20.10.2011   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 275/38


EMPFEHLUNG DER KOMMISSION

vom 18. Oktober 2011

zur Definition von Nanomaterialien

(Text von Bedeutung für den EWR)

(2011/696/EU)

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

In der Mitteilung der Kommission vom 7. Juni 2005„Nanowissenschaften und Nanotechnologien: Ein Aktionsplan für Europa 2005-2009“ (1) wurden eine Reihe zusammenhängender Maßnahmen für die unmittelbare Umsetzung einer sicheren, integrierten und verantwortungsvollen Strategie für Nanowissenschaften und Nanotechnologien festgelegt.

(2)

Die Kommission hat die einschlägigen EU-Rechtsvorschriften gemäß den im Rahmen des Aktionsplans eingegangenen Verpflichtungen sorgfältig geprüft, um festzustellen, wie weit die bestehenden Vorschriften auf die potenziellen Risiken von Nanomaterialien anwendbar sind. Das Ergebnis dieser Überprüfung wurde in die Mitteilung der Kommission vom 17. Juni 2008„Regelungsaspekte bei Nanomaterialien“ (2) aufgenommen. Die Kommission gelangte zu dem Schluss, dass der Begriff „Nanomaterialien“ in den Rechtsvorschriften der EU zwar nicht eigens genannt wird, die derzeitigen Rechtsvorschriften die von Nanomaterialien ausgehenden möglichen Gefahren für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt jedoch im Allgemeinen abdecken.

(3)

Das Europäische Parlament forderte in seiner Entschließung vom 24. April 2009 zu Regelungsaspekten bei Nanomaterialien (3) unter anderem die Einführung einer umfassenden, auf wissenschaftlichen Kenntnissen beruhenden Definition des Begriffs Nanomaterialien im Gemeinschaftsrecht.

(4)

Die Definition in dieser Empfehlung sollte als Referenz dienen, anhand deren bestimmt wird, ob ein Material zu legislativen oder politischen Zwecken in der EU als „Nanomaterial“ angesehen werden sollte. Die Definition des Begriffs „Nanomaterial“ im EU-Recht sollte sich ungeachtet der von einem Material ausgehenden Gefahren oder Risiken ausschließlich auf die Größe der Partikel stützen, aus denen das Material besteht. Diese ausschließlich auf der Größe eines Materials basierende Definition erstreckt sich auf natürliche, bei Prozessen anfallende und hergestellte Materialien.

(5)

Die Definition des Begriffs „Nanomaterial“ sollte auf verfügbaren wissenschaftlichen Kenntnissen basieren.

(6)

Größe und Größenverteilungen in Nanomaterialien sind oft schwer zu messen, und die Ergebnisse unterschiedlicher Messverfahren sind unter Umständen nicht miteinander vergleichbar. Es müssen harmonisierte Messverfahren entwickelt werden, um sicherzustellen, dass die Anwendung der Definition im Zeitverlauf und für alle Materialien zu kohärenten Ergebnissen führt. Solange keine harmonisierten Messverfahren vorliegen, sollten die besten verfügbaren alternativen Verfahren angewendet werden.

(7)

Die Gemeinsame Forschungsstelle der Europäischen Kommission schlägt in ihrem Bericht „Considerations on a Definition of Nanomaterials for Regulatory purposes“ (4) vor, eine Definition von Nanomaterialien sollte sich nur auf partikuläre Nanomaterialien beziehen, im EU-Recht breite Anwendung finden können und mit anderen Konzepten weltweit im Einklang stehen. Einzige definierende Eigenschaft sollte die Größe sein, was eine klare Definition der Grenzen im Nanobereich erfordert.

(8)

Die Kommission hat den Wissenschaftlichen Ausschuss „Neu auftretende und neu identifizierte Gesundheitsrisiken“ (SCENIHR) beauftragt, einen wissenschaftlichen Input zu Elementen zu liefern, die bei der Ausarbeitung einer Definition des Begriffs „Nanomaterial“ zu Regelungszwecken zu berücksichtigen sind. Das Gutachten „Scientific basis for the definition of the term ‚Nanomaterial‘“ war im Jahr 2010 Gegenstand einer öffentlichen Konsultation. In seinem Gutachten vom 8. Dezember 2010 (5) kam der SCENIHR zu dem Schluss, dass die Größe auf Nanomaterialien universell anwendbar ist und die am besten geeignete Messgröße darstellt. Ein definierter Größenbereich würde eine einheitliche Auslegung erleichtern. Als untere Grenze wurde 1 nm vorgeschlagen. Nach allgemeinem Konsens wird weithin eine obere Grenze von 100 nm angewendet, doch ist die Eignung dieses Wertes wissenschaftlich nicht belegt. Die Anwendung einer einzigen Obergrenze könnte für die Klassifizierung von Nanomaterialien zu eng sein, und ein differenzierter Ansatz wäre möglicherweise besser geeignet. Zu Regelungszwecken sollte auch die Anzahlgrößenverteilung berücksichtigt werden, wobei zur Verfeinerung der Definition eine Durchschnittsgröße und die Standardabweichung der Größe verwendet werden. Die Größenverteilung bei einem Material sollte dargestellt werden als Größenverteilung, der die Anzahlkonzentration (d. h. die Anzahl der Objekte in einem bestimmten Größenbereich geteilt durch die Gesamtzahl von Objekten) und nicht der Massenanteil von Nanopartikeln im Nanomaterial zugrunde liegt, da es vorkommen kann, dass ein kleiner Massenanteil die größte Zahl von Partikeln enthält. Der SCENIHR identifizierte bestimmte Sonderfälle, in denen die Anwendung der Definition erleichtert werden kann, indem die volumenspezifische Oberfläche als Indikator verwendet wird, um zu bestimmen, ob ein Material in den definierten Nanogrößenbereich fällt.

(9)

Die Internationale Organisation für Normung definiert den Begriff „Nanomaterial“ als Material mit Außenmaßen im Nanobereich oder einer inneren Struktur oder Oberflächenstruktur im Nanobereich. Der Begriff „Nanobereich“ wird definiert als Größenbereich zwischen etwa 1 nm und 100 nm (6).

(10)

Mit der Anzahlgrößenverteilung soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass Nanomaterialien typischerweise aus einer Vielzahl Partikel bestehen, die in unterschiedlichen Größen mit einer bestimmten Verteilung vorkommen. Ohne Spezifizierung der Anzahlgrößenverteilung wäre es schwierig festzustellen, ob ein bestimmtes Material, bei dem manche Partikel kleiner und andere größer als 100 nm sind, der Definition entspricht. Dieser Ansatz steht mit dem Gutachten des SCENIHR im Einklang, nach dem die Partikelverteilung eines Materials als auf der Anzahlkonzentration (d. h. der Partikelanzahl) basierende Verteilung dargestellt werden sollte.

(11)

Es gibt keine eindeutige wissenschaftliche Grundlage für die Annahme eines spezifischen Werts für die Größenverteilung, bei dessen Unterschreitung davon ausgegangen wird, dass Materialien, die Partikel im Größenbereich von 1 nm bis 100 nm enthalten, nicht die spezifischen Eigenschaften von Nanomaterialien aufweisen. Dem wissenschaftlichen Gutachten zufolge sollte ein statistischer Ansatz angewendet werden, der auf einer Standardabweichung mit einem Schwellenwert von 0,15 % basiert. Angesichts der weiten Verbreitung von Materialien, die unter einen solchen Schwellenwert fallen würden, und der Notwendigkeit einer auf einen Regelungskontext zugeschnittenen Definition sollte der Schwellenwert höher angesetzt werden. Ein Nanomaterial gemäß der Definition in dieser Empfehlung sollte zu mindestens 50 % aus Partikeln von einer Größe zwischen 1 nm und 100 nm bestehen. Gemäß dem Gutachten des SCENIHR kann in bestimmten Fällen auch eine kleinere Anzahl von Partikeln im Größenbereich von 1 nm bis 100 nm eine gezielte Bewertung rechtfertigen. Allerdings wäre es irreführend, solche Materialien als Nanomaterialien einzustufen. Gleichwohl kann es besondere Rechtsumstände geben, unter denen Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- oder Wettbewerbserwägungen die Anwendung eines Schwellenwertes von unter 50 % rechtfertigen.

(12)

Agglomerierte und aggregierte Partikel können dieselben Eigenschaften aufweisen wie die nicht gebundenen Partikel. Außerdem kann es während der Lebensdauer eines Nanomaterials vorkommen, dass Partikel aus den Agglomeraten oder Aggregaten freigesetzt werden. Die Definition in dieser Empfehlung sollte daher auch Partikel in Agglomeraten und Aggregaten umfassen, sofern die konstituierenden Partikel in den Größenbereich von 1 nm bis 100 nm fallen.

(13)

Derzeit kann bei trockenen festen Materialien oder Pulver die spezifische Oberfläche/Volumen anhand der Stickstoffadsorptionsmethode („BET-Methode“) gemessen werden. In diesen Fällen kann die spezifische Oberfläche als Indikator zur Identifizierung eines Nanomaterials herangezogen werden. Im Zuge neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse können diese und andere Methoden künftig möglicherweise auch auf andere Arten von Materialien angewendet werden. Die Messung der spezifischen Oberfläche und die der Anzahlgrößenverteilung werden unter Umständen von einem Material zum anderen voneinander abweichen. Es sollte daher spezifiziert werden, dass die Ergebnisse für die Anzahlgrößenverteilung den Ausschlag geben sollten und dass die spezifische Oberfläche nicht zum Nachweis dafür verwendet werden darf, dass ein Material kein Nanomaterial ist.

(14)

Die technologische Entwicklung und der Stand der Wissenschaft schreiten rasch voran. Die Definition einschließlich der Deskriptoren sollte daher bis Dezember 2014 überprüft werden, um sicherzustellen, dass sie dem Bedarf gerecht wird. Dabei ist insbesondere zu prüfen, ob der Schwellenwert von 50 % für die Anzahlgrößenverteilung herauf- oder herabgesetzt werden sollte und ob Materialien mit einer inneren Struktur oder Oberflächenstruktur im Nanobereich (z. B. komplexe Nanokomponenten-Nanomaterialien einschließlich nanoporörse und Nanokomposit-Materialien, wie sie in einigen Sektoren verwendet werden) einbezogen werden sollten.

(15)

Um die Anwendung der Definition in einem spezifischen rechtlichen Kontext zu vereinfachen, sollten — soweit dies machbar ist und verlässliche Ergebnisse zeitigt — Leitfäden und standardisierte Messverfahren entwickelt und Kenntnisse über typische Konzentrationen von Nanopartikeln in repräsentativen Materialien erworben werden.

(16)

Die Definition in dieser Empfehlung sollte den Geltungsbereich von EU-Rechtsvorschriften oder Bestimmungen, mit denen unter Umständen zusätzliche Anforderungen an diese Materialien — einschließlich in Bezug auf das Risikomanagement — festgelegt werden, unberührt lassen. In einigen Fällen kann es notwendig sein, bestimmte Materialien aus dem Geltungsbereich spezifischer Rechtsvorschriften auszuklammern, selbst wenn diese Materialien unter die Definition fallen. Ebenso kann es erforderlich sein, weitere Materialien wie z. B. einige Materialien mit einer Größe von unter 1 nm oder über 100 nm in den Geltungsbereich spezifischer, für ein Nanomaterial geeigneter Rechtsvorschriften aufzunehmen.

(17)

Angesichts der besonderen Gegebenheiten im pharmazeutischen Sektor und der bereits verwendeten spezialisierten Systeme mit Nanostruktur sollte die Definition in dieser Empfehlung die Verwendung des Begriffs „Nano“ bei der Definition bestimmter Pharmazeutika und medizinischer Geräte unberührt lassen —

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.

Die Mitgliedstaaten, die EU-Agenturen und die Wirtschaftsteilnehmer werden aufgefordert, bei der Annahme und Durchführung von Rechtsvorschriften und Politik- und Forschungsprogrammen, die Produkte von Nanotechnologien betreffen, die nachstehende Definition von „Nanomaterial“ zu verwenden.

2.

„Nanomaterial“ ist ein natürliches, bei Prozessen anfallendes oder hergestelltes Material, das Partikel in ungebundenem Zustand, als Aggregat oder als Agglomerat enthält, und bei dem mindestens 50 % der Partikel in der Anzahlgrößenverteilung ein oder mehrere Außenmaße im Bereich von 1 nm bis 100 nm haben.

In besonderen Fällen kann der Schwellenwert von 50 % für die Anzahlgrößenverteilung durch einen Schwellenwert zwischen 1 % und 50 % ersetzt werden, wenn Umwelt-, Gesundheits-, Sicherheits- oder Wettbewerbserwägungen dies rechtfertigen.

3.

Abweichend von Nummer 2 sind Fullerene, Graphenflocken und einwandige Kohlenstoff-Nanoröhren mit einem oder mehreren Außenmaßen unter 1 nm als Nanomaterialien zu betrachten.

4.

Für die Anwendung von Nummer 2 gelten für „Partikel“, „Agglomerat“ und „Aggregat“ folgende Begriffsbestimmungen:

a)

„Partikel“ ist ein sehr kleines Teilchen einer Substanz mit definierten physikalischen Grenzen;

b)

„Agglomerat“ ist eine Ansammlung schwach gebundener Partikel oder Aggregate, in der die resultierende Oberfläche ähnlich der Summe der Oberflächen der einzelnen Bestandteile ist;

c)

„Aggregat“ ist ein Partikel aus fest gebundenen oder verschmolzenen Partikeln.

5.

Sofern technisch machbar und in spezifischen Rechtsvorschriften vorgeschrieben, kann die Übereinstimmung mit der Definition von Nummer 2 anhand der spezifischen Oberfläche/Volumen bestimmt werden. Ein Material mit einer spezifischen Oberfläche/Volumen von über 60 m2/cm3 ist als der Definition von Nummer 2 entsprechend anzusehen. Allerdings ist ein Material, das aufgrund seiner Anzahlgrößenverteilung ein Nanomaterial ist, auch dann als der Definition von Nummer 2 entsprechend anzusehen, wenn seine spezifische Oberfläche kleiner als 60 m2/cm3 ist.

6.

Die unter den Nummern 1 bis 5 festgelegte Definition wird bis Dezember 2014 im Licht der gewonnenen Erfahrungen und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen überprüft. Dabei sollte insbesondere geprüft werden, ob der Schwellenwert von 50 % für die Anzahlgrößenverteilung herauf- oder herabgesetzt werden sollte.

7.

Diese Empfehlung ist an die Mitgliedstaaten, die EU-Agenturen und die Wirtschaftsteilnehmer gerichtet.

Brüssel, den 18. Oktober 2011

Für die Kommission

Janez POTOČNIK

Mitglied der Kommission


(1)  KOM(2005) 243 endg.

(2)  KOM(2008) 366 endg.

(3)  P6_TA(2009) 0328

(4)  EUR 24403 EN, Juni 2010

(5)  http://ec.europa.eu/health/scientific_committees/emerging/docs/scenihr_o_032.pdf

(6)  http://cdb.iso.org