Die Große Kammer des EuGH verband die drei Vorabentscheidungsersuchen und fällte im beschleunigten Verfahren ein Urteil. Hinsichtlich seiner Zuständigkeit, sich zur Gerichtsorganisation eines Mitgliedstaats selbständig zu äußern, verwies der EuGH auf seine Entscheidung vom 24. Juni 2019 (C-619/18).
Nach Ansicht des EuGH sind Art. 47 GRC und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts nur von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht entschieden werden können. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einer Einrichtung seien nicht gegeben, wenn die Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung der Mitglieder berechtigte Zweifel darüber aufkommen lassen, ob die Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, empfänglich ist und damit ihre Neutralität gegenüber widerstreitenden Interessen in Frage steht.
Der EuGH führte dann konkrete Umstände an, die vom polnischen Obersten Gericht als vorlegendes Gericht zu prüfen sind. Denn ihr Zusammenspiel könnte Zweifel an der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer aufkommen lassen: Gemäß der polnischen Verfassung und dem Gesetz über das Oberste Gericht würden die Mitglieder des Obersten Gerichts (wie auch jene der Disziplinarkammer) vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Landesjustizrats (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS) ernannt. Daher müsse auch die KRS den Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprechen. In diesem Zusammenhang weist der EuGH auch auf den Umstand hin, dass die Besetzung der 25-köpfigen KRS geändert und die vierjährige Amtszeit der früheren Mitglieder verkürzt wurde. Die Änderungen würden dazu führen, dass 23 Mitglieder direkt aus der Politik kommen oder von ihr gewählt werden, während vor der Reform 15 Mitglieder von der Richterschaft (aus ihrer Mitte) gewählt wurden.
Außerdem habe es Unregelmäßigkeiten bei einigen Ernennungen für die neu zusammengesetzte KRS gegeben. Darüber hinaus sei zu prüfen, ob die Entscheidungen der KRS einer effektiven gerichtlichen Minimalkontrolle unterzogen werden können. Für die Beurteilung könnte auch relevant sein, dass die Disziplinarkammer nur mit neu ernannten Richter/inne/n besetzt werden darf und mit besonders weitgehender Autonomie ausgestattet ist.
Käme das Oberste Gericht nach einer solchen umfassenden Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Disziplinarkammer nicht den Erfordernissen des Unionsrechts entspricht, so habe es gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Regelungen, die die Zuständigkeit der Disziplinarkammer in den gegenständlichen Ausgangsfällen begründen, nicht anzuwenden.
Das polnische Oberste Gericht entschied am 5. Dezember 2019, dass die neu geschaffene Disziplinarkammer nicht unabhängig und unparteilich im Sinne des Unionsrechts ist.
Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.