Marie-Theres Arnbom (Moderation, Historikerin, Autorin und Kulturmanagerin): Herzlich willkommen, liebes Publikum, liebe Freunde und Freundinnen von Philippe Sands! Viele vertraute Gesichter sehen wir hier. Wir freuen uns, dass Sie zu dieser Veranstaltung „Literatur am Ring“ – von der Parlamentsbibliothek organisiert – gekommen sind. Ich heiße Marie-Theres Arnbom, ich darf Sie ein bisschen durch diesen Nachmittag und Frühabend führen.
Ich möchte natürlich ein paar Worte sagen: Erstens möchte ich mich bei Parlamentsdirektor Harald Dossi, der zwar leider nicht da sein kann, aber Gott sei Dank seine Vizeparlamentsdirektorin, Frau Susanne Janistyn-Novák, schicken konnte, sehr für die Einladung bedanken. Wir freuen uns sehr, dass Sie da sind und mit uns diese Buchpräsentation beginnen.
Ich freue mich auch sehr, dass wir natürlich den Protagonisten des heutigen Abends begrüßen, Philippe Sands. Ich glaube, ich muss ihn nicht vorstellen: Autor, Jurist, Professor – ich weiß gar nicht, wie viele Funktionen ich noch aufzählen kann; ich zähle sie auch gar nicht auf. – Philippe, wir sind froh, dass du da bist, herzlich willkommen! (Beifall.)
Wir freuen uns sehr, dass Staatssekretärin außer Dienst und Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments außer Dienst Ulrike Lunacek heute bei uns ist – danke fürs Kommen! (Beifall.)
Und wir freuen uns natürlich sehr, alle anwesenden aktiven und auch ehemaligen Abgeordneten zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrates zu begrüßen. – Danke, dass Sie hier sind und diese Veranstaltung Ihres Hauses mittragen, es ist uns eine große Freude! (Beifall.)
Last, but not least begrüße ich Sie alle, liebes Publikum, hier und auch online. Es gibt ja auch einen Livestream, den man dann nachsehen kann. Wir müssen ein bisschen aufpassen, was wir sagen, es wird für die Nachwelt aufgezeichnet, also wir haben keine Chance, irgendwelche Fehler zu vertuschen.
Wir freuen uns, dass Sie hier sind, danke fürs Zuschauen! Ich wünsche Ihnen jetzt einen anregenden und spannenden Nachmittag. – Danke. (Beifall.)
Susanne Janistyn-Novák (Parlamentsvizedirektorin): Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich willkommen im Parlament! Willkommen zu einem spannenden Abend, an dem das neueste Buch von Philippe Sands, „Die Verschwundenen von Londres 38 / Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“, präsentiert werden wird. Mit dieser Präsentation startet die Parlamentsbibliothek die Veranstaltungsreihe „Literatur am Ring“ im heurigen Jahr.
Erlauben Sie mir ein paar Worte, mit denen ich den Bestsellerautor und bekannten Menschenrechtsanwalt Philippe Sands und seine Wiener Wurzeln vorstelle: Sein Großvater Leon Buchholz, geboren in Lemberg/Lwiw, lebte in Wien und musste 1938 nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich vor den Nationalsozialisten nach Frankreich flüchten. Der Geschichte des Großvaters widmet sich Philippe Sands unter anderem in seinem Buch „Rückkehr nach Lemberg / Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine persönliche Geschichte“, die 2018 erschienen ist.
Auch sein nächstes Buch hat einen starken Österreichbezug: In „Die Rattenlinie / ein Nazi auf der Flucht / Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit“ aus dem Jahr 2020 begibt sich Philippe Sands auf die Spuren des hochrangigen Nationalsozialisten und SS-Verbrechers Otto Wächter und der sogenannten Rattenlinie, also jener Fluchtroute über Südtirol nach Rom, über die viele Nationalsozialisten, häufig mit tatkräftiger Unterstützung des österreichischen Bischofs Alois Hudal, nach Südamerika gelangen konnten. In einigen Ländern Südamerikas treffen damit die vor der NS-Diktatur geflohenen Opfer auf die Täter; sie leben dort quasi Tür an Tür in einer neuen Heimat. Bei seinen Recherchen stößt Philippe Sands auch auf den Namen Walther Rauff, einen Kriegsverbrecher, der während des Feldzugs gegen die Sowjetunion wesentlich am Völkermord im Osten beteiligt war, ebenso an der Entwicklung von Gaswägen zur Ermordung von Juden, Roma, Sinti und KZ-Häftlingen.
Diese Recherchen bilden auch die Grundlage für das Buch „Die Verschwundenen von Londres 38 / Über Pinochet in England und einen Nazi in Patagonien“. Philippe Sands erzählt darin die Geschichte des SS-Offiziers und Massenmörders Walther Rauff, der 1949 nach Chile flüchten konnte. Dort steht er ab 1973 im Dienst der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Im Keller des Hauses an der namensgebenden Adresse Londres 38 foltern und morden die Mitarbeiter und Handlanger des chilenischen Geheimdienstes. Dort verschwinden politische Gegner des Regimes, verschwinden Oppositionelle, verschwinden Unbequeme, verschwinden Menschen und ihre Rechte. Die Verschwundenen – die Desaparecidos, wie sie im Spanischen genannt werden – sind Opfer einer der brutalsten Militärdiktaturen in Südamerika in den 1970er-Jahren. Das Schicksal vieler während der Pinochet-Diktatur verschwundenen Männer und Frauen ist bis heute nicht restlos geklärt.
Philippe Sands erzählt von seiner Recherche über die Verschwundenen und seiner Suche nach Beweisen für Pinochets und Rauffs Verantwortung für Mord und Folter. Damit hat er einen wesentlichen Anteil daran, dass die Auslöschung der Erinnerung an die Opfer dieser Militärdiktatur nicht gelingen kann und nicht gelingen wird. Im Jahr 1998 wird Pinochet in London verhaftet, und Philippe Sands ist an den Geschehnissen unmittelbar beteiligt – wie genau, das wird im Laufe des heutigen Abends zur Sprache kommen. Dass Pinochet überhaupt verhaftet werden konnte sowie die damit verbundene Frage nach Verantwortung und Immunität von Staatsoberhäuptern im Ausland waren Sensation und juristisches Neuland zugleich. Allerdings konnte Pinochet krankheitsbedingt bis zu seinem Tod nicht vor einem Gericht zur Verantwortung gezogen werden.
Die Rekonstruktion der Vorgänge in Großbritannien bildet den zweiten Erzählstrang, den Philippe Sands in seinem Buch entwirft. Sands schreibt damit eine Doppelgeschichte über Massenmord und Folter und über die Möglichkeiten und Grenzen des Rechts, die zwei brutale Diktaturen und mehrere Jahrzehnte überspannt und verbindet. Er spricht mit Hinterbliebenen, mit Involvierten, mit Zeitzeug:innen; zugleich gibt er aus erster Hand Einblick in ein internationales Strafverfahren von historischer Bedeutung und Dimension.
Ich darf mich abschließend ganz herzlich bei Marie-Theres Arnbom für die Kuratierung des heutigen Gesprächs und für die Moderation bedanken. Mein besonderer Dank gilt unserem heutigen Gast Prof. Philippe Sands, der uns interessante und auf jeden Fall erhellende Einblicke in sein Werk und dessen Zustandekommen geben wird.
Für die weitere Einführung darf ich wiederum an Marie-Theres Arnbom übergeben. (Beifall.)
Marie-Theres Arnbom: Wir werden jetzt auf Englisch switchen, deswegen hat auch, wer möchte, ein kleines Horcherl bekommen. Danke den beiden Dolmetscherinnen hinten, danke auch den Gebärdensprachendolmetschern, die hier großartige Arbeit leisten, natürlich auch für unseren Livestream!
Wir beginnen aber damit: Wieso sitzen ausgerechnet wir beide gerade hier, wie haben wir uns kennengelernt? Möchten Sie beginnen? Ist es Ihnen lieber, dass ich beginne und erzähle, wie wir uns kennengelernt haben?
Philippe Sands (Autor) (in deutscher Simultandolmetschung): Bevor wir irgendetwas sagen, möchte ich vielleicht kurz den Personen im Parlament, Ihnen, liebe Marie-Theres, meinen Dank aussprechen. Sie wissen ja, dass dieser Besuch im österreichischen Parlament für mich etwas sehr Bewegendes und Berührendes und etwas sehr Bedeutsames ist. Sie wissen vielleicht, dass ich die österreichisch-ungarische Monarchie noch in meiner DNA und in meinem Blut trage: Meine Mutter wurde im Juli 1938 hier geboren, was für eine Jüdin nicht das ideale Geburtsdatum in Wien war. Sie wurde aber von Elsie Tilney gerettet, von einer wunderbaren Frau, einer evangelischen Missionarin, die am Westbahnhof meine einjährige Mutter in Empfang nahm und sie nach Frankreich retten konnte.
Der heutige Tag ist aus einem anderen Grund ein sehr wichtiger Tag: Heute ist der Geburtstag meines geliebten Großvaters, und ich darf an diesem Tag – an dem noch dazu gerade in Lemberg etwas sehr Wichtiges angekündigt wurde, nämlich dass ein Sondergerichtshof für das Verbrechen der Aggression aus der Taufe gehoben wird, und das ist für mich ein umso bedeutungsvollerer Tag – bei Ihnen sein, daher: Vielen, vielen Dank, dass ich bei Ihnen sein darf, danke, dass Sie hierhergekommen sind – ich freue mich darüber. (Beifall.)
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Philippe Sands sollte heute in Lemberg sein, ist aber doch lieber zu uns gekommen – vielen Dank dafür!
Wie haben wir uns kennengelernt? Ganz kurz: Ich habe die „Rattenlinie“, dieses Buch, 2020 zu Weihnachten geschenkt bekommen, habe es gelesen und bin dabei draufgekommen, dass Otto Wächter damals sämtliche Staatsbeamten entlassen hat. Da bin ich auf den Namen meines Urgroßvaters gestoßen. Ich hatte natürlich noch dieses Dokument, habe es dann eingescannt und habe am 26. Dezember Philippe Sands gegoogelt, ihm dann dieses eingescannte Dokument mit der Unterschrift geschickt und gefragt, ob das die Unterschrift von Otto Wächter war – was er bejahte. So haben wir uns also kennengelernt und sind in Kontakt gekommen, und wir sind in Kontakt geblieben. Das ist eine sehr lange Geschichte, die wir jetzt nicht ausbreiten.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Aber das Beste von unserer Geschichte haben Sie ausgelassen: Der 26. Dezember ist in England ja der sogenannte Boxing Day, ein Feiertag, das heißt, da bekommt man normalerweise keine E-Mails. Meine Frau ärgert sich, wenn ich an Feiertagen meine E-Mails checke, aber ich habe das still und heimlich doch gemacht, und dabei habe ich eben von dieser mir völlig unbekannten Frau eine E-Mail bekommen, die mir diese Geschichte von ihrem Urgroßvater Robert Winterstein erzählt hat, der in den 1930er-Jahren im Justizministerium in Österreich gearbeitet hat, am heutigen Landesgericht, und er hat dort auch mit Martina Schweitzer zusammengearbeitet.
Aber was Marie-Theres in diesem ganz speziellen E-Mail, das sie mir geschickt hat, nicht erzählt hat, ist: Nicht nur möchte ich Ihnen schreiben, um die Geschichte meines Urgroßvaters zu erzählen und Ihnen zu sagen, wie sehr Ihre Bücher dabei hilfreich sind, unsere Familiengeschichte aufzuarbeiten und auch, wie er aus dem Staatsdienst entlassen wurde und nach Buchenwald deportiert wurde und dort verstarb – auch das muss erwähnt werden –, sondern ich lebe noch dazu noch im Haus meines Urgroßvaters hier in Wien, und meine unmittelbare Nachbarin schon seit vielen Jahren, eine gute Freundin von mir, ist die Urenkelin von Otto Wächter.
Das war für mich ein unglaublicher Zufall, wie es so viele davon im Leben gibt, und umso mehr habe ich mich gefreut, dass Sie mir damals geschrieben haben. – Vielen Dank. (Beifall.)
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Jetzt aber tatsächlich zum Buch, denn jedes Ihrer Bücher ergibt sich aus dem jeweils davor geschriebenen Buch. Sie haben auch schon 20 Ideen für ein neues Buch, da geht es Ihnen ganz ähnlich wie mir. Wir haben jetzt ein bisschen etwas über den Inhalt gehört, und nun möchte ich Sie fragen, warum Augusto Pinochet und Walther Rauff Sie interessierten. Dabei möchte ich Sie bitten, einen kleinen Teil vorzulesen.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Ja, das werde ich gerne vorlesen. Aber kurz noch zur Einbettung: Als ich das Buch 2010 in Angriff genommen habe, habe ich im April 2010 eine Einladung an die Universität Lemberg erhalten, über die Fälle, in die ich involviert war, vorzutragen – also bei denen ich an internationalen Strafgerichtshöfen mit Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und so weiter zu tun hatte. Ich habe Lwiw zunächst einmal googeln müssen, habe gesehen, Lemberg ist Lviv, ist Lwiw, Leopolis, je nachdem. Ja, von Lemberg hatte ich schon gehört: Lemberg war doch der Geburtsort meines Großvaters. Das hat mein Interesse geweckt und ich habe zugestimmt, diesen Vortrag zu halten – nicht weil ich unbedingt vortragen wollte, sondern weil ich dort das Geburtshaus meines Großvaters suchen wollte. Warum? – Weil ich hoffte, dass mir das mehr über die Identität meines Großvaters verraten würde – mein Großvater selbst erwähnte Lemberg nie und sprach so gut wie nie über Wien, es war zu schmerzhaft, darüber zu reden. Ich erhoffte mir davon, mehr über mich und meine eigenen Wurzeln zu erfahren.
Ich habe dabei mehr zufällig herausgefunden, dass in Lemberg auch Hersch Lauterpacht und Raphael Lemkin tätig waren. Diese zwei rechtlichen Begriffe – Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid – gehen als Straftatbestände genau auf diese Universität Lemberg oder Lwiw zurück, an der die beiden Rechtsstudenten waren. Das hat mich dann interessiert. Ich habe also über Lauterpacht, Lemkin und meinen Großvater Leon Buchholz geschrieben und habe auch Hans Frank, den Hitler-Anwalt, in dieses Buch mit aufgenommen, und dieser Frank wurde dann in der Nazizeit Generalgouverneur. Dieses Buch wurde 2016 veröffentlicht.
Als ich dieses Buch schrieb, habe ich mich mit dem Sohn von Hans Frank, mit Niklas Frank, getroffen und habe mit ihm eine gute, wenn auch komplizierte Beziehung begonnen. Er ist ein sehr distinguierter Journalist, und wir sind ziemlich eng geworden. Er sagte einmal zu mir: Sie interessieren sich doch für Lemberg, würden Sie vielleicht den Sohn des Gouverneurs von Lemberg, Horst Wächter, kennenlernen wollen? Ja, das hat mich interessiert. Er war mit diesem Horst in Kontakt, Horst hat zugestimmt, mich zu treffen, und eines hat dann das andere ergeben. Horst hat mir dann Zugang zum privaten Familienarchiv seiner Eltern Otto und Charlotte gegeben, und das wurde für mich dann der Ausgangspunkt für das Schreiben des Buches „Die Rattenlinie“.
In diesem 10 000 Stücke starken Archiv habe ich einen dreiseitigen Brief gefunden, verfasst von Walther Rauff, von dem ich vage schon einmal etwas gehört hatte, aber das wusste ich damals gar nicht mehr. Er kommt in diversen Büchern vor, zum Beispiel in „In Patagonia“ von Bruce Chatwin, auch in einem wunderbaren chilenischen Roman, „Chilenisches Nachtstück“, von Bolaño. Da habe ich dann also begonnen, mich mit Walther Rauff zu beschäftigen, und habe mich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt, seinen Kontakt mit Wächter, auch Heinrich Himmler und Karl Wolff und so weiter, und habe dann eben gelesen, dass er letzten Endes über die Rattenlinie nach Chile gelangte.
Das hat dann mein Interesse voll und ganz geweckt, denn 15 Jahre davor war ich mit einem Fall in London befasst, nämlich ob Augusto Pinochet als ehemaliger chilenischer Staatschef vor englischen Gerichten für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid die Immunität für sich beanspruchen konnte. Also habe ich mich im Zuge dieser Recherchen mit sehr vielen Personen auf allen Seiten der Geschichte unterhalten, und dabei ist mir eines wichtig: dass ich wertfrei vorgehe. Ich lasse es dem Leser, der Leserin über, sich selbst eine Meinung über diese Personen, über deren Taten, darüber, warum sie das eine oder das andere taten und warum gewisse Dinge geschahen, zu bilden.
Unter anderen bin ich dabei mit Obergerichtrichter Mario Carroza aus Chile zusammengetroffen, der sehr, sehr viel für die Menschenrechte und gegen die Verbrechen unter Pinochet getan hat, mehr als alle anderen Richter zusammen. Er war mir wichtig, weil ich von ihm wissen wollte, ob ich über zwei Agenten des chilenischen Geheimdienstes etwas Glaubwürdiges, etwas Verlässliches bekommen könnte. Dieser Richter Carroza hat sich dann an mich gewandt und begonnen, mir Fragen zu stellen.
Jetzt lese ich aus dem Buch vor:
Er fragte mich: Warum war ich an dieser Geschichte und an Rauffs Rolle in den Verbrechen des Augusto Pinochet interessiert? – Eine angemessene Frage. Es fing an mit dem Recht, wie die für Nürnberg erfundenen Verbrechen im Zusammenspiel von Immunität und Straflosigkeit aufgenommen wurden. Außerdem gab es eine persönliche Verbindung: meine Mitwirkung an Pinochets Fall in London, meine Ansichten über das Ergebnis und die Umstände seiner Rückkehr sowie die Entdeckung einer familiären Verbindung über meine Frau mit der Ermordung von Carmelo Soria 1976. Dann eine weitere persönliche Verbindung, die ich im Zuge meiner Recherchen feststellte: dass eine der vielen in Rauffs Kleinlastern in Polen Ermordeten Hertha Gruber war. Sie war zwölf Jahre alt und die ältere Cousine meiner Mutter aus Wien.
Mario Carroza hörte aufmerksam zu. Ich kannte einen Gefangenen in Londres 38, sagte er. Er war mit mir auf der Universität, el Pedagógico, wir studierten zusammen Philosophie – er bezog sich dabei auf das pädagogische Institut an der Universität von Chile. Sein Name war Alfonso Chanfreau. Er sah mich an. Es ist eine feine Sache, aus einem persönlichen Grund Nachforschungen anzustellen, sagte Richter Carroza, eine sehr feine Sache.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Diese Zufälle und all die Personen, mit denen Sie dabei in Kontakt kamen: Ich denke, das zeigt, dass Sie immer auf zwei Ebenen recherchieren – einerseits auf der Faktenebene, andererseits auf der Ebene der persönlichen Beziehungen. Ich denke, all diese Gespräche mit diesen unterschiedlichsten Personen aus allen möglichen Orten und diese Verkettung von Zufällen, zum Beispiel auch, wo Sie mit jemandem im Taxi sitzen und mit ihm über Rauff reden und der Taxifahrer sich dann umdreht und sagt: Ja, ja, genau, das stimmt alles, was Sie sagen! – das heißt, auch sehr viele unerwartete Begegnungen –, all diese Gespräche und alles, was Sie dabei erfahren, bilden einen wichtigen Teil Ihres Buches.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Ich bin zunächst einmal ein Anwalt, der vor internationalen Strafgerichten plädiert, und als solcher stellt sich mir immer eine Frage: Wenn der Richter sagt: Ja, ganz genau, Herr Sands, aber was haben Sie für Belege oder Beweise für Ihre Aussage, für Ihre Behauptung?, dann kann ich natürlich nicht sagen: Ja, ein Taxler hat sich umgedreht und hat mir gesagt: So war’s!, sondern ich brauche mehr. Ich brauche Dokumente, ich brauche tatsächliche Aussagen von unmittelbaren Zeugen, und daher spreche ich sehr viel mit Menschen.
Das heißt, die Zufälle sind tatsächlich etwas Wichtiges, und da gibt es zwischen meiner Frau und mir ziemlich viele Uneinigkeiten. Meine Frau denkt, Zufälle sind eben reine Zufälle. Ich glaube, dass das anders ist. Ich glaube, da gibt es noch etwas anderes, das da mitspielt, das diese Zufälle erklärt.
Die Zufälle beginnen ja schon einmal beim Buch „Rückkehr nach Lemberg“, denn da habe ich herausgefunden, dass die Mutter meines Großvaters in der Nähe von Lemberg geboren wurde, und dort wurde auch Hersch Lauterpacht geboren, und dessen Vater war mein erster Völkerrechtsprofessor. Das ist ein interessanter Zufall, aber ja, die Zufälle hier sind wirklich sehr, sehr viele und sehr interessante.
Der, der den Haftbefehl von Pinochet 1998 unterschrieb – dass das geschah, das gab es zuvor in der Geschichte noch nie, und der, der das unterschrieb, war eben Nicholas Evans, mein Nachbar.
Lord Hoffmann, dieser berühmte Richter, der für so viele Schwierigkeiten im Pinochet-Verfahren verantwortlich war – weil er mit Amnesty International in einer Beziehung stand, die er nicht offengelegt hatte, bevor der erste Fall vor das House of Lords gebracht wurde, was bedeutet, dass das Urteil aufgehoben werden musste und von vorne begonnen werden musste –, war der Zahnarzt meines Vaters. All das, diese Zufälle spielen eine Rolle, denn weder Lord Hoffmann noch Nicholas Evans hatten mit irgendjemandem über das gesprochen, aber wenn man jemanden kennt, dann gibt es eine gewisse Vertrauensebene, dann weiß man, dass man besonders respektvoll mit den Aussagen des anderen umgehen muss, aber die Zufälle werden noch interessanter.
Als das Buch „Die Rattenlinie“ in der spanischen Sprache herauskam, und zwar im Februar 2021, erhielt ich ein E-Mail von meiner Lektorin, und die sagte mir, es gibt einen spanischen Anwalt, Carlos Castresana, der mit Ihnen über den Pinochet-Fall sprechen möchte, denn er weiß, dass das nächste Buch sich mit Pinochet und Rauff beschäftigen wird. Also haben wir uns über Zoom unterhalten – das war in der Covid-Zeit, daher Zoom –, und er hat mir dann die ganze Geschichte des Pinochet-Falls erzählt, wo sich eben die Chilenen an ihn gewandt haben und sagten: Ja, es gibt eine Rechtsgrundlage nach dem spanischen Recht, die das Erheben einer Anklage gegen Pinochet, bei der es um internationale Völkerrechtsverbrechen, Folter und so weiter geht, vor den spanischen Gerichten ermöglichen würde, aber man braucht dazu ein spanisches Opfer. – Warum? – Weil die spanischen Gerichte besonders konservativ sind und sagen: Wenn die Opfer nur Chilenen sind, dann geht das Spanien nicht wirklich etwas an! – Man könnte daher den Fall nur dann vor die spanischen Gerichte bringen, wenn auch zumindest ein spanisches Opfer dabei wäre.
Also habe ich vier Namen genannt, und Carlos Castresana hat dann eben einen gewählt, der das erste Opfer für einen Fall gegen Pinochet nach dem spanischen Strafrecht war, und zwar im Juli 1996, und zwar war diese Person Carmelo Soria.
Carmelo Soria war der Leiter des UN-Büros in Santiago und wurde 1976 verschleppt und zum Verschwinden gebracht. Seine Leiche wurde dann drei Tage später in einem Kanal gefunden. Er wurde also vom Pinochet-Regime ermordet. Und das ist der Fall, mit dem ich die Anklage gegen Pinochet habe erheben lassen, und zwar 1996.
Ihn habe ich ausgewählt, weil er die doppelte Staatsbürgerschaft hat, weil er als UN-Diplomat die diplomatische Immunität genoss und weil er von einer sehr weit bekannten spanischen Familie stammt. Sein Großvater war Arturo Soria, ein Stadtplaner. Es gibt in Madrid eine nach ihm benannte Straße und auch eine nach ihm benannte U-Bahn-Station, und Carmelo Sorias Bruder, der ebenfalls Arturo Soria hieß, war wieder der Herausgeber von Pablo Neruda. – Also eine wirklich sehr renommierte Familie.
Ich selbst hatte von Carmelo Soria noch nie gehört, aber ich war damals eben in Totnes in Südwestengland, wo meine Schwiegermutter lebte, eine wunderbare Person, die Spanierin ist, und zwar ist sie aus dem spanischen Bürgerkrieg nach England geflohen, und ihr Mann war ein Colonel in der republikanischen Armee, der 1939 floh und sich dann als Flüchtling in England niederließ. Als ich meiner Schwiegermutter diese Geschichte erzählte, genauso wie ich sie Ihnen jetzt erzählt habe, sagte sie: Wie hieß der nochmal, das Opfer, derjenige, der da entführt wurde und der am Anfang dieser Pinochet-Sache stand?, und ich sagte eben: Carmelo Soria. – Sie schaute mich an, schwieg und sagte dann: Natürlich, genau, vor 50 Jahren, das war ja mein Cousin Carmelo!
Ja, „Rückkehr nach Lemberg“ begann mit meinem Großvater und meiner eigenen Familie, und dann habe ich eben dieses Schreibprojekt in Angriff genommen und dann landen wir plötzlich bei der Familie und bei den Vorfahren meiner Ehefrau!
Ja, also ich habe dann die Familie Soria kontaktiert und wurde von ihnen tatsächlich wie ein unbekannter Cousin aus England behandelt. Meine Frau hat mich dann wieder geschimpft und hat gesagt: Cousins seid ihr nicht wirklich, maximal angeheiratete Cousins!, aber jeder, der irgendwie spanische Verwandte hat, versteht: Eine britische Familie, das sind nur die unmittelbaren Verwandten, wogegen für Spanier Familie alles ist, was irgendwie verwandt oder angeheiratet ist.
Jedenfalls habe ich damit Zugang zu Personen und zu Gesprächen bekommen, die alles Mögliche abgedeckt haben, und Sie sehen ja auch im Buch, wie wichtig das dann war. Und als Prozessanwalt habe ich das Verständnis dafür, wie wichtig es ist, mit Personen zu sprechen und dabei ein Vertrauensverhältnis herzustellen – sonst sagt man einem nichts, wenn die Personen nicht merken, wie man sie respektiert, dass man sie nicht provoziert, dass man nicht grob mit ihnen umgeht, sondern sie einfach sprechen lässt.
Und so habe ich mit sehr vielen Personen Kontakt gehabt, sechs, sieben Jahre lang. Das war schon beim Buch „Rückkehr nach Lemberg“ so und auch mit der „Rattenlinie“ und auch mit dem gegenwärtigen Buch. Ich hatte mit einigen Personen zu tun, die selbst Massenmörder waren; einer davon war Pinochets engster Anwalt, den ich sehr gut kennenlernen konnte.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Irgendwo schreiben Sie in Ihrem Buch: Durch meine Arbeit an internationalen Streitfällen habe ich gelernt, dass man durch den Besuch eines Ortes ein besseres Gespür für dessen Geografie und seine Durchdringung mit Geschichte entwickeln kann. – Ich denke, das ist sehr wichtig, denn Sie haben sich in Chile all diese Orte angesehen. Ich weiß gar nicht, wie oft Sie dort waren, aber ich habe das Gefühl, Sie waren Hunderte Male dort. Sie haben sich in kleine Dörfer begeben, haben sich all die Schauplätze angesehen, und das ist für Sie so wichtig, sich das alles mit eigenen Augen anzusehen.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Ja, Sie machen das doch ganz ähnlich mit Ihrem Buch über Gebäude und so weiter in unterschiedlichsten Teilen von Österreich. Man kann nicht alles nur im Internet recherchieren, sich dort die Bilder ansehen. Wenn man einen Fall vertritt, dann muss man sich auch die Schauplätze ansehen – seien das Fälle, in denen es um die Verschmutzung eines Flusses wie der Donau geht. Ich habe einmal in den Neunzigerjahren in der Slowakei und in Ungarn damit zu tun gehabt, und da habe ich mir dann eben die Dämme angesehen, die Größenordnungen, die Fließgeschwindigkeit des Flusses und so weiter. Oder wenn man mit einem Massenmordfall zu tun hat, dann muss man sich teilweise die Leichen ansehen, die Tatorte, die Massengräber und so weiter.
Diesem Instinkt bin ich immer gefolgt. Ich habe das vorhin jemandem gesagt: Bei meinem ersten Besuch in Österreich habe ich hier jemanden kennengelernt, dem ich vorhin erzählt habe: Wir in unserer Familie, wir durften keine österreichischen und deutschen Dinge haben. So war das eben; das hat sich mittlerweile völlig geändert.
Ich weiß, als ich 18 war und meinen ersten Österreicher traf, eine tolle Person, Gerhard Baumgartner – er kann leider heute nicht bei uns sein, er war ein deutscher Lektor –, da erschien er mir ganz normal und sogar sehr nett, und wir sind sogar Freunde geworden. Also hat mir das auch Türen geöffnet, dass es überall tolle Personen gibt und dass man nicht so engstirnig sein kann, gewisse auszuschließen.
Als ich das erste Mal in Wien war, 1988, war ich 27 Jahre alt, und Grund dieses Besuchs war, dass ich bei einer Greenpeace-Delegation dabei war und mir die Internationale Atomenergiebehörde ansah, und zwar kurz nach dem Tschernobyl-GAU – und da gab es Verhandlungen, da durfte ich dabei sein, und ich war begeistert, da dabei sein zu dürfen. Ich bin in Österreich, in Wien viel herumspaziert, habe mir im Auftrag meiner Mutter diverse Adressen gesucht, Kärntner Straße und so weiter, und wollte da eben einmal ein Gespür bekommen, was das ist, und das hat dann meine Vorstellungskraft richtig beflügelt. Damit war es mir erst möglich, mir vorzustellen, wie es meinem Großvater gegangen ist, als er 1914, als zehnjähriger Bub, hier angekommen ist, als er vor den Russen, die Lemberg besetzt hatten, fliehen konnte.
Ja, die Geschichte dreht sich eben weiter. Sie wiederholt sich nicht wirklich, aber sie hat doch gewisse zirkuläre Aspekte. Und so ist für mich die Vorstellungskraft eben etwas sehr Wichtiges, und das funktioniert nur, wenn man an einem Schauplatz ist.
Marie-Theres Arnbom: (Die Simultandolmetschung ist unterbrochen.) ... is being charged with murder, not genocide and torture, but the interesting thing is: Under international law, a head of state is immune, he cannot be arrested in another country.
(In deutscher Simultandolmetschung): ... dass Staatsoberhäupter immun sind nach Völkerrecht und dass sie nur vor internationale Gerichte gestellt werden können, aber nicht vor nationalen Gerichten angeklagt werden können.
Wie ist es heute? Glauben Sie, das könnte sich heute ändern? Es gibt ja Haftbefehle. Werden die jemals ausgeführt oder umgesetzt werden? Wie sieht es heute aus?
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Ja, um ein bisschen Kontext zu geben: Diese Begriffe sind sehr wichtig, einmal „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – das Töten vieler Menschen, Einzelpersonen –, das wurde von Hersch Lauterpacht erfunden. Der Begriff des Genozids wurde hingegen von Ralph Lemkin, ebenfalls 1944, erfunden. Die beiden Begriffe wurden für die Nürnberger Prozesse verwendet, haben sich dann im Laufe der Zeit weiterentwickelt, sind beide internationale Straftatbestände.
Als 1998 nun die Information durchsickerte, dass Augusto Pinochet für eine medizinische Behandlung in London in einem Krankenhaus war und am nächsten Tag schon nach Chile zurückkehren würde, schrieb er innerhalb einer Stunde einen Haftbefehl – aus Gründen des Genozids, der Folter, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er konnte dies machen, weil General Franco 1971 ironischerweise in Spanien ein Gesetz erlassen hatte, das die Begriffe Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in das spanische Recht umsetzte. Das heißt, für diesen Haftbefehl hat sich Richter Garzón auf spanische Gesetze gestützt.
Nun kommt dieser Haftbefehl zu Scotland Yard, da gibt es ein Auslieferungsteam, das hat sich das angesehen, hat dann beschlossen: Ja, da müssen wir etwas machen. – Das kam allerdings schon nach Gerichtsschluss, und somit musste man zum diensthabenden Richter gehen, zu Nicholas Evans, der mein Nachbar in Hampstead war. Nicholas hat noch nie ein Interview gegeben, nur mit mir hat er gesprochen, und ich habe den Sonntagvormittag bei ihm verbracht.
Er hat mir dann erzählt, was da geschah: Er war zu Hause mit seiner Frau, und dann kam Scotland Yard, rief ihn an und teilte mit: Wir schicken dir Leute vorbei; Sie müssen einen Haftbefehl gegen – der Name wurde genannt – unterzeichnen! – Und er sagte, er war eigentlich kein Völkerrechtsexperte, kannte die Person nicht, aber nach einer halben Stunde hielt man ihm diesen Entwurf eines Haftbefehls für Genozid, Verschwindenlassen, Folter und so weiter unter die Nase.
Nicholas sagte: Ich arbeite normalerweise nicht im Völkerrecht, ich kannte diese Rechtsbegriffe nicht, also habe ich Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter einfach durchgestrichen und habe einfach Mord hingeschrieben. – Ein Desaster! Englische Gerichte haben in Bezug auf Mord im weit entfernten Chile keine Zuständigkeit. Das war das erste Problem in dem Verfahren gegen Pinochet, und das hat natürlich dann eine ganze Reihe von schwerwiegenden Folgen gehabt.
Nun, bei Augusto Pinochets Fall war der Punkt dann, dass er als ehemaliges Staatsoberhaupt Immunität verlangen kann, wenn es um ein internationales Verbrechen und um ein nationales Gericht geht. Das wurde dann alles im Verfahren noch geändert, aber solche Fälle gab es einfach zuvor nie. Es gab zuvor zwar Fälle vor internationalen Gerichten, aber das waren im Wesentlichen nur Nürnberg und Tokio. Jugoslawien, Ruanda und so weiter, diese Gerichte wurden damals erst geschaffen, da waren noch keine Entscheidungen gefallen. Das heißt, das war wirklich völliges Neuland, und deshalb gab es da international auch große Aufmerksamkeit. Und das House of Lords sagte letztlich dann, es gibt keine Immunität nach internationalem Recht für ein internationales Verbrechen vor nationalen Gerichten, wo Gerichte einem Staat die Pflicht auferlegen, ein Verfahren einzuleiten. Und so kam es dann zu dieser Verpflichtung, den Fall weiterzuverfolgen, auch mit Blick auf die Auslieferung, und so ging der Fall dann auch weiter.
Dieser Präzedenzfall war von immenser Bedeutung, weil er im Wesentlichen jedem Staats- und Regierungschef die Botschaft klar darlegte: Wenn Sie ein Verbrechen nach dem Völkerrecht begehen, dann sind Sie auch im Ausland dem Risiko ausgesetzt, dass die Gerichte Sie verfolgen.
Und im Völkerrecht ist es natürlich wichtig, zu unterscheiden zwischen ehemaligen Staatsoberhäuptern und noch dienenden Staatsoberhäuptern und nationalen und internationalen Gerichten. Heute ist es nun so, zum Beispiel im Zusammenhang mit Putin und Netanjahu, dass wir da sehr komplexe Fragen zu beantworten haben. Wir haben jetzt nicht die Zeit, darauf einzugehen, aber ganz kurz vielleicht, damit Sie das nachvollziehen können: Diese beiden Haftbefehle gegen diese beiden Staatsoberhäupter sind von internationalen Gerichten ausgestellt, vom Internationalen Strafgerichtshof, der zuständig ist in Bezug auf alle Straftaten, die auf dem Staatsgebiet einer Partei des Strafgerichtshofs stattgefunden haben.
Das ist in der Ukraine der Fall. Deshalb gibt es hier keinen Zweifel, dass der IStGH zuständig ist bei Verbrechen, die gegen eine Person jedweder Staatsangehörigkeit auf ukrainischem Staatsgebiet begangen wurde.
Die USA hingegen sind keine Partei des IStGH-Statuts. Wenn ein Amerikaner im Vereinigten Königreich eine Straftat begeht – das Vereinigte Königreich ist eine Partei –, dann ist der IStGH dennoch zuständig. Und dasselbe betrifft eben die Ukraine – es ist da völlig egal, dass Russland dem IStGH-Statut nicht beigetreten ist. Die Frage ist nun: Kann diese Zuständigkeit in Bezug auf ein dienendes Staatsoberhaupt durchgesetzt werden? Putin ist noch Staatspräsident und genießt somit Immunität.
Es gab allerdings einen Gerichtsentscheid, dass in Bezug auf Staatsoberhäupter hier keine Immunität geltend gemacht werden könnte. Das ist allerdings kontrovers. Nicht alle Gelehrten sind damit einverstanden. Ich selbst tue mich hier auch schwer, die Rechtsgrundlage zu sehen. Wenn Russland für seinen eigenen Präsidenten Immunität verlangt, dann ist es schwer nachzuvollziehen, dass diese Immunität nicht gilt in Zusammenhang mit einem Vertrag, dem Russland nicht beigetreten ist.
Dasselbe hat natürlich auch für Netanjahu Gültigkeit. Herr Gallant war ein Minister der Regierung Netanjahu, ist jetzt nicht mehr Minister, deshalb gibt es hier nach meiner Überzeugung keine Frage mehr, aber in Bezug auf den immer noch als Regierungschef dienenden Netanjahu und auch auf Putin eben schon.
Also grundsätzlich geht es darum: Die Kombination von Nürnberg, dem Jugoslawien-Tribunal, dem Ruanda-Tribunal und dem Urteil im Fall Pinochet, das alles hat wirklich die Lage völlig verändert, das war revolutionär. Das hat quasi ewige Gültigkeit und sendet klare Signale aus. Völkerrecht ist natürlich eine Entwicklung, die immer weitergeht. Es wird sicher noch Jahrzehnte dauern, bis wir hier ganz klare Praktiken entwickeln können.
Und es ist dies auch in einem anderen Zusammenhang heute sehr relevant. Sie wissen vielleicht, dass der Oberste Gerichtshof der USA letzten Juli ein Urteil gefällt hat in Bezug auf die Immunität des damals ehemaligen Präsidenten Trump in Bezug auf Straftaten, die während seiner Amtszeit begangen wurden, und der Oberste Gerichtshof hat damals in seiner Weisheit aber nicht geurteilt, dass für einen ehemaligen US-Präsidenten die Annahme absoluter Immunität gilt, auch in Bezug auf internationale Straftaten.
Das heißt, auch in den Vereinigten Staaten wird die Debatte weitergehen, wie dieses Urteil des Supreme Court auszulegen ist. Das ist eine Frage, die sehr komplex ist und die auch noch weiter behandelt werden muss. Jeder, der das Gegenteil behauptet, ist hier nicht ehrlich.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Kommen wir wieder zurück zum Buch. Aus deutscher und österreichischer Sicht ist es schwer nachvollziehbar, warum hochrangige Nazis durch die USA und auch in so vielen südamerikanischen Regimen geschützt wurden. Damals war es aber natürlich so, dass die westliche Welt größere Angst vor dem Kommunismus hatte als vor den Nazis – und ob man diese nun strafrechtlich verfolgen sollte. Sie schreiben ja in Ihrem Buch selbst recht oft darüber, und da schreiben Sie an einer Stelle auch: Die Camelios, für die Walther Rauff ja arbeitete, wussten über seine Vergangenheit Bescheid und waren wie er vehemente Antikommunisten.
Das ist in Ihrem Buch ja auch ein wichtiges Thema, weil wir natürlich alle möchten, dass alle Nazis strafrechtlich verfolgt werden, aber aus dieser Perspektive ist es etwas anderes.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Ja, vielleicht ganz kurz zur Geschichte von Walther Rauff, damit man das nachvollziehen kann – für mich ist es immer einfacher, wenn man auch eine Geschichte hat, und diese Geschichte von Walther Rauff ist wirklich unglaublich; wäre das ein Roman, würde man sagen, das ist ja nicht glaubwürdig, das hätte gar nicht so geschehen können –:
Nun, Rauff wird wegen Massenmordes nach 1945 verfolgt – Massenmord in mobilen Gaswagen, aber auch in Tunesien, in Italien, wo er Partisanen verfolgt hat und ganze Dörfer vernichtet hat. Sein Name ist in Italien heute immer noch bekannt. Es gibt da heute immer noch Fälle, die laufen, in Bezug auf die Folgen seiner Handlungen in und um Mailand.
Er flüchtet zuerst nach Syrien, schreibt dann 1949 einen Brief an Wächter. Wächter stirbt unter mysteriösen Umständen, und Rauff entscheidet sich dann, seinen eigenen Rat, den er Wächter gegeben hat, zu befolgen: auf der Rattenlinie nach Südamerika zu fliehen. Er gelangt zuerst nach Quito in Ecuador, wo er sich mit seiner Frau Edith und seinen zwei Kindern niederlässt. Und die Briten lieben ja die Ironie – das ist Teil unserer, Teil auch meiner britischen Seite –, und es war ganz interessant, herauszufinden, was die erste Arbeit von Walther Rauff war, der ja die mobilen Gaswagen in Mittel- und Osteuropa zwei Jahre lang entwickelt und beaufsichtigt hat, wo Hunderttausende getötet wurden. Was ist nun seine erste Arbeit in Quito? – Er wird Mechaniker für Mercedes-Benz. Ist das nicht die Ironie der Geschichte, die hier wieder einmal zutage kommt?
Nun, sie wollen eigentlich dort bleiben – 1950 sind sie dort angekommen –, aber 1956 lernen sie ein sehr nettes Ehepaar aus Chile kennen, das ihnen sagt, sie sollten eigentlich nach Chile reisen. Chile kennt Rauff – er war in Valparaíso, in Punta Arenas –, und dieses chilenische Ehepaar sagt ihnen: Da gibt es viele sympathische Deutsche in Chile, wir mögen Leute wie Sie!, und so ziehen sie nach Chile, und zwar ganz in den Süden, in die südlichste Stadt eigentlich der ganzen Welt, Punta Arenas. Ich war dort oft, ein unglaublicher Ort in Patagonien.
Ja, das Leben dort meint es gut mit den beiden. Walther Rauff hat dort nicht nur wieder Arbeit gefunden, und zwar als Manager der Pesquera Camelio – das ist eine Fabrik für Krabbenfleischkonserven –, sondern das Ganze entwickelt sich noch positiver: Er wird dann auch als Agent des westdeutschen Nachrichtendienstes BND angeheuert. – Also wirklich unglaublich, diese Geschichte.
Es vergehen vier Jahre, und es tauchen dann im berühmten Eichmann-Prozess in Jerusalem einige Unterlagen auf, die zeigen, dass er der Architekt der Gaswagen war. Das führt zu einem Kreuzverhör vor Gericht, wo Eichmann zu seiner Rolle in Bezug auf die Gaswagen befragt wird, und da sagt Eichmann: Das war nicht ich, das war, ein paar Türen weiter im selben Gebäude, Walther Rauff!, und die westdeutschen Staatsanwälte in Hannover wenden sich dann Rauff zu, finden heraus, er lebt in Chile, und – ganz ähnlich wie bei Pinochet – schicken einen Haftbefehl wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid.
Panik im BND, im Bundesnachrichtendienst – Sie können es sich vorstellen: Ein Teil der westdeutschen Behörden verfolgt Rauff wegen Massenmordes, und die andere Seite nutzt seine Dienste als Geheimagent in Bezug auf kommunistische Aktivitäten in Venezuela, Kuba und so weiter. Das könnte man gar nicht erfinden.
Also vieles aus meinem Buch stammt ja auch daher, dass ich über 20 Jahre ganz tolle Nachbarn hatte. Einer meiner Nachbarn in Hampstead war David Cornwall, besser bekannt als John le Carré, der berühmte Autor. Ich weiß nicht, ob Sie die Bücher von John le Carré kennen. Da wissen Sie vielleicht, dass es in jedem seiner Bücher einen wirklich furchtbaren Anwalt gibt – er hasste Anwälte. Nun, ich hatte da immer die Aufgabe, sicherzustellen, dass die Anwälte in le Carrés Werken auch ganz korrekt dargestellt wurden, sich so angezogen haben, so gesprochen haben und so weiter. Also er läutete immer wieder an meiner Tür mit einem Manuskript von 500, 600 Seiten in der Hand und sagte mir: Bitte wie immer!, und da kamen dann alle möglichen Post-its. – Es gab keine Post-its, Verzeihung, sondern ich musste die ganzen 600 Seiten durchackern, um zu sehen, wo der böse Anwalt war, aber er war sehr großzügig, und ich habe von ihm auch sehr viel gelernt über Spionagegeschichten und so weiter, das war wirklich faszinierend.
Er war selbst auch fasziniert von der Geschichte Rauffs, hat mit mir sehr viel über den BND gesprochen. Im englischen Raum wusste niemand mehr über den BND als le Carré.
Also so war der Hintergrund. Der BND erkennt also, dass das doch sehr peinlich ist, dass man Rauffs Dienste nutzt, entlässt ihn sofort aus den Diensten, und man möchte eben wie gesagt nicht, dass sich herausstellt, dass ein BND-Agent wegen Massenmordes verfolgt wird. Also dieser Haftbefehl langt ein, allerdings gibt es in Chile eine 15-jährige Verjährungsfrist, und 1963 kommt das schon zum Tragen, es ist also zu spät.
So kann Rauff wieder nach Punta Arenas zurück, kann weiterhin in der Konservenfabrik als Manager arbeiten und hat dort auch mit dem Export von Krabbenfleischkonserven nach Österreich, Deutschland und so weiter zu tun – ein sehr profitables Geschäft.
Und am 11. September 1973 – oh Wunder! – kommt es dann zum Staatsstreich in Chile, und – auch das könnte man jetzt nicht erfinden – sein Freund aus den Zeiten in Quito, in Ecuador, war Pinochet, der jetzt zum Diktator wird. Er selbst, Pinochet, hatte ja ihn nach Chile gebracht, und so schreibt Rauff an seine Schwester in Hannover: Ich bin jetzt unter Denkmalschutz.
Mir stellte sich nun die Frage: Hatte denn Rauff irgendeinen Beitrag geleistet in Bezug auf die Straftaten, die Jahrzehnte später auf meinem Schreibtisch landeten? – Nun, Rauff war nicht wie Hans Frank und Otto Wächter ein intellektueller Typ, er war ein ziemlich normaler Typ, ein normaler Massenmörder. Er hasste Juden, er hasste schwarze Menschen. Seine Briefe sind gefüllt mit hasstriefenden Worten. 1979 hatte er vier Tage lang Karl Wolff besucht, die ehemalige Nummer zwei von Heinrich Himmler, und in Begleitung eines berühmten deutschen „Stern“-Journalisten, Gerd Heidemann – darauf können wir vielleicht noch zu sprechen kommen, auch wieder eine unglaubliche Geschichte – saß er damals vier Tage lang bei Rauff, und man sprach einfach. Und Heidemann zeichnet dieses Gespräch auf – es gibt auch Transkripte davon, ich hatte Zugang zu diesen Gesprächen –, und sein Hass gegen Juden, gegen Schwarze, gegen alle Möglichen, betrifft auch Kommunisten.
Das heißt, Pinochet wurde zur letzten Festung gegen diese widerlichen Kommunisten und hätte kein Problem damit gehabt, sie alle vernichten zu lassen. Für ihn waren Kommunisten das reinste Unkraut. Also hat sich hier der Kalte Krieg auch widergespiegelt, aber eben in Südamerika, und das erklärt dann den ganzen Hintergrund.
Ja, die Ironie des Schicksals geht aber noch weiter. Gewisse Menschen hasst er und verachtet er ganz besonders, unter anderem Kissinger – er sagte Heinrich Kissinger –, und Kissinger war der, der 1945 Rauff verfolgen lassen wollte, aber in der Pinochet-Zeit war er dann auf der Seite von Pinochet und somit auch von dem, den er zuerst verfolgen lassen wollte.
Also vor einem hatte Rauff die allergrößte Angst, nämlich vor Simon Wiesenthal, einem Wiener. Und auch da ist die Korrespondenz wieder unfassbar: Er schreibt immer wieder über Wiesenthal, der hinter ihm her sei, der nach ihm jage, und sogar in seiner Weihnachtspost lässt er sich darüber aus. Wenn er da etwas in den chilenischen Zeitungen liest, dann schneidet er das aus und schickt das mit der Weihnachtspost zum Beispiel an seinen Neffen nach Westdeutschland mit – eine wirklich sehr eigenartige Situation.
Es dreht sich alles um den Kommunismus. Die Juden waren sowieso die reinste Katastrophe, die musste man loswerden, aber jetzt geht es eben gegen die Kommunisten. Und die Ironie des Buchs, und das ist bis jetzt noch nicht angesprochen worden, ist, dass die jüdische Gemeinde in Chile großteils – nicht exklusiv, aber großteils – sehr pro Pinochet war. Und da tun sich natürlich Fragen auf und auch Probleme, auf die ich bei meinen Recherchen gestoßen bin. Also das Leben ist wirklich unglaublich kompliziert.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Ja, natürlich ist es das. Sie schrieben einmal auch: Mein Bauchgefühl sagte mir, dass Rauff damit zu tun hatte, aber mangels Beweisen beschlichen mich auch wachsende Zweifel. Es gab keine Dokumente. – Wie geht ein Anwalt vor, wenn es nicht ausreichend Belege für die Annahmen gibt? Ist das unzufriedenstellend?
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Vor Gericht kann man Aussagen und Behauptungen mit Belegen und Beweisen untermauern. So ist das in Österreich und bestimmt überall, nämlich: Es geht um Beweismittel, es geht um Dokumente, die beigebracht werden müssen. In Chile aber ist 1977 etwas Besonderes passiert, nämlich: Es gab da keine Dokumente. Ich habe jetzt keinen Beleg dafür, es ist rein spekulativ, was ich sage, aber ich denke mir, dass Rauff hinter der Vernichtung dieser Dokumente steckte.
Im September 1976 ordnete Pinochet die Ermordung von Orlando Letelier in Washington, D.C. an. Dieser Letelier war der Verteidigungsminister von Salvador Allende und wurde durch eine Autobombe getötet. Und ich glaube, dass da versucht wurde, einiges zu vertuschen. Also die Amerikaner haben vielleicht ein Auge zugedrückt bei dem, was in Chile passiert, aber wenn dann jemand in den USA in die Luft gesprengt wurde, konnte man doch das Auge nicht mehr verschließen. Also da wurden dann auch die Dina, dieser chilenischer Geheimdienst, kritisiert und es wurde dann beschlossen, als die Dina aufgelöst wurde, alle Dokumente zu vernichten. Die gesamten Archive der Dina, des chilenischen Geheimdienstes, wurden zerstört. Und es wird behauptet, dass Contreras, der Direktor der Dina, sich vielleicht einige Dokumente zurückgehalten hat, um Pinochet erpressen zu können – für den Fall, dass sich Pinochet gegen Contreras wenden würde. Ich glaube, dass Rauff sehr eng mit Contreras zusammengearbeitet hat.
Und Rauff sagte – das sagt er in seiner eigenen Korrespondenz an seine Schwester zum Beispiel, wo er vorsichtig, aber doch, einige Dinge erwähnte, weil er ja nicht wusste, vom wem das alles gelesen würde –: Ich bleibe immer hinter der Kamera und ich zeige keine Dokumente.
Das heißt, ja: keine Dokumente, keine Archivbestände. Und wenn man sich jetzt die Involvierung von Rauff und die gesamten Pinochet-Verbrechen ansieht, muss man sich auf Zeugenaussagen verlassen, weil eben die Dokumente vernichtet wurden. Das heißt, man ist auf Aussagen von Personen angewiesen, die entweder etwas beobachtet oder selbst etwas getan hatten.
Und um eine klare Schlussfolgerung zu ziehen, dass Rauff ganz verheerend involviert war, habe ich mich eben auf Zeugen und Zeuginnen gestützt, auf Personen, die mir erzählten, dass sie persönlich von Walther Rauff verhört und gefoltert wurden. Und was sie sagten, stimmte überein.
Das Buch heißt deshalb „Londres 38“, weil in dieser Londresstraße in Santiago in der Nähe des Präsidentenpalastes eines der Folterzentren und eines der Haftzentren und eine der Einrichtungen war, wo man Personen verschwinden ließ. León Gómez war einer, der 1974 dort eine Zeit lang festgehalten wurde, gefoltert wurde, und er sagte mir: Walther Rauff war damals im Raum, als ich gefoltert wurde. Rauff war nicht der, der selbst den Strom einschaltete, sondern er gab Anweisungen. Er saß hinter einem kleinen Schreibtisch mit einer Schreibmaschine, und er tippte vor sich hin: die Fragen, die gestellt wurden, und die Antworten, die die Verhörten gaben. Und eine andere Person hat mir auch noch etwas erzählt; diese Person hat das Buch jetzt noch gar nicht gelesen, und die hat Rauff genau auf dieselbe Art und Weise beschrieben. Und eine dritte Person hat das dann damit übereinstimmend beschrieben. Das ist ebenfalls eine Person, die Rauffs Gesicht nicht erkannte, weil Rauff immer eine Kapuze vor das Gesicht gezogen hatte, aber er erkannte den deutschen Akzent. Und als ich ihm dann eine Aufzeichnung von Rauffs Stimme vorspielte, bestätigte er, dass das genau diese Person war. Die Stimme von Rauff war auch nicht zu verkennen.
Das war also einmal ein erster Eindruck, aber ich weiß nicht, wie ein österreichischer Richter das sehen würde. Ein Teil von mir zweifelte immer noch an all dem. Ich hatte einen gewissen Restzweifel, ob das schon wirklich glaubwürdig genug sein würde. Also habe ich mir die andere Seite der Geschichte angesehen und wurde schließlich zwei Männern vorgestellt, die in der Dina, im Geheimdienst, gearbeitet hatten und die mitgefoltert, -gemordet und so weiter hatten und auch in das Verschwindenlassen von Personen involviert waren. Die wurden dann zu Staatszeugen, wie wir das in England sagen würden, das heißt, sie haben gewisse Deals herbeigeführt und haben gesagt: Wenn wir aussagen, was wir gemacht und gesehen haben, dann werden sie uns nicht strafrechtlich verfolgen oder zumindest Milde walten lassen, wenn sie uns schon strafrechtlich verfolgen.
Und da hatte ich es im Wesentlichen mit Jorgelino Vergara zu tun, der in Chile als El Mocito bekannt ist – das bedeutet: der Nachwuchskellner oder der Jungbutler. Als er vierzehneinhalb Jahre alt war, wurde er von Manuel Contreras, von Pinochets rechter Hand, angeheuert, um Nachwuchskellner im Haus von Manuel Contreras zu sein. Vier Jahre war er dort im Dienst, und er sah alle, die dort ein und aus gingen. Er war bei Meetings dabei, er servierte ja dort Drinks, und er war auch bei vielen hochrangigen Besprechungen und Meetings dabei und wurde dann einer der Hauptaugenzeugen bei den Verfahren in Chile.
Der machte sich damals eben einen Deal mit den Strafverfolgungsbehörden und der Polizei in Chile aus und sagte: Ich würde alles aussagen aus der Zeit, als ich zwischen 14 und 18 Jahre alt war, aber aus der Zeit ab meinem 18. Lebensjahr werde ich Ihnen nichts mehr erzählen, und ich erwarte mir dafür, dass gegen mich nicht strafrechtlich vorgegangen wird. Durch seine Aussagen wurden Dutzende und Dutzende hochrangige Personen dingfest gemacht und eingesperrt, und er war eben einer der Hauptzeugen, die das ermöglichten.
Und er hat mir dann sehr ausführliche, detaillierte Informationen über seine persönliche Involvierung und seine Kontakte mit Walther Rauff in Anwesenheit von Manuel Contreras gegeben. Da stellten sich dann sehr viele Fragen, aber im Wesentlichen läuft es darauf hinaus, dass in San Antonio das Pinochet-Regime 1973 eine andere Fischdosenfabrik erwarb, und diese Fischdosenfabrik kauften sie, weil diese Pesquera Arauco 310 gekühlte Chevrolet-Wägen hatte – und diese Kühlwägen wurden zum Transportieren von Häftlingen und zum Entsorgen von Kadavern verwendet.
Ja, er erzählte eben, dass er selbst in so einem Wagen transportiert wurde, und das war die größte Fischfleischkonserven-Herstellungsfabrik in ganz Chile mit 30 Tonnen Fischmehl. Und an einem Tag im Jahr 1973 ist eben das Militär zu dieser Fabrik gekommen, hat das versiegelt und hat es übernommen. Das ist doch eigenartig: Warum würde die Armee eine Fischmehlfabrik mitten in San Antonio übernehmen? – San Antonio ist der Hauptsitz von Manuel Contreras. Also die Dinge fügen sich doch irgendwie zusammen, und es lief darauf hinaus, dass El Mocito mir ganz gut beschreiben konnte, welche Rolle Walther Rauff in der Handhabung dieser Kühlwägen spielte, die verwendet wurden, um Personen verschwinden zu lassen. Und ich glaube, Ihnen ist klar, was das heißt.
1940 und 1941 ging es um mobile Gaswägen, in den 1970er-Jahren ging es um Kühlwägen, aber es war ein und dieselbe Person, die hinter beiden steckte. Man sagte mir, dass das das erste Mal ist, dass wir hier harte Beweise haben, tatsächliche Zeugenaussagen, dass ein hochrangiger Nazi nach Südamerika fliehen konnte, der persönlich in die Nazi-Verbrechen und in die Verbrechen einer Diktatur in Südamerika involviert war. Bei allen anderen Personen gibt es nur Gerüchte und Behauptungen, das ist nicht bewiesen, aber bei Rauff wissen wir nun dank klarer Zeugenaussagen und Belege, was er getan hat.
Und damit wird diese Geschichte umso schockierender: dass ein und dieselbe Person sich dieselben Mittel und Werkzeuge sozusagen noch einmal zu eigen machte, um wieder Personen verschwinden zu lassen.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Vielen Dank! Damit sind wir natürlich noch nicht am Ende, aber wir müssen auch die Zeit ein bisschen im Auge behalten.
Publikumsrunde
Marie-Theres Arnbom: Wir haben natürlich jetzt noch ein bissl Zeit, um Fragen zu stellen. Sie sehen, die Themen, die sich in diesem Buch abspielen, sind unendlich. Es ist unglaublich: Es sind vorne im Buch fünf Seiten nur mit Namen, die man einordnen muss, denn sonst kommt man ja völlig durcheinander mit den vielen, vielen Namen, mit den vielen Personen, die Philippe Sands getroffen hat.
Wir machen jetzt eine kurze Fragerunde, aber ich würde wirklich bitten, sich auf das Buch zu konzentrieren, kurze und prägnante Fragen zu stellen, denn es sind so viele Menschen, und ich denke mir, es werden vielleicht doch viele etwas fragen wollen – oder auch nicht; manche sind vielleicht jetzt so geplättet, wie das meistens so ist, von diesen vielen, vielen Detailinformationen. Also wer traut sich? Und bitte warten Sie, bis Sie das Mikro haben, wegen des Livestreams, damit dann auch die Menschen außerhalb dieses Raumes Sie gut hören können. Hier stehen schon nette Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen mit dem Mikro bereit. Also möchte jemand den Anfang machen? – Bitte. Stellen Sie die Fragen ruhig auf Deutsch. Philippe Sands versteht nämlich sehr gut Deutsch.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Na ja, Englisch wäre schon besser, aber ich verstehe es schon ein bisschen.
Fragestellerin aus dem Publikum: Sie haben vorhin gemeint, dass Sie vor allem zu Personen leichter Zugang bekommen haben, zu denen Sie persönliche Kontakte hatten oder über persönliche Kontakte gelangten. Aber zum Beispiel in Chile, vor allem bei Personen, zu denen Sie keinen persönlichen Kontakt hatten, war es da schwer, den Zugang zu schaffen, um über solche schwierigen Themen zu sprechen, oder hatten Sie da manchmal das Gefühl, dass man – unter Anführungszeichen – jetzt nicht so einfach an Informationen rankommt, weil es wahrscheinlich einfach sehr schwierig ist, über dieses Thema zu sprechen?
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Mir sind einige Nuancen entgangen, jetzt im Deutschen.
Marie-Theres Arnbom: (in deutscher Simultandolmetschung): War es kompliziert, mit Personen in Chile über dieses nicht so einfache Thema zu sprechen?
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): Vielen Dank für diese Frage! Sie sprechen da einen Punkt an, der sich in meiner ganzen Arbeit wiederfindet, und das trifft natürlich auch auf Österreich zu. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, wo über alles geschwiegen wurde, wo alles verschwiegen wurde. Und ich glaube, das ist doch ein universelles Phänomen: Wenn man an den Kosovo, an Ruanda oder Jugoslawien denkt, sieht man, es braucht oft zwei Generationen, bis man beginnt, darüber zu sprechen, offen über die Dinge zu sprechen. Und in Chile ist das nicht anders.
Eines wollte ich eigentlich eingangs schon sagen: Es gab in Chile keine Fälle, bis Pinochet nach seiner Festnahme, nachdem er zwei Monate verhaftet war, ins Land zurückkam. Dann erst hat man begonnen, sich damit zu beschäftigen. Das heißt, jahrelang gab es ein großes Vakuum, aber in dieses Vakuum traten dann Cineasten, Schriftsteller, Künstler und so weiter ein, und es gibt in Chile in den 1980er- und 1990er-Jahren und auch noch in den 2000er-Jahren sehr viel Literatur, Schriftsteller und so weiter, die sich mit den Themen beschäftigten und ein gewisses Bewusstsein schufen.
Als dieser Taxifahrer mir also sagte, dass Rauff ganz sicher für Pinochet arbeitete, bezog er sich im Wesentlichen auf Gerüchte, aber auch auf Literatur, insbesondere auf das Buch von Roberto Bolaño „Nocturno de Chile“/„Chilenisches Nachtstück“, wo, als das Buch veröffentlicht wurde, Bolaño eine Beziehung zwischen Rauff und Pinochet erfand. Das war für mich besonders interessant, weil das mit dem zusammenfiel, was ich später faktisch entdeckte.
Ja, mit Menschen zu sprechen ist eine Kunst, und das Aufbauen von Beziehungen ist auch eine Kunst. Ich darf Ihnen ein konkretes Beispiel geben: Ich bin also während des gesamten Pinochet-Prozesses im House of Lords gesessen, zwei Jahre lang, und auch in anderen Gerichten. Und im House of Lords war mein unmittelbarer Sitznachbar ein Herr namens Miguel Schweitzer. Da wird Ihnen klar, dass der irgendwie deutsche Wurzeln haben musste, und das war auch so. Und ich werde nicht so schnell vergessen, wie dieser erste Tag vor Gericht lief, ich also neben Miguel saß und Miguel, dieser sehr feine Mann in seinem schönen Anzug und mit seiner tollen Haarpracht, aufstand – wunderbar einparfümiert, ein sehr chamanter Herr – und sagte: Miguel Schweitzer. Ich bin Augusto Pinochets Menschenrechtsberater von 1947 bis 1985. Also dachte ich mir: Okay. – Aber die Anwälte hier im Saal werden vielleicht verstehen, worauf ich jetzt hinaus will: Man sitzt oft wochenlang neben jemandem, man redet mit ihm, man tritt in eine gewisse Beziehung ein und man stellt fest, dass das ein Anwalt ist. Und ja, also Miguel Schweitzer war ein sehr fantastischer, interessanter Mensch, und wir haben uns ganz gut verstanden.
1963, als 18-jähriger Jurastudent, hatte er seinem Vater, Prof. Miguel Schweitzer, geholfen, die Argumente für Walther Rauff zusammenzuschreiben betreffend die Verjährungsfrist. Das habe ich aber erst viel später erfahren. 1972 wurde er zum Rechtsberater von Agustín Edwards, dem Inhaber der größten und rechtsstehendsten Zeitung in Chile „El Mercurio“.
1975 wurde er der Menschenrechtsberater von Pinochet, der ihn dann 1977, als der Skandal um die Ermordung von Orlando Letelier ans Tageslicht kam, als seinen Emissär in Washington auswählte: Miguel Schweitzer, um einen Deal mit den Amerikanern auszuverhandeln, dass Contreras oder sonst jemand von der Dina nicht ausgeliefert werden sollte – erfolgreich.
In den 1980er-Jahren wurde er Pinochets Botschafter in London, wurde dann zurückberufen, weil er Margaret Thatcher zu nahe stand, wie er mir sagte. Und in den späten Achtzigerjahren wurde er Pinochets Außenminister. Also er liebte Pinochet; aber wir sind trotzdem Freunde geworden. Einer der Gründe dafür, warum wir uns angefreundet haben, ist, dass er mein Buch „Rückkehr nach Lemberg“ und dann auch das Buch „Die Rattenlinie“ gelesen hat und verstanden hat, dass ich mit Respekt mit den Leuten umgehe. Auch wenn ich anderer Meinung bin als jemand, bleibe ich doch höflich und respektvoll.
Er sagte mir: Gut, ich erzähle Ihnen jetzt alles aus der Innenperspektive. Wir haben uns stundenlang unterhalten über seine Seite der Geschichte. Er hat mir dabei Details zugesteckt, die fantastisch sind. Einige von Ihnen erinnern sich vielleicht daran – oder nein, vielleicht nicht; aber in England erinnert man sich daran, in Spanien, in Chile vielleicht auch.
Also als Pinochet zurückflog, sollte er dement, verkalkt, verhandlungsunfähig, krank, schwach und so weiter sein, und die Leute waren ziemlich überrascht, als der Rollstuhl aus dem Flugzeug herausgehoben oder gefahren wurde: Sobald er dann auf der Landebahn war, ist er aufgestanden, ist herumgegangen, hat dynamisch den Leuten zugewunken, hat alle umarmt und war in allerbester Form; er sah sehr gesund aus. Das heißt, die Sache, dass er verhandlungsunfähig sei, das war ein Deal zwischen den Briten und den Chilenen. Das war eine Lüge, und das hat viele schockiert.
Miguel hat mir die Geschichte erzählt. Sie waren gemeinsam im Flugzeug zurück nach Santiago, von London nach Santiago, und sie sind dann eben bis ganz nach unten nach Südamerika geflogen. Argentinien, Uruguay, Brasilien und so weiter durften sie nicht überfliegen, da hatten sie keine Überfluggenehmigung. Das heißt, sie haben deshalb eine längere Route von vier oder fünf Stunden gehabt. Sie haben gemeinsam Champagner getrunken.
Miguel und sein Kollege, der mir auch sehr viel erzählt hat, ebenfalls jemand vom Außenministerium namens Errázuriz, sagten zu Pinochet: Sie sind dement, Sie sind verkalkt, sie können nicht so fit aus dem Flugzeug aussteigen, wie Ihnen das vielleicht gefallen würde. Sie müssen mit dem Rollstuhl aus dem Flugzeug gehoben werden. Aber er weigerte sich, er war zu stolz, er sagte: Nein, ich steige da selbst raus!
Dann konnten sie ihn überzeugen: Schau, das ist eine Katastrophe, wenn Sie zu Fuß aus dem Flugzeug aussteigen. Jetzt haben Sie allen eingeredet, dass sie verhandlungsunfähig sind, dass Sie dement sind, nichts mehr auf die Reihe kriegen. Da verlieren Sie die ganze Unterstützung und die Glaubwürdigkeit!
Also einigte man sich auf den Kompromiss, dass er im Rollstuhl rausgeschoben wird. Aber, sagte Miguel, es ist uns nicht gelungen, wir haben irgendwo einen Fehler gemacht. Wir haben vergessen, ihm zu sagen, dass er bis zum Schluss im Rollstuhl sitzen bleiben muss, bis er im Terminal war, bis niemand ihn mehr sehen konnte. Er ist zu schnell aufgestanden, und das war eine Katastrophe. Das hat dann eben dazu geführt, dass er vor den chilenischen Gerichten als verhandlungsfähig eingestuft wurde. All diese Geschichten fallen mir jetzt eben wieder ein.
Die einfache Antwort darauf ist: Wenn man mit Personen sprechen will, dann muss man respektvoll mit ihnen umgehen, und man muss wirklich die Bereitschaft zeigen, immer wieder nach Chile zu fahren. Das geht nicht übers Internet. Das geht auch nicht telefonisch, sondern ich musste mir wirklich Zeit nehmen, die Leute bei ihnen zu Hause besuchen, damit sie sich eben vertrauensvoll öffnen konnten.
Was mich bei diesem Buch am stolzesten macht, ist Folgendes: Das Buch ist ja gerade erst herausgekommen, und als es vor einem Monat in Chile in die Läden kam in der spanischen Ausgabe, von Anagrama veröffentlicht, ist der Enkel von Walther Rauff, der auch Walther Rauff heißt, also wie sein Großvater, zur Buchveröffentlichung gekommen – ich habe ihn ja oft getroffen.
Das Interessante war, dass er akzeptierte, dass sein Großvater in diese mobilen Gaswägen und in die Naziverbrechen involviert war, aber es ist ihm sehr, sehr schwergefallen, zu akzeptieren, dass sein Großvater auch in die Verbrechen in Chile verwickelt war. Gut, da waren wir uns einig, dass wir uns nicht einig waren, bei allem Respekt, aber er ist zur Buchvorstellung gekommen, hat seine Tochter mitgebracht, und das hat für mich sehr viel bedeutet. Denn das war das Signal, dass er verstand, dass ich ihm respektvoll begegnet war. Er hat keinerlei Verantwortung für die Taten seines Großvaters, und ich schiebe ihm in meinem Buch auch keinerlei Verantwortung zu.
Ich habe mich ihm gegenüber anerkennend und dankbar dafür gezeigt, was sie mir erzählt hatten, auf der einen wie auf der anderen Seite der Geschichte: Wächter – Friederike Wächter, Horst Wächter –, Niklas Frank, Francesca Frank und weitere, die mir Zeit gewidmet hatten und sehr viel erzählt hatten.
Ich bin auf der einen Seite der Geschichte aufgewachsen, und ich wusste von der anderen Seite der Geschichte gar nichts. Und mit den Nachfahren von Personen auf der anderen Seite der Geschichte so viel Zeit zu verbringen, war für mich etwas ganz, ganz Wichtiges und hat mir sehr viel gebracht. Ich habe dabei gelernt, zu verstehen, was es heißt, auf der anderen Seite der Geschichte zu stehen, und dass auch das Schweigen auf der anderen Seite der Geschichte ganz stark ist – in Chile, in Deutschland, in Österreich, in Großbritannien. Überall, wo die Dinge nicht gut gelaufen sind, verschweigt man sie, und für diese Begegnungen bin ich sehr dankbar.
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Ich denke, für eine Frage haben wir vielleicht noch Zeit.
Fragesteller aus dem Publikum: Ich stelle sie auf Deutsch und auf Englisch. Wie lange haben Sie hierfür gearbeitet? Ich habe nachgerechnet: 15 Jahre. Oder war es länger? Wie lange haben Sie daran gearbeitet? Danke.
Philippe Sands (in deutscher Simultandolmetschung): 2014/2015 bin ich im Schloss von Wächter auf dieses Familienarchiv gestoßen, und das hat mich dann sofort interessiert. Und das erste Interview, das ich für das Buch geführt habe, war das mit Baltasar Garzón, diesem berühmten spanischen Richter, der im Oktober 1998 den Haftbefehl von Madrid nach London herausgab. Dann hätte man dann also sagen können, ich habe 2015 begonnen.
Aber damit Sie sich jetzt nicht über meine psychische Gesundheit Sorgen machen müssen: Ich habe mich nicht Tag und Nacht damit beschäftigt, sondern – und das gilt jetzt auch für die Fälle, die ich vor internationalen Strafgerichten betreut habe; da ist man auch jahrelang dran – man nimmt sich immer wieder Zeit, zwischendurch die Dinge zu verdauen, zu analysieren; das heißt, ja, das läuft über sehr viele Jahre. Aber sagen wir, ich habe zehn Jahre daran geschrieben, aber nicht Vollzeit.
Der erste Entwurf des Buches, das Schreiben des ersten Entwurfs war für mich das Komplizierteste. Das ist jetzt vielleicht meine britische Seite und nicht so sehr meine österreichische. Ich habe nicht wirklich ein System, wo ich mir zuerst die Struktur des Buches zurechtlege, sondern ich habe ein Blatt Papier, wo ich grob mal den Gedanken zusammenfasse.
Ich erzähle in Wirklichkeit ja zwei Geschichten, die auf den ersten Blick völlig separat zu sein scheinen, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Zeiten spielen. Inspiriert hat mich dabei ein befreundeter Schriftsteller, der mir ein Buch von Vargas Llosa gab, und das ist auch eine doppelte Geschichte: Da liest man zuerst Geschichte eins, dann ein bisschen etwas von Geschichte zwei, und immer hin und her zwischen den zwei Geschichten; und am Ende des Buches „Das Fest des Ziegenbocks“ kommen die zwei Geschichten zusammen. Und das ist für mich 2021 passiert, und da hat dann das Interessante eingesetzt.
Also der erste Entwurf war sehr zeitaufwendig, ziemlich mühsam, und auch meine Kinder sind der Meinung, dass ich erbärmlich bin, weil ich mit einem einzigen Finger tippe. Die lachen mich aus dafür, dass ich mit einem Finger tippe, aber für mich funktioniert das, weil das genau die Geschwindigkeit ist, in der sich die Geschichte auch herauskristallisiert. Das heißt, ich schreibe vielleicht 500 Wörter an einem Tag, und am Ende bin ich dann bei 140 000 Wörtern. Dann geht es zu den Lektorinnen und die kommen dann mit ihrer Kritik zurück.
Das Interessante bei diesem Buch war für mich Folgendes: Ich habe da nicht nur mit meiner englischen Editorin gearbeitet, sondern auch mit meiner spanischen Lektorin, und das ist deshalb faszinierend, weil sich da die kulturellen Unterschiede so zeigen. Ich werde nächstes Mal auch meine deutsche Lektorin – oder den Lektor – einbinden. Die bringen aus ihren jeweiligen Kulturen so viel mit. Zum Beispiel mag die englische Lektorin diese ganzen literarischen Verweise nicht, auf Bolaño und so weiter. Die Briten sind so pragmatisch, die wollen nicht so viele unnötige literarische Verweise und so weiter.
Die spanische Lektorin dagegen war genau das Gegenteil. Sie sagte: Das ist ja das Tolle an dem Buch, du brauchst mehr literarische Bezüge! Das heißt, ich habe hier zwischen den zweien ein bisschen verhandeln müssen. In dem Fall war ich eher dem spanischen Ansatz nahe und habe den Eindruck, dass das in der spanischsprachigen Welt dann auch besser funktioniert.
Interessanterweise ist es aber so, dass die spanische Lektorin mir gestern geschrieben hat, um mir zu sagen: Es ist toll gelaufen, wir müssen schon den zweiten Druck starten. Wir haben schon so und so viele Bücher verkauft. Die erste Auflage ist schon ausverkauft. – Ja, also das Schreiben funktioniert für mich im Team.
Auf die zwei Fragen, die mir bis jetzt gestellt wurden, zurückkommend: Viele Personen, mit denen ich gesprochen habe, sprechen nicht Englisch. Also habe ich mit einer fantastischen PhD-Studentin gearbeitet, die mich bei jedem Interview begleitet hat. Das war großartig. Da hatte ich gleichzeitig auch noch ein zweites Paar Augen, um zu sehen, ob diese Studentin die Dinge genauso sieht wie ich.
Das war natürlich noch zeitaufwendiger, aber besonders bedeutsam ist es geworden, als wir mit Anatolio Zárate zu tun hatten. Das ist dieser Mann in der Kapuze, der die deutsche Stimme erkannt hatte, die ich vorhin erwähnt habe. Mit ihm haben wir viele Stunden verbracht. Er ist jetzt 86 Jahre alt. Wir sind stundenlang bei ihm zu Hause gesessen, einem sehr intelligenten und agil gebliebenen Herrn. Er ist ein Ärztesohn, ist selber ein Ingenieur, ist ein sehr präzise strukturierter Mensch, und er hat ein bisschen Englisch gesprochen, aber im Wesentlichen Spanisch.
Und wir beobachteten ihn und haben gemeinsam mit ihm das Video von Rauff angeschaut und die Stimme von Rauff angehört, und dabei ist uns beiden eines aufgefallen, nämlich wie er körperlich erstarrt ist, wie er seine Hände zusammengekrampft hat und zu schwitzen begann und ganz stark zu atmen begann, als er Rauffs Stimme hörte. Das heißt, das war für ihn eine sehr schwer zu ertragende Situation.
Das Hilfreiche für mich dabei war, Monserrat dabei zu haben, diese Studentin, denn vielleicht hätte ich meinem eigenen Auge nicht so sehr geglaubt, aber sie hat mir bestätigt, dass es tatsächlich so gelaufen ist, wie ich es wahrgenommen habe. Für Bücher dieser Art ist es wichtig, dass man über eine längere Zeit im Team arbeitet. Genauso habe ich auch schon an „Rückkehr nach Lemberg“ gearbeitet, von 2010 bis 2016, und an „Die Rattenlinie“ von 2014/15 an bis 2020. Da bin ich nach Hagenberg gefahren und bin sehr oft mit Niklas Frank zusammengetroffen.
Ja, ich glaube, das kann nur so funktionieren, zumindest für mich kann es nur so funktionieren. Ja, vielleicht hätte ich schneller schreiben können, aber da hätte einiges gefehlt. Es hätten Nuancen gefehlt, wenn ich das Ganze schneller runtergeschrieben hätte. Ich habe ja auch einen Tagesjob, wo ich als Universitätsprofessor arbeite, und ich schreibe ja nicht zum Geldverdienen, sondern weil mich die Themen faszinieren. Das heißt, ich muss mich auch nicht beeilen. Ich habe auch keine wirtschaftlichen Anreize, das schnell fertigzubekommen, sondern ich kann mich da wirklich hineinarbeiten, kann achtmal nach Chile fahren und so weiter, kann mir Assistent:innen leisten. Also ich glaube, das langsame Arbeiten ist das Schöne daran. (Beifall.)
Marie-Theres Arnbom (in deutscher Simultandolmetschung): Vielen Dank, Philippe. Es war ein Vergnügen und wir könnten noch stundenlang weiterreden, aber ich denke, wir müssen allmählich zu einem Ende kommen, denn die Parlamentsmitarbeiter, -mitarbeiterinnen haben mich darauf hingewiesen. (Ende der Simultandolmetschung.)
Es gibt ein Glaserl zu trinken. Es gibt auch einen Büchertisch. Ich glaube, dass Philippe Sands gerne die Bücher signieren wird – das sage ich jetzt einmal so, ich habe ihn nicht gefragt, aber ich gehe davon aus.
Es gibt auch einen Tisch. Er hat für die Parlamentsbibliothek ein paar Bücher empfohlen, die er gerade liest oder die für ihn besonders wichtig waren, auch im Zuge dieser Recherche. Auch die werden auf einem eigenen Tisch präsentiert. Also schauen Sie mal sozusagen die Inspirationsquellen von Philippe Sands an!
Ich möchte mich auch wirklich bei der Bibliothek ganz besonders bedanken, bei allen Mitarbeitern. Danke, Herr Böck, auch an alle Ihre wunderbaren Leute! Und ich möchte darauf hinweisen: Diese wunderbare Bibliothek hier im Parlament ist öffentlich zugänglich. Sie können also jederzeit herkommen; auch Studenten und Studentinnen, die aus der Universitätsbibliothek momentan hinausgeflogen sind, können hier an einem wirklich wunderbaren Ort lernen. Ich möchte das jetzt wirklich sagen, weil es so eine gute Atmosphäre ist. Und ich freue mich, dass auch diese Veranstaltungen so gut ankommen. Vielen Dank!
Jetzt kann ich nur mehr sagen: Vielen Dank für diesen Abend! Danke fürs Kommen. Danke, Philippe, und kommen Sie wieder! (Beifall.)