MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DAS EUROPÄISCHE PARLAMENT, DEN RAT, DEN EUROPÄISCHEN WIRTSCHAFTS- UND SOZIALAUSSCHUSS UND DEN AUSSCHUSS DER REGIONEN Auf dem Weg zu einer europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der EU-Politik durch das Strafrecht /* KOM/2011/0573 endgültig */
Auf dem Weg zu einer
europäischen Strafrechtspolitik: Gewährleistung der wirksamen Durchführung der
EU-Politik durch das Strafrecht Mit dieser Mitteilung soll der Rahmen für die
weitere Gestaltung einer EU-Strafrechtspolitik auf der Grundlage des Vertrags
von Lissabon vorgelegt werden. Die EU verfügt jetzt über eine explizite
Rechtsgrundlage für die Annahme strafrechtlicher Richtlinien und kann damit
sicherstellen, dass EU-Politiken, die Gegenstand von Harmonisierungsmaßnahmen
waren, wirksam durchgeführt werden. Eine europäische Strafrechtspolitik sollte
das allgemeine Ziel verfolgen, das Vertrauen der Bürger im Hinblick darauf zu
stärken, dass sie in einem Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
leben, dass das EU-Recht zum Schutz ihrer Interessen voll und ganz um- und
durchgesetzt wird und die EU dabei den Subsidiaritäts- und den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie andere grundlegende Prinzipien des Vertrags
uneingeschränkt achtet. Ein Anliegen der EU-Bürger Nach Ansicht der Unionsbürger ist Kriminalität
ein wichtiges Problem der Union. Wenn sie gefragt werden, auf welche Themen die
europäischen Organe ihre Tätigkeit in den kommenden Jahren zur Stärkung der
Europäischen Union konzentrieren sollten, geben sie die Verbrechensbekämpfung
unter den vier wichtigsten Tätigkeitsbereichen an[1]. Seit über einem Jahrzehnt hat
die EU im Bereich des Strafrechts Maßnahmen zur besseren Bekämpfung der in
zunehmendem Maße internationalen und immer komplexeren Kriminalität ergriffen.
Mit diesen Maßnahmen wurde eine gewisse Angleichung im Hinblick auf
Definitionen und das Strafmaß für bestimmte, besonders schwere Straftaten wie
Terrorismus, Menschenhandel, Drogenhandel und Betrugsdelikte zum Nachteil der
finanziellen Interessen der EU erzielt[2].
In Ermangelung einer expliziten, einschlägigen Rechtsgrundlage wurden vor dem
Lissabonner Vertrag[3]
nur sehr wenige Maßnahmen getroffen, um die Durchsetzung der EU-Politiken zu
verbessern[4].
Auf diesem Aspekt des EU-Strafrechts liegt der Schwerpunkt der vorliegenden
Mitteilung. Der Mehrwert
des EU-Strafrechts Das Strafrecht ist ein sensibler politischer
Bereich, in dem zwischen den einzelstaatlichen Systemen weiterhin bedeutende
Unterschiede – beispielsweise in Bezug auf Strafarten und Strafmaß sowie die
Klassifizierung bestimmter Verhaltensweisen als Ordnungswidrigkeit oder als
Straftat - herrschen. Die EU kann aber überall dort, wo EU-Maßnahmen einen
Mehrwert herbeiführen können, Lücken und Mängel in Angriff nehmen. Wegen der
grenzübergreifenden Dimension vieler Straftaten können strafrechtliche
Maßnahmen auf EU-Ebene dazu beitragen, dass Straftäter weder in andere
Mitgliedstaaten flüchten noch Unterschiede zwischen nationalen Rechtssystemen
für kriminelle Zwecke missbrauchen können. Stärkung des
gegenseitigen Vertrauens Gemeinsame
Mindestvorschriften sind in bestimmten Kriminalitätsbereichen auch von
wesentlicher Bedeutung, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten und der
nationalen Justiz zu stärken. Für die reibungslose Zusammenarbeit der Justiz
verschiedener Mitgliedstaaten ist dieses hohe Vertrauensniveau unerlässlich.
Nur auf dieser Grundlage kann der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung
justizieller Maßnahmen, auf dem die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
beruht,[5]
effizient funktionieren. Gewährleistung
einer wirksamen Durchführung der EU-Politik Das Strafrecht kann bei der Sicherstellung der
Umsetzung der Politik der Europäischen Union eine wichtige Rolle spielen, deren
Erfolg von der wirksamen Durchführung durch die Mitgliedstaaten abhängt. Die
Union allein kann nicht sicherstellen, dass ihre Vorschriften, die sich vom
Umweltschutz und der Erhaltung der Fischbestände über die Sicherheit im
Straßenverkehr, die Regulierung der Finanzdienstleistungen und Datenschutz bis
zum Schutz der finanziellen Interessen der EU erstrecken, zu der gewünschten
Wirkung für die Bürger führen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet
sicherzustellen, dass die Unionspolitiken umgesetzt werden, und können in der
Regel selbst beschließen, mit welchen Mitteln sie dies bewerkstelligen.
Kontrollen und Inspektionen spielen dabei eine wichtige Rolle. In Fällen, in
denen die Mitgliedstaaten mit der Wahl ihrer Mittel nicht das gewünschte
Ergebnis erzielen und die Durchführung uneinheitlich bleibt, kann die Union
selbst gemeinsame Vorschriften dafür festlegen, wie die Umsetzung
sicherzustellen ist, und gegebenenfalls auch strafrechtliche Sanktionen für
Verstöße gegen das EU-Recht vorsehen. Einheitlichkeit und Kohärenz Strafrechtliche Maßnahmen der EU können zwar
ergänzend zu den nationalen Strafrechtssystemen eine wichtige Rolle spielen,
doch spiegelt ohne Zweifel gerade das Strafrecht die Grundwerte, Sitten und
Gebräuche und politischen Entscheidungen der jeweiligen Gesellschaft wider. Der
Vertrag von Lissabon akzeptiert diese Diversität[6].
Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, Einheitlichkeit und Kohärenz der
Strafrechtsvorschriften der EU zu gewährleisten, damit sie einen echten
Mehrwert bieten[7].
Ein neuer
Rechtsrahmen Der Rechtsrahmen
auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon eröffnet neue Möglichkeiten für die
Gestaltung des EU-Strafrechts. Er ermöglicht den EU-Organen und den
Mitgliedstaaten insbesondere, als Gesetzgeber auf einer eindeutigen Grundlage
gemeinsam auf ein kohärentes, einheitliches EU-Strafrecht hinzuarbeiten, das die
Rechte verdächtigter und beschuldigter Personen sowie die Rechte der Opfer
wirksam schützt und die Qualität der Justiz fördert. Vor dem Lissabonner
Vertrag gab es einige Lücken in dem Rechtsrahmen, der auf die meisten
strafrechtlichen Vorschriften[8]
Anwendung fand. So musste vor allem die Zustimmung aller Mitgliedstaaten
vorliegen, das Europäische Parlament wurde lediglich konsultiert, und
Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof zur
Sicherstellung der ordnungsgemäßen Umsetzung durch die Mitgliedstaaten waren
nicht möglich. Das neue
rechtliche Gefüge verleiht dem Europäischen Parlament mit dem
Mitentscheidungsprozess eine starke Position und überträgt dem Europäischen
Gerichtshof die uneingeschränkte gerichtliche Kontrolle. Der Rat kann einen
Vorschlag annehmen, wenn die Mitgliedstaaten diesen mit qualifizierter Mehrheit
unterstützen. Außerdem stärkt der Lissabonner Vertrag die Rolle der nationalen
Parlamente in erheblichem Maße. Sie können zu Entwürfen von Rechtsakten
Stellung nehmen und tragen wesentlich zur Einhaltung des
Subsidiaritätsgrundsatzes bei. Im strafrechtlichen Bereich spielen die
nationalen Parlamente eine stärkere Rolle als in anderen Bereichen der
EU-Politik.[9] Die
strafrechtlichen Maßnahmen umfassen eingriffsintensive Vorschriften, die zum
Freiheitsentzug führen können. Deshalb setzt die – durch den Vertrag von
Lissabon rechtlich verbindlich gewordene[10]
– Charta der Grundrechte der Tätigkeit der EU in diesem Bereich wichtige
Grenzen. Die Charta, an der sich die gesamte EU-Politik ausrichtet, bietet
verbindliche Regeln zum Schutz der Bürger. Bei der Angleichung des materiellen
Strafrechts oder des Strafprozessrechts können die Mitgliedstaaten die
„Notbremse“ ziehen, wenn die vorgeschlagene Regelung ihres Erachtens
grundlegende Aspekte ihres nationalen Strafjustizsystems berührt: der Vorschlag
wird dann an den Europäischen Rat verwiesen. Dänemark beteiligt
sich nicht an den neuen Maßnahmen zum materiellen Strafrecht, während sich das
Vereinigte Königreich und Irland nur auf eigenen Wunsch an der Annahme und
Anwendung spezifischer Rechtsakte beteiligen.[11]
Warum die EU tätig werden sollte –
der Mehrwert eines EU-Strafrechts Der Vertrag von Lissabon verleiht der EU eine Gesetzgebungskompetenz
sowohl für strafrechtliche Verfahren als auch für das materielle Strafrecht. Es
ist zwar nicht Aufgabe der EU, nationale Strafgesetzbücher zu ersetzen, aber in
den Grenzen der EU-Kompetenz können strafrechtliche Vorschriften der EU einen
bedeutenden zusätzlichen Beitrag zu den bestehenden Strafrechtsordnungen
leisten. ·
Durch effizientere Verbrechensbekämpfung und die
Annahme von Mindeststandards für die Verfahrensrechte in Strafverfahren sowie
für den Schutz der Opfer von Straftaten fördert das EU-Strafrecht das Vertrauen
der Bürger, damit diese ihr Recht auf Freizügigkeit und auf den Erwerb von
Waren oder Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten wahrnehmen. ·
Heute haben viele schwere Straftaten, darunter
Verstöße gegen harmonisierte EU-Rechtsvorschriften, eine grenzübergreifende
Dimension. Für Straftäter besteht daher ein Anreiz, sich den Mitgliedstaat mit
den mildesten Sanktionen in bestimmten Bereichen der Kriminalität auszusuchen,
wenn nicht ein gewisses Maß an Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften
die Existenz derartiger „sicherer Häfen“ verhindert. ·
Gemeinsame Regeln stärken das gegenseitige
Vertrauen von Justiz- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten. Das
erleichtert die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Maßnahmen, da es
nationalen Behörden leichter fällt, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene
Entscheidungen anzuerkennen, wenn die Definitionen der zugrundeliegenden
Straftatbestände vergleichbar sind und bei der Sanktionsebene eine
Mindestangleichung gilt. Gemeinsame Regeln erleichtern ferner die
Zusammenarbeit im Hinblick auf den Einsatz besonderer Ermittlungsmaßnahmen bei
grenzübergreifenden Fällen. ·
Die strafrechtlichen Vorschriften der EU tragen
dazu bei, schwerwiegende Verstöße gegen EU-Recht in wichtigen Politikbereichen
wie dem Umweltschutz oder der illegalen Beschäftigung zu verhindern und zu
bestrafen.
1.
Anwendungsbereich des EU-Strafrechts
Gemäß Artikel 83 des Vertrags über die
Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kann die EU Richtlinien mit
Mindestvorschriften zum EU-Strafrecht für verschiedene Kriminalitätsbereiche
erlassen. Zunächst können aufgrund von Artikel 83 Absatz 1 AEUV
Maßnahmen zu einer Liste von zehn explizit aufgeführten Straftatbeständen (den
sogenannten „EU-Straftatbeständen“) erlassen werden, d.h. zu
Terrorismus, Menschenhandel, sexueller Ausbeutung von Frauen und Kindern,
illegalem Drogen- und illegalem Waffenhandel, Geldwäsche, Korruption, Fälschung
von Zahlungsmitteln, Computerkriminalität und organisierter Kriminalität[12]. Hierunter fallen Straftaten,
die definitionsgemäß besonders schwerwiegend sind und bei denen aufgrund ihrer
grenzübergreifenden Dimension nach dem Vertrag selbst ein Vorgehen auf Ebene
der EU angebracht ist. Die meisten dieser Straftaten fallen bereits unter vor
dem Vertrag von Lissabon erlassene Rechtsvorschriften, die aktualisiert wurden
oder werden. Zusätzliche „EU-Straftatbestände“ können nur einstimmig vom Rat
mit Zustimmung des Europäischen Parlaments definiert werden. Zweitens können das Europäische Parlament und
der Rat gemäß Artikel 83 Absatz 2 AEUV auf Vorschlag der
Kommission „Mindestvorschriften für die Festlegung von Straftaten und Strafen
festlegen“, wenn sich „die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften
der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik
der Union auf einem Gebiet, auf dem Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind“
erweist. In dieser Bestimmung sind keine spezifischen Straftaten aufgelistet,
sondern hier wird die Erfüllung bestimmter rechtlicher Kriterien als
Voraussetzung für die Annahme strafrechtlicher Maßnahmen auf EU-Ebene
festgelegt. Eine EU-Strafrechtspolitik ist deshalb vor allem im Hinblick auf
Artikel 83 Absatz 2 AEUV gerechtfertigt, und dazu soll diese
Mitteilung spezifische Leitlinien bereitstellen. Am wichtigsten ist, dass die
EU-Organe auf diesem Gebiet die politische Entscheidung fällen müssen, ob sie
das Strafrecht (anstelle anderer Maßnahmen wie Verwaltungssanktionen) als
Mittel zur Durchsetzung nutzen wollen oder nicht, und wo sie festzulegen haben,
welche EU-Politiken die Nutzung des Strafrechts als zusätzliches
Durchsetzungsmittel erfordern. Beispiel: Die EU-Bestimmungen zum Finanzmarktverhalten sind ein konkreter Fall,
in dem das Strafrecht ein nützliches zusätzliches Mittel darstellen könnte, um
eine wirksame Durchführung der Bestimmungen sicherzustellen. Wie die
Finanzkrise gezeigt hat, werden die Finanzmarktvorschriften nicht immer
eingehalten und ordnungsgemäß angewandt. Das kann das Vertrauen in den
Finanzsektor erheblich untergraben. Stärkere Konvergenz der Rechtssysteme in den
Mitgliedstaaten, auch beim Strafrecht, kann dazu beitragen, der Gefahr
unzureichend funktionierender Finanzmärkte vorzubeugen, und die Schaffung
einheitlicher Rahmenbedingungen im Binnenmarkt unterstützen[13]. Davon abgesehen, ist in Artikel 325
Absatz 4 AEUV die spezifische Möglichkeit vorgesehen, Maßnahmen zur Verhütung
und Bekämpfung von Betrügereien zu treffen, die sich gegen die finanziellen
Interessen der Union richten, d.h. in einem Bereich, in dem bereits
Rechtsvorschriften aus der Zeit vor dem Lissabonner Vertrag existieren[14]. Es handelt sich um einen sehr
wichtigen Bereich für die Steuerzahler in der EU, die den EU-Haushalt
finanzieren und legitimerweise erwarten, dass illegale Aktivitäten, die es auf
die öffentlichen Gelder der EU beispielsweise im Zusammenhang mit dem Agrar-
und dem Regionalfonds oder der Entwicklungshilfe abgesehen haben, mit wirksamen
Maßnahmen bekämpft werden.[15]
2.
Welche Grundsätze sollten das EU-Strafrecht leiten?
Wie im nationalen Recht müssen strafrechtliche
Rechtsvorschriften der EU sorgfältig abgewogen werden. Nationales wie auch
europäisches Strafrecht besteht aus Vorschriften mit erheblichen Auswirkungen
auf jeden Bürger. Deshalb – und weil strafrechtliche Maßnahmen immer als
letztes Mittel einzusetzen sind – müssen bei den neuen Strafvorschriften
grundlegende Rechtsprinzipien beachtet werden.
2.1.
Zu beachtende allgemeine Grundsätze
Dem für die
Rechtsvorschriften der EU geltenden allgemeinen Subsidiaritätsgrundsatz
ist beim Strafrecht besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Die EU kann demnach nur
dann regelnd eingreifen kann, wenn das Ziel mit Maßnahmen auf nationaler,
regionaler oder lokaler Ebene nicht wirksamer erreicht, sondern wegen des
Umfangs oder der Wirkungen der vorgeschlagenen Maßnahme auf Unionsebene besser
realisiert werden kann. Zudem müssen die Grundrechte, die in
der EU-Charta der Grundrechte und in der Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert sind, in jedem politischen
Bereich der Union geachtet werden. Strafrechtliche Maßnahmen sind, was die
Grundrechte anbetrifft, grundsätzlich heikel. Eine Beeinträchtigung
individueller Rechte, sei es der Rechte der verdächtigten Person, des Opfers
oder der Zeugen, ist dabei unvermeidbar. Letztendlich können die Maßnahmen auf
Freiheitsentzug hinauslaufen und erfordern deshalb besondere Aufmerksamkeit
vonseiten des Gesetzgebers.
2.2.
Ein zweistufiges Konzept für
Rechtsvorschriften im Bereich des Strafrechts
Bei Beschlüssen über strafrechtliche
Maßnahmen, die darauf abzielen, die wirksame Durchführung von EU-Politiken
sicherzustellen, zu denen es Harmonisierungsmaßnahmen gibt, sollte der
EU-Gesetzgeber in zwei Schritten vorgehen.
2.2.1.
Stufe 1: Der Beschluss, ob überhaupt
strafrechtliche Maßnahmen erlassen werden sollen
· Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit – Strafrecht als „ultima ratio“ Strafrechtliche Ermittlungen und Sanktionen
können sich in bedeutendem Maße auf die Rechte der Bürger auswirken und u.a.
stigmatisierend wirken. Deshalb darf das Strafrecht nur als letztes Mittel
eingesetzt werden. Das spiegelt sich im allgemeinen Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit (wie im Vertrag über die Europäische Union[16] und, insbesondere für
strafrechtliche Sanktionen, in der EU-Charta der Grundrechte[17] verankert) wider. Für
strafrechtliche Maßnahmen, die zur Unterstützung der Durchführung der Politik
der Union erlassen werden[18],
fordert der Vertrag ausdrücklich zu prüfen, ob strafrechtliche Maßnahmen für
die wirksame Durchführung der Politik „unerlässlich“ sind. Der Gesetzgeber muss somit prüfen, ob nicht
andere als strafrechtliche Maßnahmen, z.B. Sanktionsregelungen verwaltungs-
oder zivilrechtlicher Art, die Durchführung der Politik in ausreichendem Maße
gewährleisten könnten oder ob die Probleme mit strafrechtlichen Mitteln
wirksamer angegangen werden können. Das erfordert eine umfassende Analyse in
den Folgeabschätzungen, die jedem Legislativvorschlag vorausgehen,
einschließlich je nach den Besonderheiten des betreffenden Regelungsbereichs
einer Bewertung der Sanktionsregelungen der Mitgliedstaaten im Hinblick darauf,
ob sie zu dem gewünschten Ergebnis führen, sowie einer Bewertung der
Schwierigkeiten, denen sich nationale Behörden konfrontiert sehen, die das
EU-Recht vor Ort umsetzen.
2.2.2.
Stufe 2: Grundsätze für den Beschluss über die Art
der zu erlassenden strafrechtlichen Maßnahmen
Sollte Stufe 1 ergeben haben, dass ein
strafrechtlicher Regelungsbedarf besteht, stellt sich als Nächstes die Frage,
welche konkreten Maßnahmen zu ergreifen sind. · Mindestvorschriften Die EU-Rechtsvorschriften bezüglich der Definition
von Straftatbeständen und Strafen beschränken sich auf „Mindestvorschriften“
gemäß Artikel 83 des Vertrags. Diese Beschränkung schließt eine
vollständige Angleichung aus. Gleichzeitig erfordert der Grundsatz der Rechtssicherheit,
dass das als Straftat anzusehende Verhalten eindeutig definiert wird. Allerdings wirkt sich eine EU-Richtlinie zum
Strafrecht nicht unmittelbar auf den Bürger aus; sie muss erst einmal in
nationales Recht umgesetzt werden. Deshalb werden an die Rechtsicherheit nicht
dieselben Anforderungen gestellt wie bei nationalen Strafgesetzen. Entscheidend
ist, dass dem nationalen Gesetzgeber klar ist, welche Ergebnisse mit der
Umsetzung der EU-Regelung erzielt werden sollen. Was die Strafen anbetrifft, kann
„Mindestvorschriften“ bedeuten, dass bestimmte Strafarten (z.B. Geldstrafe,
Freiheitsstrafe, Rechtsverlust), Strafhöhen oder eine EU-weite Definition
erschwerender oder mildernder Umstände festgelegt werden. Die EU-Regelung kann
auch lediglich bestimmen, welche Strafen den Richtern in den Mitgliedstaaten
„mindestens“ zur Verfügung stehen müssen. · Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit Die oben ausgeführte Voraussetzung der
„Notwendigkeit“ gilt auch für die Beschlussebene, auf der festgelegt wird,
welche strafrechtlichen Maßnahmen in ein spezifisches Rechtsinstrument
aufgenommen werden sollen. Die „Prüfung der Notwendigkeit“ wird umso wichtiger
je detaillierter die geplanten Bestimmungen hinsichtlich Art und Niveau der
Strafen sind, die die Mitgliedstaaten zu beachten hätten. Es gilt die ausdrückliche
Forderung der Charta der Grundrechte[19],
der zufolge „das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf“. · Klare Fakten Um feststellen zu können, ob strafrechtliche
Mindestvorschriften erforderlich sind, müssen sich die EU-Organe auf klare Fakten
zu Art und Wirkungen der betreffenden Straftat sowie zu der in allen
Mitgliedstaaten unterschiedlichen Rechtslage stützen können, die die wirksame
Umsetzung einer EU-Politik, die Gegenstand von Harmonisierungsmaßnahmen ist,
gefährden könnte. Die EU benötigt deshalb vonseiten der nationalen Behörden
statistische Daten, um ihr die Beurteilung der Situation zu ermöglichen. Im
Rahmen ihrer weiteren Arbeiten wird die Kommission im Hinblick auf die
Behandlung der unter Artikel 325 Absatz 4 und Artikel 83 Absatz 2
fallenden Bereiche Pläne für die Erhebung zusätzlicher statistischer Daten und
Belege ausarbeiten. · Die Sanktion der Straftat anpassen Bei der Gestaltung strafrechtlicher
Vorschriften, mit denen in erster Linie die Wirksamkeit der EU-Politik
sichergestellt werden soll, müssen auch die nachstehenden Fragen sorgfältig
geprüft werden: –
Sind andere Sanktionsarten als Freiheitsentzug und
Geldstrafen einzubeziehen, um ein Höchstmaß an Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit
und Abschreckung zu gewährleisten, sind zusätzliche Maßnahmen wie die
Einziehung von Vermögenswerten erforderlich, und –
ist die strafrechtliche oder nicht-strafrechtliche
Haftung juristischer Personen vorzusehen, insbesondere im Hinblick auf
Kriminalitätsbereiche, in denen juristische Personen als Täter eine besonders
bedeutende Rolle spielen? Was können strafrechtliche
Mindestvorschriften der EU regeln? Die Definition der Straftatbestände, das heißt die Beschreibung
des als strafrechtlich relevant angesehenen Verhaltens umfasst immer das
Verhalten des Täters, schließt aber in den meisten Fällen auch mit der Tat
verbundenes Verhalten wie Anstiftung und Beihilfe ein. In einigen Fällen fällt
auch der Versuch, eine Straftat zu begehen, darunter. Alle strafrechtlichen Instrumente der EU schließen vorsätzliche
Handlungen, in einigen Fällen aber auch grob fahrlässiges Verhalten in die
Definition ein. In einigen Instrumenten wird weiter bestimmt, was bei der
Festlegung des Strafmaßes im Einzelfall als „erschwerender“ oder „mildernder“
Umstand anzusehen ist. In der Regel finden die Rechtsvorschriften der EU auf Straftaten
Anwendung, die von natürlichen oder von juristischen Personen wie Unternehmen
oder Vereinigungen begangen wurden. Letzteres kann in vielen Bereichen, z.B.
bei der Verantwortung für Ölunfälle, von Bedeutung sein. Die geltenden
Rechtsvorschriften allerdings haben die Wahl der Art der Haftung juristischer
Personen für begangene strafrechtliche Handlungen immer den Mitgliedstaaten
überlassen, da das Konzept der strafrechtlichen Haftung juristischer Personen
nicht in allen nationalen Rechtsordnungen existiert. Die Rechtsvorschriften der EU können darüber hinaus Regeln für die gerichtliche
Zuständigkeit sowie andere Aspekte umfassen, die als Teil der Definition
einer Straftat und als notwendige Bestandteile für die wirksame Anwendung der
Rechtsvorschrift angesehen werden. In Bezug auf Strafen kann das EU-Strafrecht für die Mitgliedstaaten das
Erfordernis festlegen, für ein bestimmtes Verhalten wirksame, angemessene und
abschreckende strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Wirksamkeit
impliziert, dass die Sanktion geeignet ist, zu dem gewünschten Ziel zu führen,
das heißt, die Einhaltung der Regeln zu gewährleisten; Angemessenheit
impliziert, dass die Sanktion der Schwere der Tat und deren Auswirkungen
entsprechen muss und nicht über das für das Erreichen des Ziels erforderliche
Maß hinausgehen darf; Abschreckung impliziert, dass die Sanktionen für
potenzielle künftige Täter ein angemessenes Hemmnis darstellen. Bisweilen ist im EU-Strafrecht genauer festgelegt, welche Strafart
und/oder welches Strafmaß vorzusehen sind. Unter anderem kann es auch
Bestimmungen über die Einziehung von Vermögenswerten geben. Das Hauptziel einer
EU-weiten Annäherung besteht nicht darin, das in den Mitgliedstaaten anwendbare
jeweilige Strafmaß zu erhöhen, sondern vielmehr die Variationsbreite zwischen
den nationalen Systemen zu reduzieren und sicherzustellen, dass das Erfordernis
„wirksamer, angemessener und abschreckender“ Sanktionen in allen
Mitgliedstaaten tatsächlich erfüllt wird.
3.
In welchen politischen Bereichen der EU wären
Strafvorschriften erforderlich?
Strafrechtliche Maßnahmen sind – wie es im
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt – als ein Mittel zur
Gewährleistung der wirksamen Durchführung der Politik der EU zu sehen.
EU-Politik schließt ein breites Themenspektrum ein, in dem in den vergangenen
Jahrzehnten für das Wohl der Bürger gemeinsame Regeln entwickelt wurden. Die
entsprechenden politischen Bereiche reichen von der Zollunion und dem Binnenmarkt
bis zum Umweltschutz. In all diesen Bereichen sind die
Mitgliedstaaten verpflichtet sicherzustellen, dass Verstöße gegen EU-Recht mit
wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen geahndet werden. In der
Regel können die Mitgliedstaaten die Art der Sanktion wählen, wobei es sich
nicht um eine strafrechtliche Sanktion handeln muss, sondern auch um eine
Verwaltungssanktion handeln kann. Wo der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten
bei der Umsetzung des EU-Rechts nicht zu dem gewünschten Erfolg führt, kann es
erforderlich sein, mittels Mindestvorschriften auf EU-Ebene zu regeln, welche
Sanktionen die Mitgliedstaaten in ihren nationalen Rechtsvorschriften vorsehen
müssen. Eine Annäherung der Sanktionsniveaus ist insbesondere in Betracht zu ziehen,
wenn eine Analyse der geltenden Rechtsvorschriften für Verwaltungssanktionen
oder strafrechtliche Sanktionen bedeutende Unterschiede zwischen den
Mitgliedstaaten aufzeigt und diese Unterschiede zu einer uneinheitlichen
Anwendung von EU-Bestimmungen führen. Ist eine EU-Maßnahme erforderlich, dann hat
der EU-Gesetzgeber zu beschließen, ob strafrechtliche Sanktionen benötigt
werden oder ob gemeinsame Verwaltungssanktionen ausreichen. Entscheidend ist
dafür die Beurteilung der spezifischen Durchführungsprobleme in einem
politischen Bereich gemäß den oben ausgeführten Grundsätzen. In einer Reihe harmonisierter politischer
Bereiche ist festzustellen, dass strafrechtliche Maßnahmen auf EU-Ebene
erforderlich sind. Dabei geht es vor allem um Maßnahmen zur Bekämpfung von
Praktiken mit schwerwiegenden negativen Auswirkungen und von illegalen Profiten
in bestimmten Wirtschaftsbereichen zum Schutz der legitimen Geschäftstätigkeit
und der Interessen der Steuerzahler: · Finanzsektor, z.B. in Bezug auf
Marktmanipulation und Insider-Geschäfte[20];
· Bekämpfung von gegen die finanziellen
Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug, um
sicherzustellen, dass das Geld der Steuerzahler unionsweit in einem
gleichwertigen Maß geschützt wird. In einer Mitteilung hat die Kommission vor
kurzem eine Reihe von Maßnahmen vorgestellt, die der Stärkung dieses Schutzes
dienen könnten[21],
darunter Strafverfahren, gemeinsame Definitionen von Straftatbeständen und
Zuständigkeitsregeln. · durch strafrechtliche Vorschriften Schutz
des Euro vor Fälschung, um das Vertrauen der Öffentlichkeit in die
Sicherheit von Zahlungsmitteln zu stärken. Die Kommission
wird weitere Überlegungen darüber anstellen, wie das Strafrecht durch die
Unterstützung der Bekämpfung der Wirtschafts- und Finanzkriminalität zur
Konjunkturbelebung beitragen kann. Auch in anderen harmonisierten politischen
Bereichen könnte die potenzielle Rolle des Strafrechts als notwendigem Mittel
für die Gewährleistung einer wirksamen Rechtsdurchsetzung weiter geprüft
werden, z.B. in nachstehenden Bereichen: · Straßenverkehr, in Bezug auf schwerwiegende
Verstöße gegen soziale und technische Vorschriften, Sicherheitsbestimmungen und
Marktregeln der EU für den gewerblichen Kraftverkehr[22]; · Datenschutz, bei schwerwiegenden Verstößen
gegen geltende EU-Vorschriften[23];
· Zollbestimmungen zur Angleichung der
Vorschriften bezüglich Zuwiderhandlungen und Strafen im Zollbereich[24]; · Umweltschutz, wenn die einschlägigen geltenden
strafrechtlichen Vorschriften[25]
künftig verstärkt werden müssen, um Umweltschäden vorzubeugen und sie zu
bestrafen; · Fischereipolitik, in der die EU eine
„Null-Toleranz“-Kampagne gegen illegale, nicht gemeldete und unregulierte
Fischerei geführt hat; · Binnenmarktpolitik, wo es gilt, schwerwiegende
illegale Praktiken wie Nachahmung und Fälschung, Korruption oder das
Verschweigen von Interessenkonflikten im öffentlichen Auftragswesen zu
unterbinden. In diesen Bereichen ist gründlicher zu prüfen,
ob und wo Mindestvorschriften für die Definition von Straftatbeständen und
Strafen von wesentlicher Bedeutung sind, um die wirksame Umsetzung der
Rechtsvorschriften der EU zu gewährleisten. Bei dieser Analyse sind die nachstehenden
Erwägungen zu berücksichtigen: Der Schwere und dem Charakter
des Rechtsbruchs ist Rechnung zu tragen. Für bestimmte, als besonders
schwerwiegend angesehene rechtswidrige Handlungen sind Verwaltungssanktionen
als Reaktion möglicherweise nicht ausreichend. Dementsprechend können
strafrechtliche Sanktionen gewählt werden, wenn es für wichtig erachtet wird,
zur Abschreckung entschiedene Missbilligung deutlich zu machen. Der
Eintrag von Verurteilungen in Strafregister kann besonders abschreckend sein.
Gleichzeitig bieten strafrechtliche Verfahren je nach Schwere des Tatvorwurfs
oft einen stärkeren Schutz der Rechte des Angeklagten. Die Effizienz
des Sanktionssystems ist ebenso zu prüfen wie die Frage, in welchem Ausmaß
und aus welchem Grund es mit bestehenden Sanktionen nicht gelingt, die
gewünschte Umsetzung zu erreichen. Es ist die Sanktionsart zu wählen, die am
geeignetsten erscheint, das globale Ziel – wirksam, angemessen und
abschreckend zu sein – , zu erreichen. Eine Verwaltungssanktion kann oft
unverzüglich beschlossen und verhängt werden; so lassen sich langwierige,
ressourcenintensive Verfahren vermeiden. Deshalb wären Verwaltungssanktionen
möglicherweise dort in Betracht zu ziehen, wo beispielsweise weniger schwere
Verstöße oder Verstöße in großer Zahl vorkommen, sowie in Bereichen, in denen
administrative Sanktionen und Verfahren aus anderen Gründen (beispielsweise komplexe
wirtschaftliche Bewertungen) geeignet und wirksam sind. In vielen Fällen sieht
das Verwaltungsrecht auch ein breiteres Spektrum möglicher Sanktionen vor, die
sich von Geldbußen und der Aussetzung von Lizenzen bis zum Ausschluss vom Recht
auf staatliche Zuwendungen erstrecken und sich auf die spezifische Situation
zuschneiden lassen. Häufig können deshalb Verwaltungssanktionen ausreichen oder
sogar effizienter sein als strafrechtliche Sanktionen.
4.
Fazit
Auch wenn der durch den Lissabonner Vertrag
eingeführte neue Rechtsrahmen keine grundlegende Änderung des möglichen
Anwendungsbereichs des EU-Strafrechts nach sich zieht, verstärkt er in
erheblichem Maße die Möglichkeit, die Entwicklung einer kohärenten
EU-Strafrechtspolitik voranzubringen, die sowohl auf die wirksame Umsetzung als
auch auf einen soliden Grundrechteschutz ausgerichtet ist. Diese Mitteilung, in
der die Kommission darlegt, wie die EU das Strafrecht zur Gewährleistung einer
wirksamen Durchführung der EU-Politik nutzen sollte, ist ein erster Schritt im
Rahmen der Bemühungen der Kommission, eine kohärente, einheitliche
Strafrechtspolitik der EU einzuführen. Diese Politik muss die Bedürfnisse der
EU-Bürger sowie die Erfordernisse des EU-Raums der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts in den Mittelpunkt stellen und dabei der Subsidiarität
uneingeschränkte Geltung verschaffen und stets berücksichtigen, dass das
Strafrecht das letzte Mittel darstellt. Dazu wird die Kommission in enger
Zusammenarbeit mit dem Rat und dem Parlament sprachliche Vorgaben erarbeiten.
Diese Vorgaben sollen dem EU-Gesetzgeber als Orientierung bei der Abfassung
strafrechtlicher Vorschriften, mit denen Mindestregeln für Straftatbestände und
Sanktionen eingeführt werden sollen, dienen. Dies würde dazu beitragen, die
Einheitlichkeit zu gewährleisten, die Rechtssicherheit zu erhöhen und die
Umsetzung des EU-Rechts zu erleichtern. Die Kommission wird darüber hinaus eine
Expertengruppe einsetzen, die sie bei der Faktensammlung und der Lancierung
weiterer Diskussionen über bedeutende Rechtsfragen im Hinblick darauf
unterstützen wird, die wirksame Umsetzung der EU-Rechtsvorschriften in die
nationalen Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu gewährleisten. Dabei
geht es u. a. um - das Verhältnis zwischen
strafrechtlichen und nicht-strafrechtlichen Sanktionssystemen und - die Auslegung von in
EU-Rechtsvorschriften regelmäßig verwendeten Strafrechtsbegriffen wie
„wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktion“, „minder schwerer Fall“
oder „Beihilfe und Anstiftung“. Auf der Grundlage einer umfassenden Bewertung
der bestehenden strafrechtlichen Maßnahmen der EU wird die Kommission die
EU-Strafrechtspolitik in den kommenden Jahren in enger Konsultation mit den
Mitgliedstaaten und unabhängigen Sachverständigen weiter entwickeln. Unsere Vision
einer kohärenten, einheitlichen Strafrechtspolitik der EU im Jahr 2020: - Ein EU-Strafrecht kann ein wichtiges Instrument sein, das im Sinne
der EU-Bürger eine bessere Kriminalitätsbekämpfung ermöglicht und eine
effektive Durchführung der EU-Politik sicherstellt. - In Politikbereichen der EU, in denen ein Defizit bei der Durchsetzung
festgestellt wurde, wird die Kommission nach einer Bewertung der
Durchsetzungspraxis und unter vollständiger Achtung wesentlicher
Vertragsgrundsätze wie Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit prüfen, inwieweit
es neuer strafrechtlicher Maßnahmen bedarf. Dies gilt insbesondere für den
Schutz der Funktionsfähigkeit der Finanzmärkte, den Schutz der finanziellen
Interessen der EU, den Schutz des Euro vor Fälschung sowie für schwere Verstöße
gegen das Straßenverkehrsrecht, das Datenschutzrecht, gegen Zoll-,
Umweltschutz-, Fischerei- und Binnenmarktvorschriften und für die Bekämpfung
illegaler Praktiken wie Nachahmung und Fälschung oder nicht angegebene
Interessenkonflikte im Zusammenhang mit der Vergabe öffentlicher Aufträge. - Es sollte Einvernehmen hinsichtlich der Leitprinzipien bestehen, die
der EU-Strafgesetzgebung zugrunde liegen, z. B. in Bezug auf die Auslegung
der grundlegenden Rechtsbegriffe des EU-Strafrechts und die Frage, wie sich mit
strafrechtlichen Sanktionen auf EU-Ebene der größte Mehrwert erzielen lässt. - Strafrechtliche Maßnahmen sollten im Einklang mit der Charta der
Grundrechte der EU fest auf strenge, EU-weite Standards für Verfahrensrechte
und Opferrechte gestützt sein. [1] Vgl. Eurobarometer 75, Frühjahr 2011. Die vier
wichtigsten Bereiche, die im Mittelpunkt der EU-Maßnahmen stehen sollten, sind:
Wirtschafts- und Währungspolitik, Einwanderungspolitik, Gesundheitspolitik und
Verbrechensbekämpfung. [2] Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung (2002/475/JI),
ABl. L 164 vom 22.6.2002, S. 3; Rahmenbeschluss 2004/757/JI des
Rates vom 11.11.2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die
Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des
illegalen Drogenhandels; Richtlinie 2011/36/EU zur Verhütung und Bekämpfung des
Menschenhandels und zum Schutz seiner Opfer sowie zur Ersetzung des
Rahmenbeschlusses 2002/629/JI, ABl. L 101 vom 15.4.2011, S. 1;
Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen
Gemeinschaften, ABl. C 316 vom 27.11.1995, S. 49. [3] Vgl. allerdings Urteile des EuGH in den Rechtssachen C-176/03
und C-440/05. [4] Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen
Schutz der Umwelt, ABl. L 328 vom 6.12.2008, S. 28; Richtlinie 2009/123/EG
vom 21. Oktober 2005 zur Änderung der Richtlinie 2005/35/EG über die
Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen für
Verstöße, ABl. L 280 vom 27.10.2009; Bericht über die Richtlinie
2009/52/EG über Mindeststandards für Sanktionen und Maßnahmen gegen
Arbeitgeber, die Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt
beschäftigen, ABl. L 168 vom 30.6.2009, S. 24; Rahmenbeschluss 2000/383/JI
des Rates vom 29. Mai 2000 über die Verstärkung des mit strafrechtlichen
und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfälschung im Hinblick auf
die Einführung des Euro, ABl. L 140 vom 14.6.2000, S. 1. [5] Vgl. Artikel 82 Absatz 1 AEUV. [6] Vgl. Artikel 67 Absatz 1 AEUV: „Die Union
bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die
Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der
Mitgliedstaaten geachtet werden.“ [7] Zur Notwendigkeit stärkerer Kohärenz bei der Gestaltung
des EU-Strafrechts vgl. z.B. das von 14 Strafrechtsprofessoren aus zehn
Mitgliedstaten der Europäischen Union 2009 erstellte Manifest zur Europäischen
Kriminalpolitik (http://www.crimpol.eu). [8] Nach dem ehemaligen EG-Vertrag, demzufolge
Rahmenbeschlüsse aufgrund der sogenannten „dritten Säule“ das für strafrechtliche
Vorschriften übliche Rechtsinstrument darstellten, waren bereits einige
Richtlinien mit strafrechtlichen Maßnahmen erlassen worden, um, gestützt auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofs (C-176/03), die Durchführung von
Bestimmungen zum Umweltschutz, zur Bekämpfung der Verschmutzung durch Schiffe
und zur Bekämpfung illegaler Beschäftigung (Richtlinien 2008/99, 2009/123 und 2009/52)
sicherzustellen. Eine Angleichung von Sanktionsarten und Strafhöhen war nur in
Rahmenbeschlüssen möglich (C-440/5). [9] Vgl. Protokoll (Nr. 1) „über die Rolle der
nationalen Parlamente in der Europäischen Union” und (Nr. 2) „über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit”,
insbesondere Artikel 7 Absatz 2. [10] Vgl. Mitteilung der Kommission – Strategie zur wirksamen
Umsetzung der Charta der Grundrechte durch die Europäische Union – KOM(2010) 573
vom 19.10.2010. [11] Vgl. die Protokolle Nr. 21 und 22. [12] Vgl. in Fußnote 3 genannte Rahmenbeschlüsse und
Richtlinie. Einige dieser Rahmenbeschlüsse werden in den nächsten Jahren im
Lichte des Lissabonner Vertrags neu bewertet werden, darunter im Jahr 2012 der
Rahmenbeschluss 2000/383, geändert durch den Rahmenbeschluss 2001/888.
[13] Vgl. Mitteilung über die Stärkung der Sanktionsregelungen
im Finanzdienstleistungssektor, KOM(2010) 716 vom 8.12.2010. [14] Vgl. Übereinkommen über den Schutz der finanziellen
Interessen der EU und seine Protokolle (1995) und Verordnung (EG, Euratom)
Nr. 2988/95 des Rates vom 18.12.1995 über den Schutz der finanziellen
Interessen der Europäischen Gemeinschaften, ABl. L 312 vom 23.12.1995,
S. 1. [15] Vgl. Mitteilung über den Schutz der finanziellen
Interessen der Europäischen Union durch strafrechtliche Vorschriften und
verwaltungsrechtliche Untersuchungen – Gesamtkonzept zum Schutz von
Steuergeldern, KOM(2011) 293 vom 26.5.2011. [16] Artikel 5 Absatz 4 EUV. [17] Artikel 49 Absatz 3 der Charta der Grundrechte
der EU. [18] Artikel 83 Ziffer 2 AEUV. [19] Artikel 49 der Charta der Grundrechte der EU. [20] Vgl. Mitteilung über die Stärkung der Sanktionsregelungen
im Finanzdienstleistungssektor, KOM(2010) 716 endg. vom 8.12.2010,
S. 14. [21] Vgl. Mitteilung über den Schutz der finanziellen
Interessen der Europäischen Union durch strafrechtliche Vorschriften und
verwaltungsrechtliche Untersuchungen – Gesamtkonzept zum Schutz von
Steuergeldern, KOM(2011) 293 vom 26.5.2011, S. 10. [22] Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen SEK(2011) 391
vom 28.3.2011 zum Weißbuch „Fahrplan zu einem einheitlichen europäischen
Verkehrsraum – Hin zu einem wettbewerbsorientierten und ressourcenschonenden
Verkehrssystem“, KOM(2011) 144 vom 28.3.2011, Rdnr. 176. [23] Vgl. Mitteilung „Gesamtkonzept für den Datenschutz in der
Europäischen Union”, KOM(2010) 609 vom 4.11.2010, S. 9. [24] Vgl. Mitteilung „Ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und
des Rechts für die Bürger Europas – Aktionsplan zur Umsetzung des Stockholmer
Programms“, KOM(2010) 171 vom 20.4.2010, S. 22. [25] Vgl. Richtlinie 2008/99/EG über den strafrechtlichen
Schutz der Umwelt, ABl. L 328 vom 6.12.2008, und Richtlinie 2009/123/EG
über die Meeresverschmutzung durch Schiffe und die Einführung von Sanktionen
für Verstöße, ABl. L 280 vom 27.10.2009, S. 52.