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Bundesminister für europäische und internationale Angelegenheiten, betraut mit dem Vorsitz in der einstweiligen Bundesregierung und der Fortführung der Verwaltung im Bundeskanzleramt Mag. Alexander Schallenberg, LL.M.: Sehr geehrter Herr Präsident! Hohes Haus! Sehr geehrte Damen und Herren zu Hause vor den Bildschirmen, aber auch hier auf der Galerie! Es ist schön zu sehen, dass so viele Menschen ins Parlament kommen und das Parlament weiterhin so viel Interesse erweckt. Hier wird unsere Demokratie gelebt.
Herr Präsident, erlauben Sie mir, dass ich gleich zu Beginn sage: Ihre Worte haben mich bewegt; ich finde es schön, dass man Emotionen zulassen kann. Oft hat man das Gefühl, das darf man in diesem Raum nicht, aber ich glaube, es ist wichtig und notwendig.
Leider gibt es nicht nur einen Alexander, es gibt viele. Es gibt sie nicht nur in Österreich, sondern weltweit: im Sudan, in der Ukraine, in Myanmar, in Haiti. Wir müssen uns für jeden einzelnen von ihnen einsetzen – gemeinsam. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen.)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, am vergangenen Montag haben wir einen sehr traurigen Jahrestag begangen – wir alle hatten gehofft, dass es nicht dazu kommen würde –: drei Jahre Krieg in der Ukraine, drei Jahre wieder Krieg auf unserem Kontinent. Seit mittlerweile knapp 1 100 Tagen hagelt es russische Raketen und Drohnen auf ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten. Letztes Wochenende haben wir den größten, massivsten Angriff mitverfolgen können. Es gibt Zehntausende Tote, Millionen Vertriebene, die in Europa – auch bei uns in Österreich – Zuflucht gefunden haben. Ganze Generationen wurden traumatisiert und wir alle wurden Zeugen von einem zynischen Missbrauch von Nahrung und Energie als Waffe, von aggressiven Desinformationskampagnen, von immer wieder aufflammenden mehr oder weniger ausdrücklichen nuklearen Erpressungen.
Und dafür trägt ein Mann die Verantwortung: Präsident Wladimir Putin. Er hat diesen imperialistischen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen. Er hat in brutaler Art und Weise gegen alle Grundprinzipien der UNO-Charta verstoßen. Er tritt das Völkerrecht jeden Tag mit Füßen. Meine Damen und Herren, daran dürfen wir in Österreich uns nie gewöhnen. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen.)
Er hat es in der Hand, den Krieg zu beenden. Er könnte ihn heute beenden, indem er einfach die Kampfhandlungen einstellt und seine Truppen zurückzieht.
Seit drei Jahren verteidigt das ukrainische Volk mit enormem Mut seine eigene Zukunft und seine eigene Souveränität. Oft wird gesagt, das ukrainische Volk kämpft dabei nicht nur für sich selber, sondern es kämpft auch für unsere gemeinsamen Werte und Freiheiten. Diese Stellungnahme stimmt, das ist zutreffend. Denn wenn wir – gerade auch als Österreich – es einfach zulassen, dass ein Staat, aus welchem Grund auch immer, einen anderen überfällt, seine Infrastruktur zerstört, seine Zivilbevölkerung ermordet, dann unterminieren wir genau das, was uns hier in Österreich sicher hält. Unsere österreichische Sicherheit hängt davon ab, dass Völkerrecht respektiert wird, dass Verträge eingehalten werden, egal, ob man groß ist oder klein, egal, ob man Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist oder nicht, egal, ob man Atomwaffen hat oder nicht. Die regelbasierte internationale Ordnung ist unser Schutzschild, deshalb muss Österreich immer wissen, wo es bei so einem Konflikt stehen muss: auf der Seite des Rechts und nicht auf der Seite des vermeintlich Starken. (Beifall bei ÖVP, NEOS und Grünen sowie bei Abgeordneten der SPÖ.)
Erlauben Sie den Zusatz: Wer hier in diesem Zusammenhang von Neutralität faselt, hat offenbar das Wort nicht verstanden und fährt Schlitten mit unserer nationalen Sicherheit. (Beifall bei ÖVP, NEOS und Grünen sowie bei Abgeordneten der SPÖ. – Abg. Kogler [Grüne]: Bravo!)
Allen Unkenrufen zum Trotz haben wir als Europäische Union von Anbeginn stark und geeint auf die russische Aggression reagiert. Welcher Leitartikler, welcher Kommentator, welcher Thinktanker hätte am Tag des russischen Angriffs, am 23. Februar 2022, auch nur damit gerechnet oder einen Pfifferling darauf gegeben, dass die Europäische Union, alle 27, so geeint stehen würde? Wir haben diesen Montag das 16. Sanktionspaket mit der Stimme Ungarns und mit der Stimme der Slowakei verabschiedet – also seien wir ein bisschen selbstsicherer! (Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der NEOS.)
Und ja, meine Damen und Herren, jeder hier im Raum weiß, dass dieser Krieg – so wie jeder Krieg vor ihm – am Verhandlungstisch ein Ende finden wird. Dabei gilt – wir haben es vorhin schon gehört – eine ganz klare Prämisse: keine Verhandlungen über die Ukraine ohne die Ukraine, keine Verhandlungen über die europäische Sicherheit, ohne dass alle Betroffenen – das heißt auch wir – am Tisch sitzen.
Ich weiß, dass derzeit große Unsicherheit herrscht. Man hat den Eindruck, dass aus dem Weißen Haus jeden Tag neue Ankündigungen kommen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass der amerikanische Präsident Trump jeden Tag einen Stein in den Teich wirft und schaut, wie die Wellen schlagen und was sie bewirken. Was machen wir Europäer? – Wir verfallen bei jedem Tweet, bei jeder Stellungnahme in Schnappatmung, wir ergehen uns in moralischer Entrüstung. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die zwei wichtigsten Disziplinen in Europa Lamentieren und Moralisieren sind. (Beifall bei ÖVP und NEOS.)
Dabei übersehen wir als Europäer, dass wir eigentlich ein Vielfaches der Vereinigten Staaten an Unterstützung für die Ukraine leisten, wir nehmen es nur nicht wahr. Wir als Europäer übersehen auch, dass wir in Wirklichkeit Hebel haben. Es wird keine Friedensverhandlungen ohne uns geben. Warum? – Weil über 200 Milliarden russisches Vermögen auf europäischen Konten liegt. Es wird keinen Deal geben mit der Russischen Föderation, ohne dass über diese in Europa liegenden Vermögenswerte geredet werden wird. Das müssen wir wahrnehmen: Wir sind nicht schwach, wir geben nur derzeit ein Bild der Schwäche ab, und das sollten wir einstellen. (Beifall bei ÖVP und NEOS sowie bei Abgeordneten von SPÖ und Grünen.)
Und ja, sehr geehrte Damen und Herren, wir müssen uns davor hüten, kurzfristige Ziele zulasten einer langfristigen Stabilität zu verfolgen, denn ein Angriffskrieg darf niemals honoriert werden. Ja, die Welt beobachtet uns ganz genau; nicht nur uns hier in Europa, sondern auch die Vereinigten Staaten. Die Autokraten auf dieser Welt, die vielleicht auch noch Appetit auf einen benachbarten Staat oder eine gewisse Region haben, werden ganz genau registrieren, wie der Westen jetzt verfährt und wie er vorgeht. Auch Donald Trump wird sich früher oder später dieser Präzedenzwirkung bewusst sein.
Ja, wir brauchen eine enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten. Wir brauchen eine aktive Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten, aber wir sollten uns nicht fürchten. Wir sollten uns unserer Stärken bewusst sein. Wir alle wollen eine nachhaltige, gerechte Lösung, die einen nachhaltigen Frieden sichert; aber diese Lösung wird nicht wie Jalta 1945 geschaffen werden können. Das muss uns auch allen klar sein.
Also bewahren wir ein bisschen kühlen Kopf und Augenmaß, auch wenn das in der Emotionalität manchmal schwerfällt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, erlauben Sie mir vielleicht zum Abschluss ein paar persönliche Worte. Wie Sie wissen, habe ich vergangene Woche bekannt gegeben, dass ich der kommenden Regierung nicht mehr angehören werde. Nach fast sechs sehr intensiven Jahren in Regierungsverantwortung auf den verschiedensten Posten – ich habe ja vor knapp einem Monat eine Regierungserklärung als Bundeskanzler hier abgegeben – ist der Beschluss in mir gereift, mich neuen Ufern zuzuwenden. Politik ist in meinem Verständnis kein Job auf Lebzeiten, wo man auf das Pensionsalter hinarbeitet. (Heiterkeit und Beifall bei der ÖVP und bei Abgeordneten der NEOS.) – Einige lachen jetzt da. (Heiterkeit des Redners.)
Dessen ungeachtet habe ich die mir gestellten Aufgaben in dieser Republik immer mit Herzblut und nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen versucht. Ja, Außenminister zu sein war für mich gewissermaßen auch ein Traumjob. Wie aber schon Heraklit uns lehrte: Panta rhei – man steigt nie zweimal in denselben Fluss. (Ruf: Na ja!)
Habe ich fehlerfrei agiert? – Sicher nicht. Kein Mensch ist fehlerfrei. Ich habe aber immer versucht, in der jeweiligen Situation nach bestem Wissen und Gewissen mit dem mir zur Verfügung stehenden Wissensstand Entscheidungen zu treffen. Im Nachhinein klüger zu sein ist ja kein Kunststück, das kann jeder; aber Politik ist ja nach Max Weber nicht nur das Bohren harter Bretter, sondern in Wirklichkeit der tägliche Entscheidungsdrang mit einem kleinen Prozentpunkt an Wissen. Wir haben als Politiker nicht den Luxus, abzuwarten, bis eine internationale Krise sich entfaltet, bis eine nationale wirtschaftspolitische Entwicklung sich entfaltet, bis die Pandemie abgeschlossen ist, um dann zu wissen, was zu tun ist. Wir müssen immer ex ante agieren.
Aber ich weiß auch, dass ich mich bei jeder dieser sehr schwierigen Entscheidungen jeden Tag in all diesen Jahren auf eine ganz tolle Beamtenschaft verlassen konnte, sowohl im Außenministerium als auch im Bundeskanzleramt. Es sind die beeindruckenden Leistungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dafür sorgen, dass diese Maschinerie in Österreich funktioniert, dass öffentliche Dienstleistungen erbracht werden, dass wir Bürger uns darauf auch verlassen können. Und ich bin stolz und dankbar, mit solchen Menschen zusammengearbeitet zu haben. – Danke dafür! (Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen. – Zwischenruf der Abg. Erasim [SPÖ].)
Und zuletzt darf ich den Kollegen – gewissermaßen den Kollegen und auch den zukünftigen Kollegen in der Bundesregierung, einige davon sind Freunde geworden – viel Glück und Erfolg wünschen. Möge ihnen der Humor und die Selbstironie nie verloren gehen.
Erlauben Sie mir, an dieser Stelle auch eine Lanze zu brechen – eine Lanze zu brechen für die Menschen, die sich diese Aufgabe antun. Man kann sich das als Außenstehender oft gar nicht vorstellen, was so ein öffentliches Amt bedeutet, und zwar nicht nur für einen selber, das ist ja noch okay, sondern für das Umfeld, für die Familie, für die Kinder, die oft den Anwürfen auch in den sozialen Medien völlig ungeschützt ausgeliefert sind, während wir in der Regierungsverantwortung noch sozusagen ein Glacis an Mitarbeitern, Kabinetten um uns herum haben. Daher, als Bundeskanzler, als langjähriger Minister, aber vor allem als Staatsbürger danke ich jedem Einzelnen, jeder Einzelnen, die bereit sind, dieses Amt zu übernehmen. Ihnen gebührt unser Respekt und unser Dank. (Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen.)
Für die Menschen in Österreich zu arbeiten und Verantwortung zu tragen, war für mich eine der größten Ehren meines Lebens. Ich bin unglaublich dankbar für diese Zeit, die ich im Dienste der Republik verbringen durfte. Und ich sage eines: Ich verlasse das Spielfeld, aber ich ziehe das rot-weiß-rote Trikot nicht aus. – Ich danke Ihnen. (Lang anhaltender, stehend dargebrachter Beifall bei ÖVP, SPÖ, NEOS und Grünen. – Die Abgeordneten Wöginger [ÖVP], Babler [SPÖ], Meinl-Reisinger [NEOS] und Kogler [Grüne] begeben sich zu Bundesminister Schallenberg und schütteln ihm die Hand. – Ruf bei der FPÖ: Danke für die Impfpflicht!)
9.34
Präsident Dr. Walter Rosenkranz: Herr Bundeskanzler! Herr Bundesminister! Danke für Ihre Ausführungen. An dieser Stelle von meinem Mikrofon aus auch den Dank der Republik für Ihre Dienste.
Sie haben gemeint: Panta rhei. Ich wünsche Ihnen jedenfalls bei dem, was Sie vorhaben, alles Gute auf Ihrem Lebensweg – ich werde vielleicht auch persönlich dann noch auf Sie zukommen. Aber verlassen Sie sich nicht ganz darauf, wir haben noch keine neue Bundesregierung (Heiterkeit des Bundesministers Schallenberg), und wer weiß, vielleicht ist es in irgendeiner Zeit notwendig, eine Expertenregierung durch den Bundespräsidenten zu ernennen, und ich bin durchaus überzeugt davon, dass Sie da auch einer wären, der wieder in die Ziehung kommen könnte, so wie bei den letzten Malen – Panta rhei. Für Sie persönlich jedenfalls alles Gute! Danke schön. (Beifall bei der ÖVP.)
Als Nächste zu Wort gemeldet ist Frau Abgeordnete Fürst.
Ich mache darauf aufmerksam, dass die Redezeit aller weiteren Teilnehmer an der Aktuellen Stunde laut § 97a Abs. 6 der Geschäftsordnung 5 Minuten nicht übersteigen darf.