Fachinfos - Judikaturauswertungen 08.01.2020

Unabhängigkeit der polnischen Disziplinarkammer

Polnisches Oberstes Gericht hat Unabhängigkeit seiner Disziplinarkammer zu prüfen. EuGH 19.11.2019, C-585/18, C-624/18 und C-625/18, A.K. u.a (08. Jänner 2020)

Sachverhalt

Die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen des polnischen Obersten Gerichts stellte im August und September 2018 drei Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH). Es hatte zu diesem Zeitpunkt über Rechtsmittel eines Richters des Obersten Verwaltungsgerichts und von zwei Richtern des Obersten Gerichts zu entscheiden. Diese Richter waren auf Grundlage des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht vom 8. Dezember 2017 bzw. des darauf verweisenden Gesetzes über die Organisation der Verwaltungsgerichte vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden. Sie sahen sich dadurch in ihrem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gemäß Art. 47 GRC und auf Schutz vor Altersdiskriminierung gemäß der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78/EG) verletzt.

Das Oberste Gericht ersuchte den EuGH um Beantwortung der Frage, ob die zukünftig für die anhängigen Fälle zuständige Disziplinarkammer (Izba Dyscyplinarna) am Obersten Gericht ein unabhängiges Gericht im Sinne des Unionrechts sei. Schließlich würden die Richter der Disziplinarkammer ausschließlich vom Landesjustizrat ausgewählt werden, der seinerseits in einer Art und Weise errichtet werde und arbeite, dass die Unabhängigkeit von der Legislative und der Exekutive nicht gewährleistet sei. Weiters stellte es die Frage, ob die diesbezüglichen – allenfalls unionsrechtswidrigen – Bestimmungen nicht anzuwenden sind und daher wie bisher die Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen zuständig ist.

Obwohl Polen im Zuge einstweiliger Anordnungen des EuGH vom 17. Dezember 2018 (C‑619/18 R) die Absetzung von Richter/inne/n durch Senkung des Pensionsalters (von 70 auf 65 Jahre) rückgängig gemacht hatte, hielt das Oberste Gericht seine Vorabentscheidungsersuchen aufrecht. Die Beantwortung der Vorlagefragen sei weiterhin erforderlich, um über Vorfragen verfahrensrechtlicher Art entscheiden zu können.

Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union

Die Große Kammer des EuGH verband die drei Vorabentscheidungsersuchen und fällte im beschleunigten Verfahren ein Urteil. Hinsichtlich seiner Zuständigkeit, sich zur Gerichtsorganisation eines Mitgliedstaats selbständig zu äußern, verwies der EuGH auf seine Entscheidung vom 24. Juni 2019 (C-619/18).

Nach Ansicht des EuGH sind Art. 47 GRC und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG dahingehend auszulegen, dass Rechtsstreitigkeiten über die Anwendung des Unionsrechts nur von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht entschieden werden können. Unabhängigkeit und Unparteilichkeit einer Einrichtung seien nicht gegeben, wenn die Bedingungen, unter denen die Einrichtung geschaffen wurde, ihre Merkmale sowie die Art und Weise der Ernennung der Mitglieder berechtigte Zweifel darüber aufkommen lassen, ob die Einrichtung für äußere Faktoren, insbesondere für unmittelbare oder mittelbare Einflussnahmen durch die Legislative und die Exekutive, empfänglich ist und damit ihre Neutralität gegenüber widerstreitenden Interessen in Frage steht. 

Der EuGH führte dann konkrete Umstände an, die vom polnischen Obersten Gericht als vorlegendes Gericht zu prüfen sind. Denn ihr Zusammenspiel könnte Zweifel an der Unabhängigkeit der Disziplinarkammer aufkommen lassen: Gemäß der polnischen Verfassung und dem Gesetz über das Oberste Gericht würden die Mitglieder des Obersten Gerichts (wie auch jene der Disziplinarkammer) vom Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Landesjustizrats (Krajowa Rada Sądownictwa, KRS) ernannt. Daher müsse auch die KRS den Erfordernissen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit entsprechen. In diesem Zusammenhang weist der EuGH auch auf den Umstand hin, dass die Besetzung der 25-köpfigen KRS geändert und die vierjährige Amtszeit der früheren Mitglieder verkürzt wurde. Die Änderungen würden dazu führen, dass 23 Mitglieder direkt aus der Politik kommen oder von ihr gewählt werden, während vor der Reform 15 Mitglieder von der Richterschaft (aus ihrer Mitte) gewählt wurden.

Außerdem habe es Unregelmäßigkeiten bei einigen Ernennungen für die neu zusammengesetzte KRS gegeben. Darüber hinaus sei zu prüfen, ob die Entscheidungen der KRS einer effektiven gerichtlichen Minimalkontrolle unterzogen werden können. Für die Beurteilung könnte auch relevant sein, dass die Disziplinarkammer nur mit neu ernannten Richter/inne/n besetzt werden darf und mit besonders weitgehender Autonomie ausgestattet ist.

Käme das Oberste Gericht nach einer solchen umfassenden Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Disziplinarkammer nicht den Erfordernissen des Unionsrechts entspricht, so habe es gemäß dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts die Regelungen, die die Zuständigkeit der Disziplinarkammer in den gegenständlichen Ausgangsfällen begründen, nicht anzuwenden.

Das polnische Oberste Gericht entschied am 5. Dezember 2019, dass die neu geschaffene Disziplinarkammer nicht unabhängig und unparteilich im Sinne des Unionsrechts ist. 

Vgl. zu diesem Verfahren die Pressemitteilung und den Volltext der Entscheidung.