10. November 2025
Programm
Eröffnungsworte
Peter Haubner – Zweiter Präsident des Nationalrates
Festrede
Alexander Van der Bellen – Bundespräsident
Gespräch
Andreas Khol – Präsident des Nationalrates a. D.
Franz Vranitzky – Bundeskanzler a. D.
Lesung
Sarah Gärtner-Horvath – Nachfahrin in dritter Generation
Yuval Yaary – Nachfahre in dritter Generation
Moderation
Hannah Lessing – Vorständin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus
Musik
Aliosha Biz – Violine
Joschi Schneeberger – Kontrabass
Harri Stojka – Gitarre
Beginn der Veranstaltung: 11.04 Uhr
Die Veranstaltung beginnt mit der musikalischen Darbietung des Stückes „Minor Swing“ von Django Reinhardt & Stéphane Grappelli, dargebracht von Aliosha Biz, Joschi Schneeberger und Harri Stojka.
(Beifall.)
Hannah Lessing (Vorständin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus): Hochverehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Schmidauer! Sehr geehrte Mitglieder der Präsidien von Nationalrat und Bundesrat! Hochverehrter Altbundespräsident! Verehrte Mitglieder der Bundesregierung! Geschätzte Mitglieder des Diplomatischen Corps sowie der Kirchen und der Religionsgemeinschaften! Werte Damen und Herren Abgeordnete zum Nationalrat und Mitglieder des Bundesrates! Sehr geehrte Festgäste hier im Saal und Zusehende vor den Bildschirmen! Ich begrüße Sie herzlich zum heutigen Festakt anlässlich 30 Jahre Nationalfonds hier im Sitzungssaal des Nationalrates.
Ich darf mich kurz vorstellen: Mein Name ist Hannah Lessing, ich war seit 1995 Generalsekretärin und bin nunmehrig Vorständin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Es ist mir eine Freude und Ehre, Sie durch diesen Festakt führen zu dürfen.
An dieser Stelle möchte ich noch zwei Personen namentlich begrüßen, die ihre persönliche Geschichte mit dem Nationalfonds in einem Gespräch mit uns teilen werden. Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie mit mir Bundeskanzler außer Dienst Franz Vranitzky und Nationalratspräsident außer Dienst Andreas Khol. (Beifall.)
Ein besonderes Willkommen sage ich den heute anwesenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Es ist schön, dass Sie diesen besonderen Augenblick mit uns teilen.
Ich darf Ihnen noch die drei Künstler vorstellen, die den heutigen Festakt musikalisch begleiten: danke an Aliosha Biz an der Violine, Harri Stojka an der Gitarre und Joschi Schneeberger am Kontrabass. – Danke. (Beifall.)
Meine sehr geehrte Damen und Herren, heute ist ein Tag, an dem Trauer und Freude aufeinandertreffen. Zum einen ist diese Geburtstagsfeier des Nationalfonds ein Zurückblicken auf 30 Jahre im Dienst einer großen Aufgabe, zugleich jedoch ist der 10. November untrennbar mit dem Gedenken an einen der schwärzesten Momente unserer Geschichte verbunden, denn vor genau 87 Jahren waren die Novemberpogrome grausame Vorboten der NS-Herrschaft in Österreich.
Mit den Folgen des Gewaltregimes von 1938 bis 1945 umzugehen und die historische Verantwortung Österreichs zum Ausdruck zu bringen, ist seit 30 Jahren Arbeit des Nationalfonds. Ich wurde 1995 zu seiner Generalsekretärin berufen und durfte daher die Entwicklung des Nationalfonds sozusagen von seinen Kinderschuhen an begleiten und mitgestalten. Dies war mir auch persönlich immer eine Herzensangelegenheit, denn die NS-Verfolgung traf auch Menschen aus meiner eigenen Familie. Meine Großmutter Margit Lessing wurde in Auschwitz ermordet, mein Vater musste als 16-Jähriger alleine flüchten.
Im Zentrum unserer Arbeit im Nationalfonds standen von Beginn an die Überlebenden der Verfolgung – Menschen, deren Leben grundstürzend verändert worden ist. Man hat sie erniedrigt, beraubt, aus ihrer Heimat herausgerissen, ihre Familien ermordet. Für die, die die Verfolgung überlebt haben, sei es im Exil oder auch hier in Österreich, war das Leben nie wieder wie zuvor. Diese Überlebenden zu erreichen, 50 Jahre danach, war ein Wettlauf gegen die Zeit. Um Ihnen eine Vorstellung davon zu geben: Es gab damals 150 Menschen, die noch vor 1900 geboren waren, der Älteste im Jahr 1891. Seit 1995 konnten wir 30 000 Menschen aus allen Opfergruppen als Opfer des Nationalsozialismus anerkennen.
In den folgenden Jahrzehnten habe ich den Fonds wachsen sehen. Er hat sich entwickelt. Ihm wurden weitere Aufgaben übertragen – in einem Österreich, das sich bis heute immer neuen und sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen gegenübersah. Die Vorsitzenden des Kuratoriums des Nationalfonds – vom ersten Vorsitzenden Heinz Fischer, und danke nochmals, dass ich diese tolle Aufgabe übernehmen durfte, über Andreas Khol und die viel zu früh verstorbene Barbara Prammer bis zu Doris Bures und Wolfgang Sobotka – haben alle, jede und jeder auf eigene Art und Weise, Antworten auf die Herausforderungen der Zeit gesucht und den Fonds somit geprägt.
Unser aktueller Kuratoriumsvorsitzender ist seit diesem Jahr der Zweite Präsident des Nationalrates Peter Haubner, der dieses Amt des Vorsitzenden mit Umsicht ausübt. Ich darf ihn nun um seine Eröffnungsworte bitten. (Anhaltender Beifall.)
Eröffnungsworte
Peter Haubner (Zweiter Präsident des Nationalrates): Manchmal genügt nur ein Schritt, um Geschichte zu schreiben, ein einziger Schritt, der nicht nur juristische, sondern vor allem moralische Bedeutung hat. So ein Schritt wurde vor 30 Jahren gesetzt: Am 27. April 1995, dem 50. Jahrestag der Wiederherstellung der Republik, trat das Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus in Kraft.
Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrte Frau Schmidauer! Sehr geehrte Mitglieder der Präsidien von Nationalrat und Bundesrat! Sehr geehrte Mitglieder der Bundesregierung! Geschätzte Festgäste! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dass dieser Festakt heute hier im Hohen Haus stattfindet, ist von einer tiefen Symbolkraft. In der Zeit des Nationalsozialismus, dem dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, wurde wie so vieles andere auch das Parlament zum Schweigen gebracht. Heute stehen wir hier in Freiheit zusammen, getragen von den Werten unserer liberalen Demokratie, um der Opfer dieser schrecklichen Zeit zu gedenken und um 30 Jahre Wirken des Nationalfonds zu würdigen. Wir müssen gerade deshalb mit hoher Sensibilität darauf achten, welche Art von Veranstaltungen wir hier im Hohen Haus abhalten und welche Signale wir damit aussenden.
Die Gründung des Fonds wurde 1995 vom Nationalrat beschlossen – getragen vom Willen, Verantwortung zu übernehmen und Unrecht anzuerkennen. Der Nationalfonds war und ist Ausdruck des österreichischen Bekenntnisses, dass das Leid, das vom Naziterrorregime ausgegangen ist, niemals vergessen werden darf. Das Leid darf nicht relativiert werden, es darf nicht verdrängt werden und es darf niemals verharmlost werden.
Doch, meine Damen und Herren, Gedenken alleine genügt nicht. Es reicht nicht, nur zurückzublicken, wir müssen auch aktiv handeln, um das Erinnern lebendig zu halten, und genau das tut der Nationalfonds. Er hält uns vor Augen, dass hinter jeder nüchternen Zahl ein Leben, eine Familie, ein Verlust steht. Jedes geförderte Projekt erzählt auch eine Lebensgeschichte, eine Geschichte von Leid und Verlust, aber auch von Überleben, von Mut und von der Hoffnung. Durch das unermüdliche Engagement von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ist es gelungen, diese Geschichten in die Gegenwart zu tragen und so eine Brücke von der Vergangenheit bis in die Zukunft zu bauen – eine Brücke, die durch kein Geschichtsbuch ersetzt werden kann.
Seit seiner Gründung unterstützt der Nationalfonds mit einer Vielzahl von Maßnahmen und Projekten die Verfolgten des NS-Regimes und trägt damit zur individuellen Anerkennung des erlittenen Unrechts bei.
Im Jahr 2001 wurde auf Grundlage des Washingtoner Abkommens ein weiterer Fonds zur Aufarbeitung des NS-Unrechts eingerichtet: der Allgemeine Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus. Sein Ziel war es, offene Fragen in Bezug auf Verluste und Schäden Zehntausender Menschen umfassend zu lösen. Auf Basis desselben Abkommens wurde im Jahr 2010 der Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich beim Nationalfonds eingerichtet. Er leistet einen zentralen Beitrag zur Bewahrung bedeutender Erinnerungsstätten.
Doch der Nationalfonds ist weit mehr als ein Instrument zur Anerkennung erlittenen Unrechts. Er war auch verantwortlich für die neue österreichische Länderausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau und er war mit der Errichtung der Shoah-Namensmauern-Gedenkstätte in Wien betraut. Sie erinnert an mehr als 65 000 ermordete jüdische Männer, Frauen und Kinder aus Österreich. Beide Projekte stehen exemplarisch für das Bestreben, Gedenken sichtbar zu machen, historische Verantwortung dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, und so hat der Nationalfonds nicht nur in den Biografien einzelner Menschen Spuren hinterlassen, sondern auch die Erinnerungskultur unserer Gesellschaft nachhaltig geprägt.
Ein besonderes Zeichen setzt auch der Simon-Wiesenthal-Preis, der seit 2021 hier im österreichischen Parlament verliehen wird. Er würdigt besonders zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und die Aufklärung über den Holocaust. Die Preisträgerinnen und die Preisträger wirken weit über die Grenzen Österreichs hinaus, denn Erinnerung endet nicht an der Grenze eines Landes, sie ist universell und sie verpflichtet uns alle.
Mit der Novelle des Nationalfondsgesetzes im vergangenen Jahr wurde die Arbeit des Fonds noch stärker auf die Zukunft ausgerichtet, auf die Einbindung von jungen Menschen, auf die Förderung von Gedenkdienstleistenden, auf den internationalen Austausch, denn nur gemeinsam mit der nächsten Generation können wir das Bewusstsein der Lehren aus der Vergangenheit lebendig halten und zu einem demokratischen Selbstverständnis beitragen.
Es braucht immer wieder Impulse für eine zeitgemäße Präventionsarbeit, es braucht aber auch die Wissensvermittlung über den Nationalsozialismus, seine Nachgeschichte und seine Folgen, und beiden Herausforderungen stellt sich der Nationalfonds mit seiner jährlichen Konferenz, die ebenfalls hier im Parlament organisiert wird.
Der Nationalfonds ist zudem mit der Errichtung der Gedenkstätte für die NS-Opfer aus den Reihen der Roma und Sinti betraut. Diese Gedenkstätte unterstreicht die Verantwortung Österreichs, das Unrecht, das dieser Volksgruppe zugefügt wurde, anzuerkennen und sichtbar zu machen. Sie steht für das Bestreben, alle Opfergruppen der NS-Verfolgung in das kollektive historische Gedächtnis einzubeziehen. Nur, wenn wir auch jener gedenken, die wegen ihrer politischen Einstellung, aus Gründen der Abstammung, Religion, Nationalität, aufgrund der sexuellen Orientierung, körperlicher oder geistiger Behinderung, wegen des Vorwurfs der sogenannten Asozialität oder aus Gründen, die Menschen auf andere Weise zu Opfern typisch nationalsozialistischen Unrechts werden ließen, verfolgt wurden, werden wir dem Anspruch einer umfassenden Erinnerungskultur gerecht.
Meine Damen und Herren, dieses 30-Jahr-Jubiläum ist mehr als eine Zahl. Es ist ein Moment des Innehaltens, ein Moment, Danke zu sagen. Unser besonderer Dank gilt vor allem den Überlebenden, die den Mut gefunden haben, ihre Geschichte zu erzählen. Wir danken auch all jenen politischen Akteuren – einige wichtige Persönlichkeiten sind heute ja auch hier –, die mit ihrem Verantwortungsbewusstsein, ihrer Umsicht und ihren Beschlüssen zum Werden und Wirken des Nationalfonds beigetragen und damit die Verantwortung für Österreich und seine Geschichte übernommen haben.
Seit seiner Gründung hat der Nationalfonds rund 3 200 Projekte und Programme mit insgesamt über 40 Millionen Euro gefördert. Noch bemerkenswerter als die Anzahl ist allerdings ihre hohe Qualität. Jedes einzelne dieser 3 200 Projekte wurde von Komitee und Kuratorium des Nationalfonds mit großem Engagement, persönlichem Einsatz und mit Sorgfalt geprüft und ausgewählt.
Das ist inhaltlich wie zeitlich ein anspruchsvoller Einsatz, er verlangt vor allem eine Vielzahl an Entscheidungen, immer im Sinne der Opfergruppen. Daher möchte ich allen Mitgliedern des Komitees und des Kuratoriums ganz herzlich danken, meinen aufrichtigen, wirklichen Dank auch aussprechen. Danke an alle Partnerinstitutionen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dieses Werk mit Leben erfüllen. Nur durch ihren täglichen Einsatz und vor allem durch ihr Herzblut gelingt es, Projektanträge in bleibende und nachhaltige Programme umzusetzen und damit Worte, die auf Papier geschrieben sind, in Denkmäler, in Ausstellungen, in Bücher oder Begegnungen zu verwandeln. Ich bedanke mich vor allem bei unseren beiden Vorständinnen Hannah Lessing und Judith Pfeffer für ihre wertvolle Arbeit und ihr unermüdliches Engagement. (Beifall.)
Sie stehen nicht nur stellvertretend für all das, was der Nationalfonds leistet, sondern sie stehen auch hinter der Arbeit des Nationalfonds, sie stehen für die Anerkennung des erlittenen Unrechts und sie stehen entschlossen gegen das Vergessen – danke dafür. (Beifall.)
Natürlich gilt mein Dank all denjenigen, die den Fonds zu dem gemacht haben, was er heute ist: ein lebendiges Zeichen der Verantwortung und des Nie-wieder. Es ist ein Nie-wieder, das nicht nur eine Plattitüde sein darf, sondern das vielmehr ein Auftrag sein muss, ein Auftrag an Staat und Gesellschaft, an Bildung und Politik, an jede und jeden Einzelnen von uns. Eine Demokratie, die Antisemitismus duldet, verliert ihr Fundament, denn wer Menschen aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Herkunft ausgrenzt, greift auch das Herz der Demokratie an. Er greift die Idee an, dass alle Menschen in gleicher Würde geboren sind, und deshalb gefährdet Antisemitismus nicht nur das Leben von Jüdinnen und Juden, nein, Antisemitismus gefährdet unsere ganze Demokratie. (Beifall.)
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine wachsame Demokratie erkennt diese Gefahr und stellt sich ihr mit Haltung entgegen – mein Dank geht da auch an die Bundesregierung für die heute präsentierte Antisemitismusstrategie. Wenn wir über Haltung sprechen: Das ist etwas, für das der Nationalfonds der Republik Österreich seit 30 Jahren steht. 30 Jahre Nationalfonds bedeuten für mich, die Vergangenheit anzuerkennen, aber auch die Gegenwart aktiv zu gestalten, um die Zukunft unserer Demokratie zu sichern, denn nur so wird es gelingen, dass Erinnerung weitergetragen wird, als Verpflichtung, als Mahnung und als Quelle unserer Menschlichkeit. – Vielen Dank. (Beifall.)
Hannah Lessing: Meine sehr geehrten Damen und Herren, die zahlreichen Aufgaben aus 30 Jahren darzustellen, würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen. Der folgende Film ist ein Kurzporträt, er kann Ihnen eine Vorstellung davon geben, was den Nationalfonds ausmacht. Er beleuchtet die Entstehungsgeschichte – wie es dazu kam, dass der Nationalfonds geschaffen wurde – und stellt einige seiner zentralen Aufgaben, Projekte und Highlights aus drei Jahrzehnten vor. – Daher nun ohne viele weitere Worte: Film ab.
Es folgt eine Videoeinspielung.
Sprecherin: Der Zweite Weltkrieg und die sieben Jahre lange Herrschaft der Nationalsozialisten von 1938 bis 1945 zählen zu den dunkelsten Kapiteln der österreichischen Geschichte. Zehntausende Menschen wurden Opfer des menschenverachtenden NS-Regimes, sie wurden vertrieben, beraubt, entrechtet und ermordet.
Nach Kriegsende 1945 setzte sich in Österreich für lange Jahre der Opfermythos durch. Österreich sah sich demnach als erstes Opfer Hitlers. Die Frage nach der eigenen Schuld wurde nicht gestellt.
Es dauerte bis Mitte der 1980er-Jahre und insbesondere bis zum Fall Kurt Waldheim, bis eine breite Diskussion in Gang gesetzt wurde, die auch die Verantwortung Österreichs an den NS-Verbrechen zum Inhalt hatte. Ein Wendepunkt ist die Rede des damaligen Bundeskanzlers Franz Vranitzky im Nationalrat im Juli 1991, in der er die Mitschuld vieler Österreicherinnen und Österreicher ausspricht.
Franz Vranitzky (österreichischer Bundeskanzler in den Jahren 1986 bis 1997): Wir bekennen uns zu allen Daten unserer Geschichte und zu den Taten aller Teile unseres Volkes, zu den guten wie zu den bösen; und so wie wir die guten für uns in Anspruch nehmen, haben wir uns für die bösen zu entschuldigen – bei den Überlebenden und bei den Nachkommen der Toten. Dieses Bekenntnis haben österreichische Politiker immer wieder abgelegt, ich möchte das heute ausdrücklich auch im Namen der österreichischen Bundesregierung tun.
Sprecherin: 50 Jahre nach Ende der NS-Herrschaft werden Rahmenbedingungen für eine Politik der historischen Verantwortung festgelegt. 1995 wird die gesetzliche Grundlage für den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus geschaffen. Der Nationalfonds nimmt seine Arbeit auf.
Hannah Lessing (Vorständin Nationalfonds): Die erste Aufgabe des Nationalfonds war es, die verschiedenen Opfergruppen zu definieren, denn der Nationalfonds ist für alle Opfergruppen mit österreichischer Herkunft, das heißt Juden, Roma, Sinti, Opfer aufgrund sexueller Orientierung, also Homosexuelle, Kinder vom Spiegelgrund, Zeugen Jehovas, Kärntner Slowenen. Das hat, glaube ich, in der Gesellschaft in Österreich erst ein gewisses Wissen erzeugt, weil viele Leute gar nicht wussten, dass auch viele kleine Gruppen verfolgt wurden.
Sprecherin: Die Anerkennung der Verfolgung erfolgt auch auf finanzieller Ebene über symbolische Gestezahlungen: 30 000 österreichische NS-Überlebende in über 70 Ländern haben eine Gestezahlung von rund 5 000 Euro erhalten.
Hannah Lessing: Die Hilfe ist mit unglaublich viel Liebe aufgenommen worden. Ich habe am Anfang meinen Mitarbeiter:innen gesagt: Erwartet euch nicht, dass man uns offen entgegentritt, weil: 50 Jahre zu spät. – Es erfüllt mich mit unglaublicher Demut, mit wie offenen Armen wir angenommen worden sind. Es war eben nicht die symbolische Geldsumme, sondern dass hier eine neue Generation ist, die einfach die Hand ausstreckt und sagt: Es tut uns leid! – Das war wirklich sehr, sehr schön, zu sehen, wie diese Geste angenommen worden ist.
Sprecherin: Der Nationalfonds hat auch die Lebensgeschichten der Opfer recherchiert.
Erika Kosnar (Holocaust-Überlebende, 2000): Eine Lehrerin ist reingekommen und hat zu mir gesagt, ich soll aufstehen, ich bin nicht würdig, mit arischen Kindern in die Schule zu gehen.
Sprecherin: 40 000 Personenakten wurden archiviert. 2001 wird mit dem Washingtoner Abkommen zwischen Österreich und den Vereinigten Staaten die Grundlage für zwei vom Nationalfonds administrierte Fonds geschaffen: Der Allgemeine Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus wurde zur Abgeltung erlittener Vermögensverluste aus der NS-Zeit eingerichtet und 2022 nach Abschluss seiner Aufgaben aufgelöst. Der Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe bewahrt diese vor dem Verfall und soll sie als Teil des jüdischen Kulturerbes erhalten. Bis 2050 sollen mehr als 60 Friedhöfe restauriert werden.
Eine weitere zentrale Aufgabe des Nationalfonds ist die Förderung von Projekten, die an das nationalsozialistische Unrecht und das Schicksal der Opfer erinnern: Projekte wie wissenschaftliche Arbeiten, Bücher, Filme.
Der 2005 verstorbene KZ-Überlebende Simon Wiesenthal machte es sich zur Lebensaufgabe, NS-Verbrecherinnen und -Verbrecher aufzuspüren. Er war ein wichtiger Mahner gegen den Antisemitismus. Ihm zu Ehren vergibt der Nationalfonds seit 2021 den Simon-Wiesenthal-Preis.
Im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurde eine neue österreichische Länderausstellung eingerichtet. Eröffnung war im Oktober 2021 im Beisein des Bundespräsidenten. Der Nationalfonds betreut die Ausstellung und gewährleistet ihren Betrieb.
Im November 2021 ist im Ostarrichipark in Wien die Schoah-Namensmauern-Gedenkstätte eröffnet worden. 64 000 Namen erinnern an die ermordeten jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Österreich – eine würdige Gedenkstätte, zu der der Nationalfonds die Betreuung und die Vermittlungsarbeit verantwortet.
Judith Pfeffer (Vorständin Nationalfonds): Es ist so, dass die Gedenkstätte sich seit der Eröffnung relativ schnell als Gedenk- und Erinnerungsort in der Stadt etabliert hat. Sie wird von vielen österreichischen Nachkommen, aber auch von Angehörigen der NS-Opfer aus vielen Ländern weltweit besucht, und wir merken bei den Rückmeldungen der Angehörigen und Familien, was für ein tiefes emotionales Anliegen es ihnen ist, dass die Namen ihrer Vorfahren im öffentlichen Raum bewahrt werden.
Sprecherin: Insgesamt hat der Nationalfonds in 30 Jahren über 3 000 Projekte sowie Programme in mehr als 20 Ländern gefördert, doch die Arbeit ist nicht zu Ende.
Judith Pfeffer: Mit der Novelle des Nationalfondsgesetzes 2024 wurden die Aufgaben erweitert, insbesondere mit dem Fokus, junge Menschen in die Gedenk- und Erinnerungsarbeit einzubeziehen und sie zu unterstützen.
Sprecherin: Es wird ein Schwerpunkt gesetzt, um Desinformation in digitalen Medien entgegenzuwirken. Unterstützt werden junge Menschen auch im Rahmen eines Gedenkdienstes und bei Austauschprogrammen.
Judith Pfeffer: Insofern sind 30 Jahre eine besondere Wegmarke, aber kein Schlusspunkt. Gedenken und Erinnern und dieser Auftrag sind von Generation zu Generation weiterzugeben, von Stimme zu Stimme und von Mensch zu Mensch.
(Beifall.)
Hannah Lessing: Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich darf Ihnen nun den Festredner dieser Feierstunde ankündigen, und ich bin sehr glücklich, dass er dem Nationalfonds diese Ehre erweist: Unser Bundespräsident Alexander Van der Bellen ist selbst seit vielen Jahren eine Stütze des Nationalfonds. Er hat dessen Ziele und Aufgaben bei zahlreichen Anlässen unterstützt und gestärkt. Schon vor zwei Jahrzehnten während seiner Zeit als Nationalratsabgeordneter war er selbst Mitglied in unserem Komitee und hat viele wichtige Entscheidungen mitgetragen. Er ist daher mit den Aufgaben des Fonds bestens vertraut, und er ist auch als Staatsoberhaupt ein beständiger Wegbegleiter für uns geblieben. Unsere Wege haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gekreuzt – sei es bei Gedenkfeierlichkeiten an der Namensmauer oder bei der Eröffnung des Mahnmals für österreichische NS-Opfer in Maly Trostinec oder in der Gedenkstätte Auschwitz, wo er 2021 auch die neu gestaltete österreichische Länderausstellung eröffnet hat.
Alexander Van der Bellen ist ein Botschafter der Erinnerung in Österreich, ein Mahner mit klarem Blick dafür, wie wertvoll und wichtig ein besonnener Umgang mit der Vergangenheit für die Zukunft unseres Lebens ist. „Auschwitz ist nicht vom Himmel gefallen“, hat er sehr deutlich bei der Eröffnung der Ausstellung in Auschwitz gesagt, und ich höre immer wieder von Überlebenden und ihren Familien, die mit dem Jewish Welcome Service nach Österreich zurückkehren, dass der Empfang beim Bundespräsidenten in der Hofburg der Höhepunkt dieser Reise sei und wie willkommen man sich fühle. Für sie symbolisiert diese Einladung die besondere Wertschätzung durch Österreich. Für seine klare und umsichtige Haltung und den großen Respekt, den er den Überlebenden zum Ausdruck bringt, hat das Internationale Auschwitz-Komitee ihn 2018 mit der „Gabe der Erinnerung“ geehrt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, es freut mich daher besonders, dass Alexander Van der Bellen nun die Festrede zum 30-jährigen Jubiläum des Nationalfonds halten wird. – Bitte. (Beifall.)
Festrede
Alexander Van der Bellen (Bundespräsident): Meine Damen und Herren, jetzt bin ich ganz gerührt, aber ich werde versuchen, trotzdem zu sprechen.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ Alle Menschen – alle! – sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, so lautet der erste Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, eines unverzichtbaren Fundaments unserer Demokratie. Und doch ist es keine 100 Jahre her, nicht mehr als die Spanne eines Menschenlebens, dass eben nicht alle Menschen gleich waren, dass die Würde des Menschen doch antastbar war. Heute ist der 10. November, der Morgen der Novemberpogrome von 1938. Jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden damals bestohlen, beraubt, verletzt, gedemütigt und ermordet. Die Nationalsozialisten haben Verbrechen begangen, die man im von der Aufklärung geformten, hoch zivilisierten Europa für undenkbar gehalten hatte.
Nach 1945 herrschten in Österreich darüber lange Schweigen und Verdrängung, und erst 1991 bekannte der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky vor dem Nationalrat – also hier – ausdrücklich die Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern an den NS-Verbrechen. Österreich trägt Verantwortung.
Als klares und dauerhaftes Zeichen dafür wurde 1995 der Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus eingerichtet. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehören seither die Anerkennung und Unterstützung aller österreichischen Opfer des Nationalsozialismus, egal aus welchem Grund sie verfolgt wurden, unter ihnen Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, politische Gegner, slowenischsprachige Kärntnerinnen und Kärntner, Zeugen Jehovas und viele andere, die Opfer typisch nationalsozialistischen Unrechts geworden sind. Für viele der unter dem NS-Regime Entrechteten und Verfolgten waren es gerade das Gespräch und der Kontakt mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Nationalfonds, die es ihnen möglich machten, sich wieder als Teil Österreichs zu fühlen – als Teil Österreichs. Anerkennung des Leids ist zur Linderung des Traumas von damals unerlässlich.
Als ich vor circa 20 Jahren unter dem damaligen Nationalratspräsidenten Andreas Khol Mitglied im Komitee des Nationalfonds war, habe ich selbst erlebt, wie wichtig diese späte Anerkennung ist, nicht nur für die Überlebenden und ihre Familien – natürlich besonders für sie –, sondern auch für das historische Selbstverständnis des heutigen Österreich. Wenn ich als Bundespräsident Holocaustüberlebende, ihre Enkel, ihre Kinder treffe, zum Beispiel im Rahmen des Jewish Welcome Service, dann spüre ich oft ihre tiefe Verbundenheit mit der alten Heimat Österreich. Zu dieser Verbundenheit hat der beständige Brückenbau durch den Nationalfonds wesentlich beigetragen.
Über die Jahre hat der Nationalfonds viele weitere Schritte der tätigen Verantwortung gesetzt: durch die Förderung von Projekten, die die Erinnerung bewahren und zu einer Sensibilisierung in der Gesellschaft beitragen, oder durch die Schoah-Namensmauern-Gedenkstätte, mit der die Erinnerung an die jüdischen Opfer einen sichtbaren Platz im Gedächtnis unseres Landes gefunden hat – erst vor Kurzem war ich dort gemeinsam mit meinem deutschen Amtskollegen Frank-Walter Steinmeier –, oder auch durch die neue österreichische Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau, die deutlich macht, wie wichtig das beständige und immer neue Lernen aus der Geschichte ist. Erinnerung an die Ermordeten ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Erinnerung bedeutet Anerkennung.
Und so hoffe ich auch sehr, dass für alle Opfergruppen ein Ort des würdigen Gedenkens entsteht, ein Ort, der für manche Nachkommen die Funktion eines Grabsteins hat, ohne dass es ein tatsächliches Grab gibt. Er drückt die Haltung der Republik und der Gesellschaft aus und hat somit eine hohe Bedeutung für uns alle.
Meine Damen und Herren! Heute leben nur mehr wenige Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Ihre Erinnerungen und was sie aus bitterer Vergangenheit gelernt haben, drohen wieder verloren zu gehen. Wenn wir die Welt im Jahre 2025 ansehen, dann müssen wir erkennen, dass Antisemitismus und Rassismus auch im neuen Jahrtausend nicht überwunden sind. Im Gegenteil: Wir sehen immer mehr Hass, Verachtung und Gleichgültigkeit auf der ganzen Welt. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stehen vor wachsenden Herausforderungen.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde 1948 beschlossen, unter dem noch frischen Eindruck der nationalsozialistischen Gräueltaten, jenen – ich zitiere – „Akten der Barbarei, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen“. Die Menschenrechtserklärung bezog ihre Kraft aus der lebendigen Erinnerung 1948. Wir brauchen auch heute Institutionen wie den Nationalfonds als Hüter der Erinnerung, um uns daran zu erinnern, dass Unvorstellbares jederzeit wieder passieren kann, wenn wir nicht wachsam sind, um uns daran zu erinnern, dass Freiheit und Demokratie nicht selbstverständlich sind und dass jede Generation aufs Neue lernen muss, sie wertzuschätzen, zu bewahren und entschlossen zu verteidigen. Denn: Gesellschaftliche Veränderungen passieren oft unmerklich in kleinen, sehr kleinen Schritten, die kontinuierlich unsere Lebenswelt formen.
Meine Damen und Herren! Der Nationalfonds mit seinen engagierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern rund um Hannah Lessing hat im Laufe der vergangenen 30 Jahre viele Menschen erreicht. Sie alle im Nationalfonds haben wertvolle Beiträge geleistet, um unser Land zum Besseren hin zu verändern. Sie alle haben vielen einst Verfolgten vermittelt, dass sie wieder ein Teil Österreichs sind. Sie alle schaffen Bewusstsein durch Kultur- und Forschungsprojekte, Bücher, Filme und Veranstaltungen, aber vor allem durch die Schaffung der persönlichen Kontakte.
Ich danke Ihnen für Ihr wertvolles Wirken und wünsche dem Nationalfonds alles Gute zum Jubiläum. – Vielen Dank. (Beifall.)
(Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Scherele“, traditioneller Klezmer, dargebracht von Aliosha Biz, Joschi Schneeberger und Harri Stojka.)
(Beifall.)
Gespräch
Hannah Lessing: Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich nun auf ein Gespräch mit zwei Persönlichkeiten, die man, wenn es um die Entstehung des Nationalfonds geht, durchaus als Geburtshelfer bezeichnen könnte.
Franz Vranitzky hat den Weg bereitet, als er in seiner Rede vom 8. Juli 1991 als Bundeskanzler die moralische Mitverantwortung vieler Österreicherinnen und Österreicher für die NS-Verbrechen im Parlament offen angesprochen hat. Zwei Jahre später, am 9. Juni 1993, als er als erster österreichischer Bundeskanzler Israel besuchte, bekannte er an der Hebräischen Universität in Jerusalem ebenfalls die Mitverantwortung Österreichs und fand Worte der Entschuldigung.
Andreas Khol hat die Arbeit des Nationalfonds von Anfang an begleitet. 1995, als der Nationalfonds eingerichtet wurde, war er Unterzeichner des Initiativantrages zum Bundesgesetz über den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. Während seiner Zeit als Nationalratspräsident von 2002 bis 2006 hat er die Arbeit des Nationalfonds als Vorsitzender des Kuratoriums geleitet und geprägt.
Darf ich Sie zu mir bitten? (Beifall. – Andreas Khol und Franz Vranitzky nehmen gemeinsam mit Hannah Lessing im Halbrund vor dem Rednerinnen- und Rednerpult Platz.)
Sehr geehrter Herr Präsident außer Dienst und sehr geehrter Herr Bundeskanzler außer Dienst! Danke, dass Sie gekommen sind, um Ihre persönliche Geschichte mit dem Nationalfonds zu beleuchten. Der Chronologie der Fondsgeschichte folgend möchte ich mit einer Frage an Sie beginnen, Herr Bundeskanzler außer Dienst.
Zur Errichtung des Nationalfonds kam es im Gefolge Ihrer viel zitierten Rede vom 8. Juli 1991. Vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden Opferthese war das ein großer Schritt, der einen Paradigmenwechsel in Österreich eingeleitet hat. Was ist die Vorgeschichte? Wie kam es zu dieser Rede? Warum zu diesem Zeitpunkt? Was hat Sie zu so klaren Worten bewogen? Was waren damals Ihre Überlegungen?
Franz Vranitzky (Bundeskanzler a. D.): Ich habe schon in der Vorzeit der Gründung des Nationalfonds und vor der Abgabe dieser Erklärung hier im Hohen Haus ziemlich lange damit gekämpft, dass die österreichische Politik auf einer Wissens- und Meinungsbildung aufgebaut hat, die eigentlich – das ist ein hartes Wort, aber ich sage es trotzdem – einer Lebenslüge gleichkam, nämlich diesen Opfermythos so zu pflegen, dass man offen und eindeutig immer wieder gesagt hat: Wir konnten nichts dafür, wir waren nicht schuld, schuld waren die Deutschen, die deutschen Nationalsozialisten!
Gesprächspartner haben mir öfter bedeutet, dass die österreichischen Nazis, die es ja schon vor 1938 gab, in ihrem Antisemitismus und in ihrer grundlegend terroristischen nationalsozialistischen Einstellung wilder waren als die deutschen Nationalsozialisten. All das hat mich geärgert, denn ich habe mit Gesprächspartnern, Freunden, Bekannten öfter darüber geredet und gemeint, man müsse das richtigstellen, wir können nicht auf dieser Basis unseren Staat weiter aufbauen und so tun, als wäre nichts gewesen. Man hat mich gewarnt und hat gesagt: Sag das nicht, unternimm nichts, das ist ein zu heikles Thema in Österreich! – Ich hatte aber die Erklärung längst vorbereitet.
Es war einmal im Hohen Haus Anfang der 1990er-Jahre eine Debatte über den Jugoslawienkrieg – eine höchst schwierige und für uns Österreicher ja vollkommen ungewöhnliche Sache, dass vor der Haustüre auf einmal die Staatsbürger eines Staates, mit dem wir gelebt haben, wirtschaftlich, touristisch et cetera, mit Waffen und mit höchster Brutalität gegeneinander vorgehen –, und da habe ich mir gedacht: Das ist jetzt endlich einmal eine Gelegenheit, zu sagen: Regen wir uns über das auf, was in Jugoslawien geschieht, vergessen wir dabei aber nicht: Bei uns gab es das auch schon – wenn auch in einer Vorzeit, aber immerhin. – So habe ich zu dieser Erklärung gefunden.
Ich sage jetzt zwischenabschließend: Es gab ganz wenige Stimmen, die das nicht goutierten, was ich da erklärte. Die „Kronen Zeitung“ hatte einen Kolumnisten namens Staberl, der das als überflüssige Fleißaufgabe beschrieben hat. Aber die große Zahl der Frauen und Männer, die ich in Österreich getroffen habe und die mit mir darüber gesprochen haben, haben gesagt: Endlich, wir haben schon darauf gewartet, dass das jemand tut!, und ich bin dankbar für diese Reaktion. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke vielmals.
Bleiben wir noch kurz bei der Zeit der Gründung des Nationalfonds. Herr Präsident außer Dienst, 1995, als der Nationalfonds mit dem bereits angesprochenen Bundesgesetz geschaffen wurde, war Österreich mitten in einem Prozess der Aufarbeitung seiner NS-Vergangenheit. Im Laufe der Jahre hat sich die gesellschaftliche Wahrnehmung diesbezüglich weiterentwickelt. Vor welchen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen stand man damals, 1995, und was war die Rolle des Nationalfonds?
Andreas Khol (Präsident des Nationalrates a. D.): Als die Vorgespräche zum Nationalfonds begannen, tobte in Österreich und auch international die Diskussion darüber, ob Österreich nicht nur Opfer, sondern auch Täter sei. Das hat schon vor der Wahl von Kurt Waldheim begonnen. Kurt Waldheim wurde international geschnitten, geächtet – die österreichische Bevölkerung verstand das zum Großteil nicht.
Als wir die Diskussionen vorbereitet haben, haben wir festgestellt, dass ein Großteil der Menschen überhaupt nicht wusste, was Österreicherinnen und Österreicher während der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft taten. Wir haben als Kinder – ich bin Jahrgang 1941 – lediglich aus der Moskauer Deklaration erfahren: Österreich war das erste Opfer des Nationalsozialismus!, und damit begann der Mythos des Opfers.
Aber schon vor der Wahl von Kurt Waldheim hat sich in Amerika Widerstand dagegen gezeigt, dass Österreich sich aus der Verantwortung stiehlt. Es begannen dort schon Vorbereitungen – Stuart Eizenstat, Class Actions, Klagen gegen Österreich. Nach der Wahl von Kurt Waldheim ebbte die Diskussion nicht ab, sondern sie ging mit Vehemenz weiter, und viele Menschen in Österreich verstanden das einfach nicht.
Es war eine Pioniertat, als Franz Vranitzky am 8. Juli 1991 in der Debatte über den Zerfall Jugoslawiens dazu Stellung nahm. Ich darf erinnern: Diese Debatte war nicht ohne Problematik. Alois Mock hatte Nachfolgestaaten anerkannt. Bundeskanzler Vranitzky war auf der Regierungsbank, ich saß dort hinten in der letzten Reihe (auf die Abgeordnetenplätze weisend) – ich war außenpolitischer Sprecher der Volkspartei – und hörte das, was Bundeskanzler Vranitzky wieder wiederholt hat und was im Zusammenhang mit der Rede in Jerusalem 1993 für mich die Vranitzky-Doktrin geworden ist: Ja, Österreich als Staat war ein Opfer, aber viele Österreicherinnen und Österreicher haben an den Gräueltaten Mitschuld, haben Verantwortung, und daher hat die Republik Österreich nicht nur moralisch die Verpflichtung, sondern die Verpflichtung, da zu handeln. Das war damals der Beginn der Diskussion um das Ende des Opfermythos.
Wir – Peter Kostelka, der leider viel zu früh verstorbene Kollege von mir, sozialdemokratischer Klubobmann, und ich – haben von Ihnen, Herr Bundeskanzler außer Dienst, und Erhard Busek die Aufgabe bekommen: Bringt endlich das Nationalfondsgesetz durch den Nationalrat! – Es war steckengeblieben, denn in allen Fraktionen gab es Unverständnis, und es musste dafür geworben werden.
Es war für mich erschreckend, zu sehen – auch ich selbst wusste das gar nicht –, dass es zum Beispiel 100 KZ-Nebenstellen in Österreich gab – ich wusste das nicht –, und wir erfuhren von den Gräueltaten der österreichischen SS-Funktionäre und Ähnliches. Das musste erst diskutiert werden.
Als Peter Kostelka und ich übernahmen, waren die Arbeiten zum Nationalfonds eigentlich festgefahren. Es gab durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Es ging dann zuletzt um die Frage der Höhe, die Frage, ob es eine Geste sein sollte, aber die entscheidende politische Frage war, dass es Kräfte gab, die eine Art Kollektivschuld Österreichs im Verfassungsrang in diesem Nationalfondsgesetz verankert wissen wollten, und das ging nicht.
Peter Kostelka und mir ist es dann gelungen, in den Fraktionen doch einen Konsens für den Nationalfonds zu erzielen. Es war unglaublich spannend, zu sehen, wie sich die Diskussion entwickelte. Als wir hier im Plenum des Nationalrates das Nationalfondsgesetz diskutiert haben, sind wir davon ausgegangen, dass die Freiheitlichen dem Gesetz nicht zustimmen würden. Ich erinnere mich noch, wie Jörg Haider sich gemeldet und hier am Rednerpult plötzlich gesagt hat: Nein, die Freiheitlichen werden zustimmen und werden ihrer Verantwortung gerecht!
Genauso spannend war es, als Terezija Stoisits hier gesprochen hat – sie ist heute hier. Den Grünen ging das Gesetz nicht weit genug, und sie haben daher dagegengestimmt. Es war also eine durchaus spannende Sache.
Der Nationalfonds wurde gegründet – vielen war es nicht recht, den meisten war es recht, aber das Eis war gebrochen. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke vielmals, Herr Präsident außer Dienst.
Werfen wir vielleicht in den folgenden Fragen einen Blick auf die Auswirkungen im Zusammenhang mit der Arbeit des Nationalfonds.
Herr Bundeskanzler außer Dienst, wenn Sie zurückblicken: Wie beurteilen Sie die Entwicklung in Österreich seit 1995 in Bezug auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit? Was haben die Einrichtung und die Arbeit des Nationalfonds bewirken können? Oder umgekehrt gefragt: Was denken Sie, wäre in Österreich anders, hätte man den Nationalfonds damals nicht gegründet?
Franz Vranitzky: Ich schließe mich allen Stimmen an, die trotz dieser Relativierungen und Einschränkungen, die Herr Präsident Khol gerade vorgebracht hat, sagen, dass ja in Wirklichkeit ein großer Wurf gelungen ist. Es ist politisch ein großer Wurf gelungen. Wir kennen ja unsere liebe österreichische Seele; da wird dann gesagt: So viel Geld geht dorthin – das hätten wir doch besser hier gebraucht. Und die anderen sagen, es war eigentlich noch viel zu wenig. Damit muss man leben, das ist so.
Insgesamt hat die Arbeit des Nationalfonds aber nicht nur der Unterstützung der Opfer gedient, sondern auch der Reputation Österreichs in den kritischen Kreisen im Land und außerhalb – in Europa, vielfach auch in den USA –, und sie hat für Ruhe gesorgt. Es war eigentlich mit einem Schlag vorbei, dass gesagt wurde: Das sind immer noch verkappte Nazis, die halten die Wertgegenstände, die schönen Bilder und dieses und jenes zurück! – Wir kennen alle diese Diskussionen.
Ich selbst habe es erlebt. Bei einem abendlichen Spaziergang auf der 5th Avenue in New York spricht mich ein Mann über das Wetter an. Auf einmal kommen wir darauf, dass ich Österreicher bin, und er sagt: Oh, that old Nazi country! – Es hat mir schon gereicht.
So wertvoll und so segensreich die Arbeit des Fonds ist: Wir befinden uns trotzdem in einer Situation, in der zwar ein Ziel erreicht, aber kein Ende gesetzt wurde. Der österreichische Autor Robert Schindel schreibt in einem Beitrag, der Antisemitismus gehört zur DNA des Abendlandes. Und er sagt außerdem: Antisemitismus, Judenhass ist Menschenhass. Ich glaube, daran muss man immer wieder anknüpfen.
Es wurde ja schon vielfach gesagt: Wir können und sollen und dürfen doch nicht unsere Grundsätze der Menschenrechte und unsere demokratiepolitischen Grundsätze, die wir ja über Jahrzehnte erarbeitet haben, aufs Spiel setzen, indem wir den Hass zu einer Triebfeder gesellschaftlicher Entwicklungen degenerieren lassen. Das wäre in Wirklichkeit schon ein nächstes Verschulden, das wir uns nicht leisten sollen.
Die österreichische Bundesregierung hat ja in den letzten Stunden eigentlich wiederum auf ihre Strategie hingewiesen, und ich finde das ausgesprochen notwendig und nützlich und nicht nur moralisch, sondern auch politisch klug und gescheit. Es gehört aber noch etwas dazu: Es gehört Sensibilität dazu, Sensibilität in dem Sinn, als wir – mit welchen Maßnahmen immer und mit welchen Unterlassungen immer – nicht über die Opfer drüberrollen. Es geht immer noch um die Opfer, es geht immer noch um potenzielle Gefährdung der Nachfahren derer, die an diesem 9., 10. November 1938 bedrängt, gequält und ermordet wurden. Das ist ja der Kernpunkt dieser ganzen Angelegenheit, und daher sind wir nicht berechtigt, da mit mangelnder Sensibilität oder gar zynisch drüberzufahren.
Es gibt ja genug Zynismus. Zynismus ist in der Politik daheim, er hat nur die Eigenschaft, keine Probleme zu lösen, sondern neue zu schaffen. Und Zynismus haben wir schon genug erlebt und gelernt. „Jedem das Seine“ oder „Arbeit macht frei“ ist für mich Zynismus genug. Ich brauche das nicht mehr, und wir werden auch keine neuen Ziele damit erreichen.
Langer Rede kurzer Sinn: So wie die Bundesregierung das jetzt formuliert hat, ist sie auf dem richtigen Weg. Es ist auch der richtige Weg, die ganze Sache – Antisemitismus, kontra Antisemitismus, Menschenrecht, Menschengerechtigkeit, Menschenachtung – in das politische Geschehen einzubauen. Das ist vollkommen klar – aber mit der notwendigen Sensibilität und ohne Anwendung irgendeiner Art von Zynismus, irgendeiner Art von Rechthaberei, irgendeiner Art von indirekter Schuldzuweisung.
Du wirst auf der Brücke über den Donaukanal belästigt, weil du anders ausschaust. Anders Ausschauen ist kein Verschulden, bitte schön! Überhaut: Wer ist berechtigt, Vergeltung für Verschulden aus seiner eigenen Position, als einzelne Person auszuüben? – Niemand! Das ist in den Menschenrechten enthalten, dass es nicht nur das Menschenrecht des Einzelnen gibt, sondern auch das Verbot des Überschreitens des Menschenrechtes eines anderen.
Der Herr Bundespräsident hat auf die Demokratie hingewiesen. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, obwohl es zurzeit viele Gegenstimmen in der Welt gibt – sie mehren sich leider –, dass unsere Demokratie und wir, die Träger dieser Demokratie, stark genug sind, um diesen Zynismus nicht wieder zur Welt kommen zu lassen. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke vielmals.
Herr Präsident außer Dienst, ich möchte nun gerne direkt auf Ihre Zeit als Vorsitzender des Nationalfondskuratoriums zu sprechen kommen: Es waren die ersten Jahre der Umsetzung des Washingtoner Abkommens mit den Entschädigungsmaßnahmen des allgemeinen Entschädigungsfonds, aber auch der Anerkennung von weiteren Opfergruppen. Ich habe Sie damals als sehr engagierten Vorsitzenden erlebt. Was hat diese Funktion für Sie persönlich bedeutet? Was konnte bewirkt werden? Gibt es auch etwas, bei dem Sie sagen, da hätten Sie gerne mehr bewirkt?
Andreas Khol: Man hat nie genug bewirkt. Diese Selbstgerechtigkeit weise ich von mir. Die Arbeit – zuerst im Nationalfonds und dann im Entschädigungsfonds – war durchaus Neuland, und es war unglaublich spannend. Obwohl Sie anwesend sind, möchte ich das jetzt sagen: Es war ein wirklicher Glücksgriff, dass wir damals Sie zur Geschäftsführerin des Nationalfonds gemacht haben. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke schön. Danke.
Andreas Khol (fortsetzend): Sie waren eine Bankmanagerin, jung, dynamisch, und haben das zu Ihrer Lebensaufgabe gemacht. Man muss sich vorstellen, dass es zum Höhepunkt der Arbeit aller Fonds zusammen, wenn ich mich richtig erinnere, an die 140 Mitarbeiter gegeben hat, die Sie beaufsichtigt haben.
Ich kann mich erinnern, dass ich an den Wochenenden an die 20 000 Briefe im Zusammenhang mit der Arbeit des Entschädigungsfonds unterschrieben habe. Ich habe mir das nicht leicht gemacht, ich habe mir die Dinge angeschaut. Um es kurz zu machen: Ich habe unglaublich viel dabei gelernt und ich habe mitbekommen, wo überall Menschen aus Österreich in der Diaspora waren: die Wohlhabenderen in Amerika, der Mittelstand in England, die Armen in Südamerika. Das hat man alles anhand der Briefe und der Akten sehen können. Es war eine weit verbreitete Diaspora.
Auch ich, Herr Bundeskanzler außer Dienst, habe die Dankbarkeit für Kleinigkeiten erfahren, denn es waren ja nicht mehr als Kleinigkeiten. Ich habe Folgendes gelernt und glaube, dass ich dabei Verantwortung wahrgenommen habe: Die Befassung mit diesen Gestenzahlungen und den Entschädigungen nach dem Entschädigungsfonds hat mir gezeigt, dass wir da ja an einem Faden gezogen haben und immer mehr kommt. Es kommt immer mehr, und ich habe daher all meine politische Wirkungsmöglichkeit eingesetzt, damit es nicht bei Nationalfonds, Entschädigungsfonds, Friedhöfen geblieben ist, sondern ich bin froh, dass mit Viktor Klima als Bundeskanzler und Wolfgang Schüssel dann das Kunstrückgabegesetz beschlossen wurde. Das ist etwas, was in anderen Ländern heute noch nicht erreicht wurde. Das war eine mutige Geschichte.
Ich kann mich erinnern, wie alle gezittert haben, als wir die Adele Bloch-Bauer, dieses berühmte Bild, zurückgegeben haben. Frau Gehrer war eine mutige Ministerin und hat sich die Durchführung zur Aufgabe gemacht. Was wird Dichand sagen? Was wird die „Kronen Zeitung“ schreiben? Sie erinnern sich an Staberl, der über Sie hergefallen ist. Ich muss aber sagen, da war die Diskussion zum Glück schon relativ weit fortgeschritten. Die „Kronen Zeitung“ hat die Kunstrückgabe nicht begrüßt, aber nicht sabotiert; da hätte man ja mobilisieren können, das ist aber nicht geschehen. Der Opfermythos war da schon zu Ende.
Das Nächste war dann die ganz wichtige Zwangsarbeiterentschädigung. Das muss in einem Atemzug genannt werden. Es gab ja nicht nur die, die wir vertrieben und entrechtet und bestohlen und ermordet haben, sondern auch die, die wir hereingeholt, geknechtet, versklavt, ausgebeutet haben. Da entstand in der Ära Schüssel – Maria Schaumayer, Riess-Passer – dann ein neuer Fonds.
Dieser Versöhnungsfonds brachte das Ergebnis, dass man die Millionen von Zwangsarbeitern entschädigen konnte. Waltraud Klasnic, Maria Schaumayer und Herwig Hösele haben sich da große Verdienste erworben, daher möchte ich sie heute nennen, denn die Zwangsarbeiterproblematik gerät leicht in Vergessenheit. Das war eine riesige Sache. Dass wir das in Österreich bewältigen konnten, erfüllt mich heute mit einer gewissen Befriedigung, so sehr ich auch meine Sorgen habe, was die Zukunft betrifft – aber darüber werden wir ja noch reden. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke vielmals.
Ich möchte unser Gespräch mit einer letzten Frage beschließen, die an Sie beide gerichtet ist. Ich darf Sie dabei jeweils nacheinander um eine kurze Antwort ersuchen.
Wehret den Anfängen! – Das hört man im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus immer wieder, denn das NS-Regime konnte auch deshalb so stark werden, weil viele die Vorzeichen nicht sehen wollten, aber Entwicklungen auch zugelassen haben. Wo sehen Sie die Herausforderungen für die Politik im Jahre 2025 und wo liegt die Verantwortung von Politikerinnen und Politikern, wenn es um die drohende Relativierung von Geschichte und Werten der Demokratie geht?
Würden Sie bitte anfangen, Herr Präsident außer Dienst?
Andreas Khol: Das wäre natürlich ein weites Land, ein ganzes Seminar. Ich kann nur Stichworte sagen. Über die Bekämpfung des Antisemitismus brauche ich heute nicht zu sprechen. Mich macht es betroffen, dass neben den klassischen Quellen des Antisemitismus, des Antijudaismus, neben dem Antisemitismus von rechts jetzt linksradikale Kräfte – die äußerste Linke – über den Konflikt in Gaza einen neuen Antisemitismus hervorziehen – in weiten Bereichen unwidersprochen.
Mich macht das sehr betroffen. Ich sage, der Kampf gegen den Antisemitismus ist etwas, das wir in diesem Zusammenhang jeden Tag als Erstes und Wichtigstes leisten müssen. Ich stimme mit Ihnen, Herr Bundeskanzler außer Dienst, völlig überein, dass wir auch dem Rassismus, der ja sozusagen eine Nebenform ist, entgegentreten müssen. Ich bin froh über die Antiislamismusstrategie, die jetzt entwickelt wurde.
Das Zweite ist: Wir müssen auch alles Autoritäre bekämpfen. Man darf beim Kampf gegen das Krokodil nicht selbst zum Krokodil werden, hat Karl Jaspers gesagt. (Beifall.) Es geht nicht, dass man für vermeintlich gute Zwecke das Recht bricht, zur Selbsthilfe greift und das Gewaltmonopol des Staates infrage stellt. So heilig ist der Zweck nicht, dass er solche Mittel rechtfertigt. Wir müssen dieser Form des Autoritären, der Einsetzung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele, von wo immer her sie kommt, überall entgegentreten.
Ein dritter Punkt: Böckenförde, ein großer deutscher Staatsleher, hat gesagt: Die säkulare Demokratie lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. – Das heißt also, die Voraussetzung dafür, dass unsere Demokratie leben kann, ist die Anerkennung eines Grundwertesockels, der zum Teil vom Recht, zum Teil vom Anstand, von der Moral, von den politischen Überzeugungen gestaltet wird, und da spielt die Bürgergesellschaft eine ganz große Rolle.
Ich könnte darüber leider Gottes viel zu lange reden. Nur noch ein letzter Punkt: Ich möchte nicht verschweigen, dass auf der einen Seite die Institutionen der Bildung viel mehr zu leisten haben. Ich hoffe, dass im Zuge der Neuordnung des Wehrdienstes die politische Bildung im Bundesheer wieder den Stellenwert erreicht, den sie einmal hatte; sie ist in weiten Bereichen der Wehrdienstverkürzung zum Opfer gefallen. Das Bundesheer und der Zivildienst sind die Schulen der Nation. Dort diesen Grundwertesockel zu festigen, ist absolut notwendig.
Zum Schluss noch: Ich glaube, dass die Medien eine große Rolle haben. Es ist jetzt ein wichtiges Buch über die „Ökonomie der Angst“ erschienen. Ich glaube, die Angstmacherei, die Spaltungstätigkeit, das Dramatisieren in vielen Medien bereiten dem Autoritären den Weg, und dagegen müssen wir alle kämpfen. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke.
Schlusswort bitte.
Franz Vranitzky: In den 1970er- oder 1980er-Jahren erschien ein Buch von Prof. Erwin Ringel. Das Buch heißt „Die österreichische Seele“. Ein Kernelement dieses Buches ist die Aussage von Prof. Ringel, was die Kerneigenschaften der Österreicher sind. Er schreibt, die hauptsächliche Eigenschaft, eine Kerneigenschaft der Österreicher ist das Verdrängen. Ich fürchte, wir müssen uns zusammenreißen und sehr viel mehr gegen das Verdrängen unternehmen.
Ich kann jeden Satz von Herrn Prof. Khol nachvollziehen und ihm zustimmen. Ich füge aber noch hinzu: Diese Einstellung gegen das Autoritäre betrifft uns in Wirklichkeit jeden Tag. Sie betrifft uns in der Energiefrage – Öl, Gas –; sie betrifft uns – so absurd das klingt – bei den Lebensmittelpreisen, siehe Österreichaufschlag; sie betrifft uns in anderen Angelegenheiten der Wirtschaft, wenn die europäischen Unternehmungen, vor allem die großen, im Schulterschluss mit den jeweiligen Regierungen gar nicht so unfaule Kompromisse eingehen, etwa mit den USA, nur aus der Angst heraus, dass der nächste Strafzoll aus dem Weißen Haus sie wieder trifft. Und so kann man das fortsetzen.
Wir verdrängen – nicht nur wir Österreicher, wir Europäer –, dass wir als Europäer eigentlich eine Weltmacht sind. Weil wir das verdrängen, splittern wir uns in einzelne Nationalismen auf und werden dadurch schwach gegenüber China, Russland, USA und den anderen großen. Das Ergebnis des Verdrängens ist also eine Eigenschwächung, weil wir nicht den Schulterschluss aller Europäer machen.
Zum Schluss noch: Wir sagen, wir sind für Demokratie und gegen Autoritarismus. Wir sagen aber nicht, warum. Welche sind denn eigentlich unsere Lebensgrundlagen in der Demokratie und welche dieser Lebensgrundlagen drohen im Unterliegen der demokratischen Einstellungen und Systeme gegenüber den autoritären verloren zu gehen?
Es gibt ein Hilfsmittel, das wir auch verdrängen: Social Media. Wir glauben immer noch, die Weisheit, die wir über Politik und Wirtschaft und Kultur erlangen, schöpfen wir allein aus Zeitungen und Zeitschriften. Das ist nicht so.
Viele Menschen lesen die sogenannten Qualitätszeitungen gar nicht, sondern hängen am Internet. Wir verdrängen die Wichtigkeit dieser Plattformen, und damit verdrängen wir einen weiteren Todesstoß für die Demokratie, weil die Techmilliardäre, die von niemandem gewählt werden, in Wirklichkeit die Politik bestimmen. – Danke vielmals. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke vielmals. Ja, wir schöpfen trotzdem Mut aus den Worten – vielen, vielen Dank.
Es folgt die musikalische Darbietung des Stückes „Romale, Romale“ von Harri Stojka & Ivana Ferencova, dargebracht von Aliosha Biz, Joschi Schneeberger und Harri Stojka.
(Beifall.)
Lesung
Hannah Lessing: Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Nationalfonds wurde für alle Opfer des Nationalsozialismus geschaffen – ich habe das vorhin schon angesprochen. Ein wichtiger Teil der Anerkennung war immer, den Opfern eine Stimme zu geben. Das bedeutet: zuzuhören, wenn sie ihre Geschichte erzählen; zu bewahren und weiterzugeben, was sie aus ihren Erfahrungen mit uns teilen; die Geschichte ihres Lebens und die Geschichten ihrer Verfolgung als einen Teil österreichischer Geschichte zu begreifen. Dieses Zuhören war immer ein wichtiger Teil unserer Arbeit im Nationalfonds, als Ausdruck des Respekts, nicht nur vor dem Schicksal, sondern vor dem ganzen Menschen.
Was wir aber auch erfahren haben: Die existenzielle Erfahrung von Verfolgung ist eine Last, die nicht nur die Überlebenden selbst tragen, es ist eine Last, die auch die Kinder und Kindeskinder trifft. Viele Überlebende haben nach dem Krieg jahrelang geschwiegen, um das Erlittene zu vergessen und um ihre Kinder zu schonen – ich habe dieses Schweigen bei meinem Vater selbst erlebt –, aber das Trauma, ausgesprochen oder nicht, wirkt über die Generationen hinweg. Die nachfolgenden Generationen müssen ihren eigenen Umgang mit diesen Erfahrungen, mit ihrer Familiengeschichte finden, und auch sie müssen eine Stimme haben, die gehört wird.
Wir hören nun zwei solcher Stimmen: Es sind die Stimmen von Sarah Gärtner-Horvath und von Yuval Yaary, beide Enkel von Überlebenden aus zwei Opfergruppen.
Sarah Gärtner-Horvath ist Romni, sie ist die Tochter des Volksgruppenbeiratsvorsitzenden Emmerich Gärtner-Horvath und war schon als Kind immer im Volksgruppenleben der Roma mit dabei. Als Lehramtsstudentin ist sie im Lernbetreuungsteam vom Verein Roma-Service aktiv. Sie befasst sich intensiv mit Antiziganismus und den Möglichkeiten, ihm entgegenzuwirken.
Yuval Yaary ist der Enkel von Moshe Jahoda, der ein bekannter Sohn Wiens ist – im 15. Bezirk ist der Moshe-Jahoda-Platz nach ihm benannt. Moshe Jahoda erlebte als Kind den Novemberpogrom im zarten Alter von 12 Jahren, flüchtete alleine nach Israel. Er war der einzige Überlebende seiner Familie.
Dem Nationalfonds war er eng verbunden. Er setzte sich zeit seines Lebens mit großer Energie für die Rechte der Überlebenden ein. Sein Enkel Yuval ist von Israel nach Wien zurückgekommen, in die Heimatstadt seines Großvaters, und er hat als Nachkomme die österreichische Staatsbürgerschaft angenommen. So schließt sich ein Kreis. – Darf ich euch bitten?
Yuval Yaary (Nachfahre in dritter Generation):
„Er war noch ein Kind,
als er seine Bitte an das Palästinaamt richtete.
Er wollte weg,
in ein Land,
wo er als Jude leben könnte,
ohne Angst und ohne Antisemitismus.
Eines Morgens
stieg er auf sein Fahrrad
und fuhr zum Amt in der Stadt.
Er wusste nicht, was ihn dort erwartete.
Als er ankam,
standen bewaffnete Polizisten am Eingang.
Ein Polizist fuhr ihn an:
,Was willst du hier, Junge?‘
Er sagte:
,Ich möchte mich erkundigen im Palästinaamt. Ich habe etwas aufzuklären.‘
Der Polizist sagte:
,Lass dein Rad da und lauf rauf die Stufen.‘
Dann gab er ihm einen Schlag von hinten.
Oben, im Warteraum,
standen viele Menschen.
Sie wurden dort stundenlang festgehalten.
Erst am Nachmittag
durften die Kinder gehen.
Er nahm sein Fahrrad
und fuhr in den siebten Bezirk,
zu seiner Großmutter.
Sie bestand darauf:
,Lass das Fahrrad hier.‘
Und er gehorchte.
Als er sich auf den Heimweg machte,
sah er schon Rauch.
Er stieg aus der Straßenbahn
und näherte sich der Synagoge. Nicht ganz –
aber nah genug, um zu sehen:
Der Tempel brannte.
Das Feuer fraß sich durch die Mauern,
durch die Fenster,
durch die Erinnerungen.
Dort,
wo er mit seinem Großvater gebetet
und im Chor gesungen hatte,
brannte seine Kindheit nieder.
Er sah die Flammen
und wusste, dass sich etwas unwiderruflich verändert hatte.
Er dachte:
Gott wird das nicht zulassen.
Aber Gott schwieg.
Es war ein Tag, der ihn vom Kind zum Erwachsenen machte –
ein Tag, der sein Leben veränderte.
Dann hörte er,
dass auch andere Synagogen brannten –
in der ganzen Stadt.
Und alle, die er kannte,
lebten in Angst.
An diesem Tag
und in der Nacht danach.
Doch das Feuer hat ihn nicht vernichtet –
und auch nicht die Juden.
Es hat uns geprägt.
Es hat uns gelehrt, wer wir sind
und was nicht verbrannt werden kann – nicht der Glaube,
und nicht die Hoffnung.“
Das waren die Erinnerungen meines Großvaters – Moshe Jahoda –, als er sah, wie der Turnertempel brannte, und mit ihm ein Stück seiner Kindheit.
Die Geschichte meines Großvaters endet nicht mit dem Feuer. Er war entschlossen, weiterzuleben, in Eretz Israel, und für den Staat Israel und für das jüdische Volk in aller Welt zu kämpfen. Mein Großvater gründete eine Familie mit drei Kindern, sieben Enkeln und – bis heute – neun Urenkeln.
Mein Großvater, der seine Heimat Österreich liebte, war ihr gegenüber zugleich sehr kritisch, denn viele hier hatten mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Er konnte nicht begreifen, wie „Mutter Erde“ – Mutter Österreich – ihre eigenen Kinder in den Tod schicken und ihre Söhne und Töchter vertreiben konnte.
Und dennoch, trotz all des Schmerzes und der Wut, fand er die Kraft, hierher zurückzukehren – in seiner Aufgabe als Vertreter des jüdischen Volkes, um sich für die Überlebenden der Shoah einzusetzen. Zwischen seiner Heimat Israel und dem Land, in dem er geboren wurde, teilte er fortan sein Leben, denn er sah, dass in der jungen Generation echtes Mitgefühl und ehrliches Bewusstsein für das Leid wuchsen, das Österreicherinnen und Österreicher den Juden zugefügt hatten.
Und ich – sein Enkel – bin heute hier, weil er daran glaubte, dass man anders handeln kann, dass Leben, Verantwortung und Erinnerung stärker sind als Hass und Zerstörung.
Und wir – die ihn und die Opfer des nationalsozialistischen Regimes erinnern – tragen die Verantwortung, weiter zu sagen: Erinnert euch an die Vergangenheit und schaut euch um! – Die Welt hat noch immer nicht alles gelernt. Der Hass auf Juden existiert noch, er zeigt nur neue Gesichter. Aber solange wir aufrecht stehen und wissen, wer wir sind, wird das Feuer uns nicht besiegen. Das ist sein Vermächtnis an uns alle. (Beifall.)
Sarah Gärtner-Horvath (Nachfahrin in dritter Generation):
„Seit er in den 1990er-Jahren begonnen hat, nach Spuren zu suchen, begleitete ihn eine Frage:
Was ist von uns geblieben?
Was ist vom Roman, seiner Sprache, seiner Kultur, seiner Würde noch da?
Was von seiner Identität als Rom?
Und immer wieder kam diese eine, bittere Frage:
Was hat zu dem Bruch in unserer Tradition geführt?
Er hat drei seiner Geschwister nie kennengelernt.
Sie sind vor seiner Geburt ermordet worden.
Was ist mit ihnen passiert?
Womit hatten es unsere Leute damals zu tun?
Wie kann man so etwas tun – und warum gab es so wenig Widerstand?
Natürlich haben die Verwandten davon erzählt, was geschah.
Aber ihre Geschichten waren leiser, vorsichtiger.
Sie wollten nicht alles sagen.
Sie wollten ihn ohne Hass aufwachsen lassen.
Sie hielten die Brutalität von ihm fern.
Erst langsam wurde ihm klar, wie viel sie verschwiegen – um ihn zu schützen.
Das waren die Überlegungen meines Vaters, Emmerich, als er 2005 mit dem Projekt Mira Historija – meine Geschichte – zu arbeiten begann,
kam er mit unseren Alten ins Gespräch.
Da merkte er, wie viele auf der Suche nach Verwandten waren.
Er erzählte von seiner Suche nach seinen Geschwistern.
Und sie berichteten ihm,
dass viele Romakinder aus dem Burgenland im Ghetto von Łódź waren.
Und dass sie dort die Kinder mit Pferden tottrampelten –
und dass auch ihre Geschwister dabei gewesen sein konnten.
[Dieses Projekt war ein Kraftakt.]
Den unmittelbaren Anstoß zu Mri Historija gaben Adolf Papai und Maria Horvath. Frau Horvath erzählte meinem Vater, dass sie als ,Asoziale‘ im Lager gewesen war
und später keinen Anspruch auf Haftentschädigung hatte.
Er versuchte, ihr zu helfen – vergeblich.
Der zweite Anstoß kam von Adolf Papai.
Er erzählte ihm, wie sein Vater in Auschwitz getötet wurde.
Er hatte sich Asche aus Auschwitz schicken lassen – und sie beerdigt.
Damit gab er auch den Anstoß zum Gedenktafel-Projekt,
das Orte des Gedenkens an unsere Toten schaffen sollte.
Mein Vater hatte den Eindruck,
die Leute wollten etwas loswerden.
Sie hatten das Bedürfnis zu reden.
Auch um zu mahnen,
dass sich diese Vergangenheit nie wiederholen darf.
Wenn man so will: ein Vermächtnis.
[Verbitterung und Vergeben.]
Die inhaltliche Seite war schwer.
Ihre Erzählungen haben tief getroffen.
Sie redeten über Dinge,
die viele ihren Kindern nie erzählt hatten.
Nach solchen Gesprächen saßen sie oft stundenlang still.
Kein Wort. Erst langsam begannen sie wieder zu reden.
Man muss sich vorstellen:
Jeder hat damals Menschen verloren, die er liebte.
Manche – alle.
Die ganze Familie.
Kinder, Jugendliche, Alte.
Das Leid war unermesslich.
Und dennoch:
Bei all der Verbitterung, die verständlich war,
hat sie immer wieder die Bereitschaft zu vergeben tief bewegt.
Wenn sie sagten:
,Nach dem Krieg hätten wir es ihnen heimzahlen können.
Aber wir haben es nicht getan.‘
Ich denke, das hat mit Glauben zu tun.
[Große Geborgenheit.]
Trotz allem war da auch etwas Tröstliches.
In den Gesprächen erlebten sie große Wärme.
Die Leute haben sich gefreut, dass jemand zuhört,
dass sich jemand interessiert,
dass sie ihre Geschichten erzählen können.“
Das waren die Erinnerungen meines Vaters gelesen von mir – einer Nachfahrin in dritter Generation. Das Interviewprojekt „Mri Historija“ war mehr als ein Stück Forschung, es war eine Reise zu unseren Wurzeln. Für mich – für unsere Generation – ist es ein Erbe, eine Ermutigung, hinzuschauen, wo andere wegsehen, zu fragen, wenn es bequemer wäre, zu schweigen. Mein Vater hat mit den Stimmen derer gesprochen, die zu lange keine Stimme hatten. Er hat sie bewahrt – für uns und all jene, die nach uns kommen, damit wir verstehen, wer wir sind und was es bedeutet, Mensch zu bleiben.
Heute, wo Hass und Ausgrenzung wieder lauter werden, müssen wir ihre Worte neu hören, nicht nur als ihre Lebensgeschichten, sondern als Mahnung – und als Hoffnung. (Beifall.)
Hannah Lessing: Danke. Es fällt mir schwer, nach diesen wunderbaren Lesungen noch Worte zu finden – ich danke euch.
Meine sehr geehrte Damen und Herren, der Nationalfonds, das Kind von damals, ist erwachsen geworden. Aus einem ambitionierten Projekt – den ersten Schritten des jungen Fonds in jenen Jahren, als noch nicht abzusehen war, wie sich diese späte Geste der Republik gestalten würde – ist etwas Größeres gewachsen: eine Institution, die die Verantwortung Österreichs auf vielen verschiedenen Ebenen übernommen hat.
Eine wichtige Voraussetzung für unsere Arbeit war und ist bis heute der Rückhalt, den der Nationalfonds durch die Gesellschaft und die Politik erfährt. Im Kuratorium, dem Leitungsorgan des Nationalfonds, wirken Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und unterschiedlichen Weltanschauungen zusammen, die verschiedene Bereiche unserer Gesellschaft repräsentieren. Sie alle haben darin ihre Stimme. Sie haben den Fonds über die Jahre gemeinsam geführt – mit Gesprächen, Kompromissbereitschaft über so manche Parteigrenzen hinweg für ein größeres gemeinsames Ziel. Gerade in gesellschaftspolitisch sensiblen Fragen braucht es diesen Geist der Zusammenarbeit, um etwas bewirken zu können.
Allen Vorsitzenden danke ich für 30 Jahre ausgezeichneter Zusammenarbeit und das Vertrauen, das Sie uns entgegengebracht haben. Danke auch dem Komitee für seine beständige Arbeit – mit einem speziellen Dank an Parlamentsvizedirektorin Susanne Janistyn-Novák, die seit 30 Jahren ihre Erfahrung und ihr Feingefühl einbringt. (Beifall.)
Ebenso danke ich allen Kooperationspartnern und -partnerinnen, allen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern in Österreich und international – viele sind heute hier. Die langjährige Zusammenarbeit hat ein wichtiges Fundament für eine Gedenkkultur, die über Österreichs Grenzen hinausreicht, geschaffen.
Ein großer Dank gebührt dem Team des Nationalfonds, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, den ehemaligen ebenso wie jenen, die heute im Nationalfonds zusammenarbeiten – danke für euer Engagement, eure Beharrlichkeit, eure Empathie.
Einen besonderen Dank sage ich meiner ehemaligen Stellvertreterin als Generalsekretärin Renate Meissner, die von der ersten Stunde des Fonds bis zu ihrem Ruhestand im vollen Einsatz im Sinne der Überlebenden tätig war. (Beifall.) Danke auch Judith Pfeffer, die seit letztem Jahr meine Kollegin im Vorstand des Nationalfonds ist.
Die Aufgaben der vergangenen 30 Jahre waren nur gemeinsam zu schaffen. Dasselbe gilt auch für die Aufgaben der Zukunft. Wenn ich auf diese 30 Jahre zurückschaue, dann denke ich zuallererst an die vielen Begegnungen mit den Überlebenden, an die Gespräche, von denen uns jedes einzelne eine einzigartige Perspektive auf erlebte Geschichte vermittelt hat, an die Lebensgeschichten, die uns anvertraut worden sind, an das, was wir von ihnen über erlebte Geschichte, aber auch menschlich lernen konnten, an die Bande, die mit den Überlebenden selbst, aber auch mit den Kindern und den Kindeskindern geknüpft worden sind. Diese Menschen haben unser Leben berührt und geprägt. Ihnen gilt unser größter Dank.
Je weiter die Vergangenheit wegrückt, desto mehr sehe ich Ähnlichkeiten zu heute!, hat eine Holocaustüberlebende schon vor einigen Jahren gesagt. Heute stehen wir an einer Zeitenwende, an der diese warnenden Stimmen immer leiser werden. Die Reihen der Überlebenden lichten sich. In wenigen Jahren wird es niemanden mehr geben, der die NS-Herrschaft selbst erlebt hat und uns davon erzählen könnte. Doch wir haben die Möglichkeit, die Erinnerung am Leben zu erhalten, die Essenz dessen, was sie uns weitergegeben haben, zu bewahren. Erinnerung ist ein flüchtiges Gut, das kaum errungen schon wieder verloren geht. Gedenkkultur und Erinnerung sind daher nicht etwas, was wir bereits erreicht haben und das dann einfach bestehen bleibt, nein, es ist ein Prozess, für den man sich immer von Neuem entscheiden muss, den man lebendig halten muss. Diesen Prozess lebendig zu gestalten, ist gerade in Zeiten entscheidend, in denen Antisemitismus und Hass weltweit und auch hier in Österreich so stark ansteigen, in denen die Stimmen der Unvernunft und des Hasses wieder laut werden.
Die Arbeit des Nationalfonds endet daher nicht mit diesem Jubiläum. Er wird weiterhin als ein Leuchtturm Orientierung geben, besonders in Zeiten, in denen Dunkelheit, Unsicherheit und Desorientierung um sich greifen.
Der Überlebende und ehemalige Präsident des Internationalen Auschwitz-Komitees Marian Turski hat über das Weitergeben der Erinnerung Folgendes gesagt: „Wir geben unsere Erinnerungen, unsere Worte und unsere Stimme weiter. Unsere Tage, die der Überlebenden, sind gezählt: aber wir werden nicht verstummen, wenn Sie, Sie alle nicht schweigen!“
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese Worte eines Überlebenden stehen am Ende dieses Festaktes als ein Appell an uns alle. Nehmen Sie ihn mit sich, teilen Sie ihn, geben Sie ihn weiter, denn jede und jeder Einzelne kann einen Unterschied machen! – Ich danke Ihnen allen herzlich fürs Kommen. (Anhaltender Beifall.)
Schluss der Veranstaltung: 12.43 Uhr