Fachinfos - Judikaturauswertungen 11.08.2022

Meinungsfreiheit in parlamentarischem Ausschuss

EGMR: Hoher Schutz der Meinungsfreiheit von Expert:innen in parlamentarischen Ausschuss-Hearings (11. August 2022)

EGMR 11.1.2022, 78873/13, Freitas Rangel gg. Portugal

Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verletzte die Bestra­fung eines Journalisten wegen Äußerungen in einem parlamentarischen Hearing das Recht auf Meinungsfreiheit. Die Äußerungen von eingeladenen Expert:innen genießen denselben erhöhten Schutz der Meinungsfreiheit wie die Äußerungen gewählter Abge­ordneter.

Sachverhalt

Der in Portugal sehr bekannte Journalist, Herr Freitas Rangel, wurde wegen seiner Äu­ßerungen in einem parlamentarischen (medien-)öffentlichen Hearing, welches im April 2010 zum Thema „Meinungsfreiheit und Medien“ abgehalten wurde, von den nationa­len Gerichten zu einer Strafe von € 6.000,– und zum Ersatz immaterieller Schäden an die Vereinigung der Richter:innen und die Vereinigung der Staatsanwält:innen von ins­gesamt € 50.000,– verurteilt. Diese beiden Vereinigungen hatten sowohl das straf­rechtliche als auch das zivilrechtliche Verfahren initiiert. Auch das Zivil- und das Straf­gericht letzter Instanz sahen in den folgenden Passagen eine Rufschädigung der beiden juristischen Personen:

„Ohne Qualitätsjournalismus gibt es keine Demokratie. Die Situation ist jedoch schlech­ter geworden. Mittlerweile haben auch die Richter:innenvereinigung und die Vereini­gung der Staatsanwält:innen den Ring betreten – das ist im Trend der neuen Zeit. Diese zwei Zentren geben Informationen aus Gerichtsverfahren über enge Verbindungen zu Journalist:innen weiter. Sie erhalten Dokumente aus Gerichtsverfahren zur Publikation durch Journalist:innen, tauschen diese Dokumente in Cafés aus, in aller Öffentlichkeit […] und verletzten auf diese Weise das Justizgeheimnis, sie geben diese Dokumente tatsächlich weiter. Das wird nicht gut enden, Herr Präsident, verehrte Abgeordnete, wenn wir nicht wieder zu Zeiten zurückkehren, in denen Regeln die Gerichtsbarkeit daran hindern, sich in die Politik einzumischen.“

Für die nationalen Gerichte war evident, dass der Journalist beabsichtigte, diese zwei Berufsvereinigungen zu attackieren und ihre Glaubwürdigkeit und ihr Prestige bei den Abgeordneten herabzusetzen. Er hätte gewusst, dass die beim Hearing anwesenden Journalist:innen diese Aussagen mit langfristiger Wirkung verbreiten würden.

Der Journalist wandte sich mit einer Individualbeschwerde wegen Verletzung der Mei­nungsfreiheit (Art. 10 EMRK) an den EGMR. Die Aussagen seien im öffentlichen Inte­resse. Es handle sich um Werturteile und um allgemeine Aussagen zum Gegenstand des parlamentarischen Hearings. Juristische Personen könnten das Justizgeheimnis gar nicht verletzen. Konkrete Namen habe er aber nicht genannt. Überdies habe der zu zahlende Geldbetrag (von insges. € 56.000,–) eine abschreckende Wirkung auf die Mei­nungsfreiheit.

Der Journalist verstarb noch während des Verfahrens vor dem EGMR im Alter von 67 Jahren. Trotz Vollstreckungsmaßnahmen war zu diesem Zeitpunkt noch ein Teil der Entschädigungssumme offen und belastete den Nachlass. Die zwei Töchter gaben be­kannt, das Verfahren anstelle ihres Vaters fortsetzen zu wollen.

Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte

Der EGMR kam zu dem Ergebnis, dass die nationalen Gerichte die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers verletzt haben, da die Einschränkung der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war. Er verpflichtete Portugal zur Rück­zahlung der Strafe und des bisher geleisteten Schadenersatzes sowie zum Ersatz der Prozesskosten in der Höhe von beinahe €20.000,– an die Erbinnen des Beschwerde­führers.

Der EGMR anerkannte die legitimen Interessen der Erbinnen, die Beschwerde weiter­zuverfolgen.

Seine Entscheidung in der Sache begründete er wie folgt: Anders als die nationalen Ge­richte, die in den Äußerungen nur falsche und verleumderische Tatsachenbehauptun­gen erblickten, wertete der EGMR die Äußerungen des Beschwerdeführers vor allem als persönliche Meinungen, deren Wahrheitsgehalt nicht beweisbar sei. Die einzige Tat­sachenbehauptung, nämlich, dass beide Berufsvereinigungen vertrauliche Informatio­nen an Journalist:innen weitergegeben hätten, könnten in diesem spezifischen Kontext umfassender betrachtet werden. Auch wenn diese Äußerung unglücklich und übertrie­ben gewesen sei, könnte sie durchaus als Veranschaulichung einer umfassenderen ge­sellschaftlichen Kritik an der unangemessenen Einmischung der Justiz als Ganzes in Po­litik und Medien verstanden werden, die von öffentlichem Interesse war und die der Journalist für wahr hielt.

Hinzu käme, dass der Schutz des Ansehens juristischer Personen nicht so hoch sei wie der natürlicher Personen. Der Journalist hätte die Äußerungen zudem vor einem parla­mentarischen Ausschuss geäußert, der genau das Thema Meinungsfreiheit behandelte und wissen wollte, wie von Politik und Wirtschaft auf die Medien und die Meinungs­freiheit in Portugal Einfluss genommen würde. Der EGMR hob hervor, dass gemäß sei­ner Judikatur die politische Rede besonderen Schutz genieße. Auch wenn der Be­schwerdeführer kein gewählter Abgeordneter gewesen sei, käme ihm als Experte, der von einem parlamentarischen Ausschuss eingeladen wurde, seine Sicht der Dinge dar­zulegen, ein höherer Schutz zu, wie es auch für parlamentarische und politische Meinungsäußerungen der Fall sei.

Die nationalen Gerichte hätten ihre Entscheidungen nur auf das Recht auf Persönlich­keitsschutz (Recht auf den guten Ruf) der beiden Berufungsvereinigungen gestützt und eine Abwägung mit dem Recht auf Meinungsfreiheit vermissen lassen.

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung (beide in englischer Sprache).