Fachinfos - Judikaturauswertungen 20.01.2022

EGMR: Parlamentarische Immunität und Unschuldsvermutung

Aussagen in der Parlamentsdebatte zur Aufhebung der Immunität eines Abgeordneten verletzten nicht die Unschuldsvermutung (20. Jänner 2022)

EGMR 7.12.2021, 11657/16, Filat gg. Republik Moldau

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) stellte fest, dass Aussagen des Generalanwalts und des Parlamentspräsidenten, die in der Plenardebatte über die Auslieferung eines Abgeordneten getätigt worden waren, nicht die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK) verletzten. Die Aussagen seien in ihrem Kontext und in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Sie seien nicht dazu bestimmt gewesen, die Schuld zu bestätigen, sondern sollten vielmehr bekräftigen, dass die während der Ermittlungen von den Behörden gesammelten Beweise die Aufhebung der Immunität rechtfertigen würden.

Sachverhalt

Vladimir Filat war von 2009 bis 2013 Premierminister der Republik Moldau und ab 2014 Abgeordneter im moldawischen Parlament. Im Oktober 2015 wurde eine strafrechtliche Untersuchung gegen ihn eingeleitet, nachdem ein Geschäftsmann behauptet hatte, ihm zwischen 2010 und 2014 Bestechungsgelder angeboten zu haben. Während einer Plenarsitzung des Parlaments im Oktober 2015, in der die parlamentarische Immunität von Filat aufgehoben werden sollte, gaben der Generalanwalt und der Parlamentspräsident Äußerungen ab, über die in den Medien breit berichtet wurde: Der Generalanwalt etwa sagte, dass schlüssige Beweise für die Beteiligung von Filat an Betrügereien vorlägen und dass die Zustimmung des Parlaments erforderlich sei, damit Anklage erhoben und die Ermittlungen fortgesetzt werden könnten, um die vorliegenden Beweise zu erhärten. Der Parlamentspräsident verlas unter anderem wesentliche Ausschnitte aus dem schriftlichen Auslieferungsersuchen. Beide betonten allerdings in der anschließenden Debatte, dass es nicht die Aufgabe des Parlaments sei, über die Schuld zu befinden, sondern bloß über das Auslieferungsersuchen zu entscheiden sei. Das Parlament hob daraufhin die Immunität auf und lieferte Filat aus.

Im November 2015 wurde Filat in Untersuchungshaft genommen und im Juni 2016 wegen Annahme von Bestechungsgeldern und Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Filat legte dagegen Rechtsmittel ein, doch auch das oberste moldawische Gericht bestätigte das Urteil. Filat wandte sich daher an den EGMR und behauptete in seiner Beschwerde unter anderem auch, die Äußerungen des Generalanwalts und des Parlamentspräsidenten, die diese in Zusammenhang mit der Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität in der Plenarsitzung des Parlaments getätigt hatten, verletzten die Unschuldsvermutung (Art. 6 Abs. 2 EMRK).

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR hielt fest, dass die angefochtenen Äußerungen im Rahmen eines Verfahrens im Parlament abgegeben wurden, in dem entschieden werden sollte, ob die von der Staatsanwaltschaft gesammelten Beweise für die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Filat ausreichen würden.

Was die mündlichen Äußerungen des Generalanwalts betrifft, so kam der EGMR zum Ergebnis, dass diese in Bezug auf ihren Kontext und in Anbetracht der Gesamtheit der Äußerungen des Generalanwalts während der Plenarsitzung nicht darauf abzielten, die Unschuldsvermutung zu verletzen.

Was die Verlesung des schriftlichen Auslieferungsersuchens durch den Parlamentspräsidenten betrifft, so war der EGMR der Auffassung, dass es sich dabei nicht um eigene Worte des Parlamentspräsidenten gehandelt habe, sondern vielmehr um wörtliche Zitate aus dem schriftlichen Auslieferungsersuchen des Generalanwalts. Zu berücksichtigen sei, dass der Generalanwalt und auch der Parlamentspräsident später in der Sitzung darauf hingewiesen hätten, dass das Thema der parlamentarischen Beratungen lediglich die Aufhebung der Immunität gewesen sei und nicht die Frage der Schuld. Diese Hinweise seien geeignet gewesen, jeden Zweifel an der tatsächlichen Bedeutung der angefochtenen Äußerungen zu zerstreuen.

Die Äußerungen seien folglich nicht dazu bestimmt gewesen, die Schuld von Filat zu bestätigen, sondern das Argument des Generalanwalts vor den Abgeordneten zu stützen, dass die während der Ermittlungen gesammelten Beweise die Aufhebung der Immunität rechtfertigen würden. Demnach hätten weder die Äußerungen des Generalanwalts noch die Ausführungen des Parlamentspräsidenten in der Plenarsitzung zu einer Verletzung der Unschuldsvermutung geführt.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung (in englischer Sprache) und den Volltext der Entscheidung (in französischer Sprache).