauen, ihre Erlebnisse, ihren Schrecken und über Gewalt an Frauen sprechen.
Ich will bereits heute mit Ihnen darüber sprechen, weil Gewalt natürlich nicht nur an 16 Tagen passiert und weil die Realität zeigt, dass zwischen politischen Floskeln und wirksamem Gewaltschutz in Österreich eine viel zu große Lücke klafft. Ich weiß, das werden viele jetzt nicht so gerne hören – weil das eine Wahrheit ist, die unangenehm ist, die weh tut; weil viele lieber die Augen verschließen, die Ohren zuhalten; weil es sich leichter lebt, wenn sie unausgesprochen bleibt.
Es ist aber wichtig, hier die Fakten auf den Tisch zu legen: Jede dritte Frau in Österreich ist von Gewalt betroffen, jeder dritten Frau in Österreich wird Gewalt angetan. Das sind 1,5 Millionen Frauen – 1,5 Millionen Mütter, Töchter, Schwestern, Nachbarinnen, Kolleginnen, Mitmenschen –, eine schier unvorstellbare Zahl, die auch bedeutet, dass jeder und jede in diesem Saal eine Frau im Umfeld hat, der Gewalt angetan wurde. Mir wird ganz schlecht bei diesem Gedanken.
Natürlich kommen mir Situationen in den Kopf, die für viele Frauen schon normal sind, obwohl sie es nicht sein sollten: die junge Frau, die beim Heimweg nach einem Fest ihre Freundin anruft und anschreibt, ob sie wohl sicher nach Hause gekommen ist; die Kollegin, die sich dreimal überlegt, ob sie im Dunkeln noch laufen geht oder ob die Sporthose zu kurz ist, weil ihr schon viel zu oft wer nahegekommen ist, man will ja nichts riskieren; wenn sich Frauen Strategien zurechtlegen, wie sie auskommen, wenn der Mann betrunken heimkommt und das leise ausgesprochene Grenzenziehen nicht mehr hören will – immer mit der Angst, jede Dritte zu sein.
Jede Dritte: Das ist keine Ausnahme, kein Einzelfall, kein Randphänomen. Wenn jede dritte Frau in diesem Land von Gewalt betroffen ist, dann ist das ein Fehler im System, dann heißt es, im System funktioniert was nicht. Deswegen braucht es grundlegende Änderungen, eine Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen – und diese Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen, sehr geehrte Damen und Herren, ist unsere Aufgabe hier in diesem Hohen Haus. Das ist der Auftrag an uns alle. (Beifall bei den Grünen, bei Abgeordneten der SPÖ sowie der Abg. Bogner-Strauß [ÖVP].)
Die Zahlen sind das Maß, aber der Schrecken, die Erlebnisse dieser Frauen sind der Auftrag – der Schrecken von Frauen, die sexuelle Übergriffe ertragen mussten, denen sexuelle Gewalt angetan wurde, von Frauen, die nie jemand nach ihrer Zustimmung gefragt hat, die zu dem, was man ihnen angetan hat, nicht Ja gesagt haben; wie zum Beispiel Gisèle Pelicot, deren unfassbares Grauen uns jahrelang beschäftigt hat, die drei Jahre lang unter schrecklichsten Umständen vergewaltigt wurde und dann einen Prozess durchstehen musste, bei dem auch klar wurde, welche Schwachstellen und Schwierigkeiten der Rechtsstaat diesen Frauen zumutet. Gisèle Pelicot hat dabei unglaublichen Mut bewiesen. Sie wollte nicht Opfer sein, sondern die Täter zur Verantwortung ziehen – und sie hat dabei einen Satz gesagt, der sich mir und vielen von uns eingeprägt hat: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Nicht jene, denen Gewalt angetan wurde, sollen sich schämen, sondern jene, die Verbrechen begehen, sollen sich schämen (Beifall bei Grünen, ÖVP, SPÖ und NEOS) und sie sollen auch zur Verantwortung gezogen werden. Der Kampf, den Gisèle Pelicot geführt hat, war unendlich bedeutsam, weil er offengelegt hat: Wir sind noch lange nicht so weit. Viel zu oft hat die Scham eben noch nicht die Seiten gewechselt und viel zu oft stehen die Betroffenen und nicht die Täter vor Hürden. Genau das ist falsch. Wer diesen Schrecken durchlebt, hat Besseres verdient als die Angst, dass es schlimmer wird, wenn man sich wehrt. (Beifall bei Grünen und SPÖ sowie der Abgeordneten Bogner-Strauß [ÖVP] und Oberhofer [NEOS].)
Gisèle Pelicots Kampf war zum Glück nicht sinnlos. Sie hat auch rechtlich damit Erfolg gehabt. Mittlerweile haben 18 Staaten in der Europäischen Union das Prinzip der Zustimmung ins Zentrum des Sexualstrafrechts gerückt – darunter Spanien, Griechenland, Schweden und Frankreich. In 18 Ländern gilt das Prinzip, dass sexuelle Handlungen nur dann in Ordnung sind, wenn alle die Zustimmung erteilt haben, ihr Einverständnis gegeben haben. Unser Land, Österreich, fehlt noch in der Liste – noch. Ich bin der Meinung, das sollten wir schleunigst ändern (Beifall bei Grünen und SPÖ), denn Zustimmung bedeutet mehr Sicherheit, Zustimmung bedeutet weniger Angst. Ein einfaches Prinzip: Ja heißt Ja und Nein heißt Nein. In vielen anderen Feldern unseres Alltags ist das völlig selbstverständlich und trotzdem fehlt es für sexuelle Handlungen im Gesetz – mit gravierenden Auswirkungen. Nicht erst dieser Fall hätte beweisen müssen, dass es sie gibt. Hoffentlich deshalb hat auch Ministerin Sporrer – ich freue mich, dass Sie hier heute auch dabei sind – eine Änderung angekündigt. Ministerin Sporrer hat angekündigt, eine Änderung vornehmen zu wollen. Das habe ich begrüßt; das möchte ich auch ausdrücklich sagen. Ich habe mich über diese Ankündigung sehr gefreut, weil ich weiß: Große Änderungen sind nicht einfach.
Leider zeigt sich aber einmal mehr: Es bleibt offenbar bei der Ankündigung, denn von der Umsetzung fehlt bisher jede Spur. Vom Ankündigen allein ändert sich aber nichts, und genau deshalb bringen wir heute diesen Dringlichen Antrag ein – als Gelegenheit, dass wir in Österreich, dass wir alle hier im Hohen Haus uns im Vorfeld der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen zu dieser Schutzmaßnahme bekennen, dass dieses Hohe Haus sagt: Ja, wir verankern das Zustimmungsprinzip, wir nehmen Gewalt und ihre Folgen ernst und wir tun etwas dagegen. (Beifall bei den Grünen.)
Genau aus diesem Grund bitte ich Sie alle ausdrücklich um Ihre Zustimmung. Ich bitte Sie, zu Ja heißt Ja nicht Nein zu sagen. Liebe Zuseherinnen und Zuseher, wenn auch Sie dieses Anliegen unterstützen, dann bitte ich Sie, unsere Petition auf gruene.at zu unterschreiben.
Allein damit ist es aber nicht getan. Wenn Sie das jetzt einwenden, werde ich sagen: völlig zurecht. Allein damit ist es nicht getan. Der Kampf gegen Gewalt an Frauen hat viele Facetten. Da geht es um sexuelle Übergriffe, aber es geht genauso um andere Formen von Gewalt. Es geht um Rahmenbedingungen, die es erleichtern oder eben erschweren, dass man sich wehrt. Es geht nicht nur um Gisèle Pelicot. Es geht zum Beispiel auch um Lea und ihr Leben. Stellen wir uns Lea einmal vor: 34, sie hat vor einem Jahr ein Kind bekommen. Sie ist unglücklich in ihrer Ehe. Ihr Partner behandelt sie schlecht. Lea möchte wieder arbeiten, um unabhängig zu sein, aber niemand ist da, um auf ihr Kind aufzupassen; und der Kindergarten im Ort hat keinen Platz mehr, weil das Kind halt schon noch sehr klein ist, wie oft betont wird. Lea weiß aber: Mit ein paar Stunden Teilzeit wird es mit der Unabhängigkeit nichts. Mit ein paar Stunden Teilzeit wird es schwierig, weil: ohne Arbeit keine eigene Wohnung, ohne eigene Wohnung keine Unabhängigkeit, und zwar ganz egal, wie unglücklich sie in ihrer Beziehung ist. Auch diesbezüglich tut diese Bundesregierung wenig und auch diesbezüglich haben wir in diesem Antrag Maßnahmen vorgesehen.
Schutz und Gleichberechtigung bedeutet auch Entscheidungsfreiheit, Entscheidungsfreiheit etwa für Mira: Mira, 19 Jahre alt, ungewollt schwanger. Sie weiß, sie will diese Schwangerschaft abbrechen, sie hat andere Pläne, sie hat andere Wünsche. Sie geht ohnehin schon mit einem extrem mulmigen Gefühl zur Praxis. Sie hat Angst, dass sie gesehen wird, dass man sie verurteilen könnte; und unmittelbar vor dieser Praxis wird sie bedrängt, beschimpft und eingeschüchtert. Trotzdem greift die Polizei nicht ein, weil es keine gesetzlichen Regeln gibt, um sie zu schützen. Genau das ist derzeit in Österreich Realität. 40 Tage lang fanden solche Aktionen vor Ambulatorien statt. Diese Regierung lässt auch Frauen wie Mira allein. (Beifall bei den Grünen.)
Ja, das sind unterschiedliche Facetten, aber Gewalt an Frauen hat eben unterschiedliche Facetten und sie hängen zusammen. Damit hat auch Gewaltschutz viele Facetten, und mit Klein-Klein und Ankündigungen allein ist es nicht getan. Wir brauchen eine echte Reform. Das ist der Auftrag aus dem Schrecken, den viele Frauen tagtäglich erleben müssen, ein Auftrag, den wir erfüllen sollten – und zwar nicht nur, weil jetzt die 16 Tage beginnen.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 14 Frauenleben wurden heuer schon ausgelöscht – 14 Frauen von Männern getötet, 14 Familien, deren Leben nie mehr dasselbe sein wird. Jede Frau hat eine eigene Geschichte, aber Gewalt gegen Frauen ist kein individuelles Phänomen – sie ist strukturell, sie ist gesellschaftlich, sie ist politisch, sie verschwindet nicht durch Hoffen, sondern durch klare Gesetze, durch ausreichende Finanzierung und konsequente Umsetzung. (Beifall bei den Grünen.)
Genau dorthin wollen wir mit diesem Dringlichen Antrag schauen, und genau da wollen wir Verbesserungen erreichen: Erstens verankern wir Ja heißt Ja im Strafrecht. Österreich hat eine der niedrigsten Verurteilungsraten bei sexueller Gewalt in Europa, auch, weil die Opfer beweisen müssen, dass sie sich eh genug gewehrt haben. Es ist Zeit für ein modernes Sexualstrafrecht, das auf Konsens basiert.
Zweitens stärken wir die ökonomische Unabhängigkeit von Frauen. Wir wissen: Frauen, die finanziell abhängig sind, bleiben eher in Gewaltbeziehungen. Nur, wer genug Geld hat, kann über sein Leben selbstbestimmt bestimmen.
Drittens geben wir Frauen die Entscheidungsfreiheit und respektieren sie auch. Schützen wir sie vor jenen, die sie ihnen absprechen. Jede Frau hat das Recht, ohne Angst zu Ärztinnen und Ärzten, Gynäkologinnen und Gynäkologen und Ambulatorien gehen zu können. (Beifall bei den Grünen.)
Leere Worte, verschobene Gesetze oder eingefrorene Budgets nehmen Frauen nicht die Angst – sie verstärken sie. Heute haben Sie, liebe Abgeordnete der Regierungsfraktionen, die Gelegenheit, zu zeigen, dass es Ihnen ernst ist. Stimmen Sie unserem Antrag zu. Jede Frau hat ein Recht auf ein Leben ohne Angst, ein Recht auf Schutz, ein Recht auf Selbstbestimmung – nicht irgendwann, nicht in ein paar Monaten, sondern jetzt. Stimmen Sie für diesen Antrag, stimmen Sie für den Schutz von Frauen und nicht dagegen. – Herzlichen Dank. (Beifall bei den Grünen.)
15.12
Präsident Dr. Walter Rosenkranz: Zur Abgabe einer Stellungnahme hat sich Frau Bundesministerin Holzleitner, die ich ebenso wie Frau Bundesministerin Sporrer und Herrn Staatssekretär Leichtfried in unserer Mitte begrüße, zu Wort gemeldet. – Bitte, Frau Bundesminister.
Die angezeigte Rede ist noch nicht nach § 52 Abs. 2 GOG-NR autorisiert.