12.8.2016   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 217/53


EMPFEHLUNG (EU) 2016/1374 DER KOMMISSION

vom 27. Juli 2016

zur Rechtsstaatlichkeit in Polen

DIE EUROPÄISCHE KOMMISSION —

gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, insbesondere auf Artikel 292,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

Die Europäische Union gründet sich auf eine Reihe gemeinsamer Werte, die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union verankert sind und zu denen die Achtung der Rechtsstaatlichkeit zählt. Neben ihrer Aufgabe als Hüterin des EU-Rechts obliegt der Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Parlament, den Mitgliedstaaten und dem Rat darüber hinaus auch die Sicherstellung der gemeinsamen Werte der Union.

(2)

Aus diesem Grund hat die Kommission unter Berücksichtigung der ihr aus den Verträgen erwachsenden Aufgaben am 11. März 2014 die Mitteilung „Ein neuer EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips“ (1) vorgelegt. In dieser Mitteilung wird zum einen dargelegt, wie die Kommission bei klaren Hinweisen auf eine Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat der Union reagieren wird, und werden zum anderen die sich aus der Rechtsstaatlichkeit ableitenden Grundsätze erläutert.

(3)

Der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips enthält Leitlinien für einen Dialog zwischen der Kommission und dem betreffenden Mitgliedstaat, die die Ausweitung systemimmanenter Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit verhindern sollen.

(4)

Dieser Dialog soll die Kommission in die Lage versetzen, gemeinsam mit dem betroffenen Mitgliedstaat eine Lösung zu finden, und so die Entstehung einer systemimmanenten Gefahr für das Rechtsstaatsprinzip verhindern, die sich zu einer „eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ ausweiten könnte, was möglicherweise das Verfahren nach Artikel 7 EUV auslösen würde. Gibt es in einem Mitgliedstaat klare Hinweise auf eine systemimmanente Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit, kann die Kommission innerhalb des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einen Dialog mit dem betreffenden Mitgliedstaat einleiten.

(5)

Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Texte des Europarats, der sich auf diesem Gebiet vor allem auf die Sachkenntnis der Europäischen Kommission für Demokratie durch Recht („Venedig-Kommission“) stützt, liefern eine nicht erschöpfende Aufstellung dieser Grundsätze und definieren das Rechtsstaatsprinzip im Kern als einen gemeinsamen Wert der EU im Sinne von Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV). Zu diesen Grundsätzen zählen das Rechtmäßigkeitsprinzip, das einen transparenten, auf der Rechenschaftspflicht beruhenden, demokratischen und pluralistischen Gesetzgebungsprozess impliziert, die Rechtssicherheit, das Willkürverbot für die Exekutive, unabhängige und unparteiische Gerichte, eine wirksame richterliche Kontrolle, auch im Hinblick auf die Grundrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz (2). Neben der Wahrung dieser Grundsätze und Werte sind die Staatsorgane auch zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet.

(6)

Der Rahmen soll in Fällen zur Anwendung gelangen, in denen die Behörden eines Mitgliedstaats Maßnahmen ergreifen oder Umstände tolerieren, die aller Wahrscheinlichkeit nach die Integrität, die Stabilität oder das ordnungsgemäße Funktionieren der Organe und der auf nationaler Ebene zum Schutz des Rechtsstaats vorgesehenen Sicherheitsvorkehrungen systematisch beeinträchtigen. (3) Er soll in erster Linie bei einer Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit zur Anwendung kommen, die ihrem Wesen nach systemimmanent ist. (4) Die Gefährdung muss sich gegen die politische, institutionelle und/oder rechtliche Ordnung eines Mitgliedstaats als solche, die verfassungsmäßige Struktur, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit der Justiz oder das System der richterlichen Kontrolle einschließlich der Verfassungsjustiz (sofern vorhanden) richten. (5) Der Rahmen soll zum Einsatz kommen, wenn die nationalen Vorkehrungen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit nicht ausreichend erscheinen, um die Gefährdung effektiv abzustellen.

(7)

Der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips umfasst drei Stufen: In der ersten Stufe („Sachstandsanalyse der Kommission“) holt die Kommission alle relevanten Informationen ein und prüft, ob es klare Anzeichen für eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit gibt. Gelangt die Kommission nach dieser vorläufigen Prüfung zu dem Ergebnis, dass eine systemische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, tritt sie mit dem betroffenen Mitgliedstaat in einen Dialog, indem sie eine „Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit“ an ihn richtet, in der sie ihre Bedenken begründet und dem Mitgliedstaat Gelegenheit gibt, sich dazu zu äußern. Dieser Stellungnahme können ein Schriftwechsel und Treffen mit den zuständigen Behörden vorausgehen, gegebenenfalls gefolgt von weiteren Kontakten. In der zweiten Verfahrensphase („Empfehlung der Kommission“) kann die Kommission eine „Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit“ an den Mitgliedstaat richten, sofern die Angelegenheit in der Zwischenzeit nicht zufriedenstellend geregelt werden konnte. In diesem Fall legt die Kommission die Gründe für ihre Bedenken dar und setzt dem Mitgliedstaat eine Frist, innerhalb deren er die beanstandeten Probleme zu beheben hat. Der Mitgliedstaat informiert die Kommission über die hierzu von ihm unternommenen Schritte. Als dritten Schritt („Follow-up zur Empfehlung der Kommission“) verfolgt die Kommission die Maßnahmen, die der Mitgliedstaat auf die Empfehlung hin getroffen hat. Das gesamte Verfahren basiert auf einem kontinuierlichen Dialog zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat. Kommt der Mitgliedstaat der Empfehlung innerhalb der gesetzten Frist nicht zufriedenstellend nach, kann auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Kommission das Verfahren nach Artikel 7 EUV eingeleitet werden.

(8)

Im November 2015 erhielt die Kommission Kenntnis von einem laufenden Rechtsstreit in Polen, der insbesondere die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts sowie die Verkürzung des Mandats des derzeitigen Präsidenten und Vizepräsidenten des Gerichts betraf. Am 3. und 9. Dezember 2015 ergingen in dieser Sache zwei Urteile des Verfassungsgerichts.

(9)

Am 22. Dezember 2015 verabschiedete der Sejm ein Gesetz zur Änderung des Gesetzes über das Verfassungsgericht, das sich auf dessen Funktionsfähigkeit und die Unabhängigkeit seiner Richter auswirkt. (6)

(10)

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2015 an die polnische Regierung (7) erbat die Kommission Auskünfte über die Verfassungslage in Polen, einschließlich der von den polnischen Behörden im Hinblick auf die oben genannten beiden Urteile des Verfassungsgerichts geplanten Schritte. Mit Blick auf die im Gesetz vom 22. Dezember 2015 über das Verfassungsgericht enthaltenen Änderungen brachte die Kommission ihre Erwartung zum Ausdruck, dass dieses Gesetz so lange nicht endgültig erlassen oder zumindest nicht in Kraft gesetzt werde, bis alle Fragen zu seinen Auswirkungen auf die Unabhängigkeit und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts vollständig und ordnungsgemäß geprüft seien. Die Kommission empfahl den polnischen Behörden ferner, eng mit der Venedig-Kommission des Europarats zusammenzuarbeiten.

(11)

Am 23. Dezember 2015 ersuchte die polnische Regierung die Venedig-Kommission, zu dem am 22. Dezember 2015 verabschiedeten Gesetz Stellung zu nehmen. Doch wartete das polnische Parlament vor Einleitung weiterer Maßnahmen nicht den Eingang dieser Stellungnahme ab, sodass das Gesetz im Amtsblatt veröffentlicht wurde und am 28. Dezember 2015 in Kraft trat.

(12)

Am 30. Dezember 2015 bat die Kommission die polnische Regierung schriftlich (8) um zusätzliche Auskünfte zur geplanten Reform der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Polen. Am 31. Dezember 2015 verabschiedete der polnische Senat das „kleine Mediengesetz“, das die Verwaltungs- und Aufsichtsräte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens (TVP) und des öffentlich-rechtlichen Hörfunks (PR) in Polen betrifft. Am 7. Januar 2016 erhielt die Kommission die Antwort der polnischen Regierung (9) auf ihr Schreiben zum Mediengesetz, in der diese eine Einschränkung des Medienpluralismus bestritt. Am 11. Januar ging die Antwort der polnischen Regierung zur Reform des Verfassungsgerichts (10) bei der Kommission ein. Diese Antworten konnten die Bedenken der Kommission nicht ausräumen.

(13)

Am 13. Januar 2016 führte das Kollegium der Kommissionsmitglieder eine erste Orientierungsaussprache, um die Lage in Polen zu bewerten. Die Kommission beschloss, die Lage anhand des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips zu prüfen, und erteilte dem Ersten Vizepräsidenten Timmermans das Mandat, mit den Organen der Republik Polen in Dialog zu treten, um diese Fragen zu klären und Lösungsmöglichkeiten zu finden. Am selben Tag teilte die Kommission der polnischen Regierung schriftlich mit (11), dass sie die Lage anhand des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips prüfe und mit den Organen der Republik Polen in Dialog treten wolle, um diese Fragen zu klären und Lösungsmöglichkeiten zu finden. Mit Schreiben vom 19. Januar 2016 (12) bot die Kommission der polnischen Regierung an, Expertise einzubringen und Fragen im Zusammenhang mit dem neuen Mediengesetz zu erörtern.

(14)

Mit Schreiben vom 19. Januar 2016 (13) legte die polnische Regierung der Kommission ihre Sicht des Streits über die Ernennung der Richter dar und verwies dabei unter anderem auf ein Verfassungsgewohnheitsrecht bei der Ernennung von Richtern. Die polnische Regierung zählte einige positive Auswirkungen auf, die ihrer Auffassung nach mit der Änderung des Gesetzes über das Verfassungsgericht einhergehen.

(15)

Am selben Tag fand im Europäischen Parlament eine Plenardebatte über die Lage in Polen statt.

(16)

Am 1. Februar 2016 wies die Kommission die polnische Regierung schriftlich darauf hin (14), dass die Umsetzung der Urteile des Verfassungsgerichts über die Ernennung von Richtern immer noch ausstehe. In diesem Schreiben unterstrich die Kommission auch die Notwendigkeit, die Änderung des Gesetzes über das Verfassungsgericht, insbesondere die „kombinierten Auswirkungen“ der einzelnen Änderungen, eingehender zu prüfen, und forderte ausführlichere Erläuterungen an. Zudem wurden Informationen über andere kürzlich angenommene Gesetze erbeten, insbesondere das neue Gesetz über den öffentlichen Dienst, das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und anderer Rechtsvorschriften sowie das Gesetz über die Staatsanwaltschaft, und Informationen über geplante Gesetzesreformen, insbesondere weitere Reformen des Medienrechts, angefordert.

(17)

Am 29. Februar 2016 übermittelte die polnische Regierung der Kommission weitere Erläuterungen zum Mandat des Präsidenten des Verfassungsgerichts. (15) Diesem Schreiben zufolge hat das Gericht in seinem Urteil vom 9. Dezember 2015 festgestellt, dass die Übergangsbestimmungen des Änderungsgesetzes, die die Beendigung des Mandats des Präsidenten vorsahen, für verfassungswidrig erklärt worden seien und somit ihre rechtliche Wirkung verloren hätten. Folglich werde der derzeitige Gerichtspräsident sein Mandat gemäß den alten Rechtsvorschriften weiter ausüben, bis es am 19. Dezember 2016 ende. Das Mandat des nächsten Präsidenten werde 3 Jahre lang gelten. Ferner wird in dem Schreiben um Klarstellung der Frage gebeten, was die Kommission damit meine, wenn sie insistiere, dass die Umsetzung der bindenden und endgültigen Urteile des Verfassungsgerichts noch immer ausstehe, und warum nach Ansicht der Kommission die Entschließungen zur Wahl der drei Richter des Verfassungsgerichts am 2. Dezember 2015 im Widerspruch zu dem danach ergangenen Urteil des Gerichts stünden.

(18)

Am 3. März 2016 richtete die Kommission ein Schreiben an die polnische Regierung (16), in dem sie — wie von der polnischen Regierung in ihrem Schreiben vom 29. Februar 2016 gewünscht — zum Problem der Ernennung von Richtern Stellung nahm. In Bezug auf die Änderung des Gesetzes über das Verfassungsgericht heißt es in dem Schreiben, dass einer vorläufigen Bewertung zufolge bestimmte Änderungen, sowohl einzeln als auch zusammengenommen, dem Verfassungsgericht die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit neu verabschiedeter Gesetze erschweren würden und daher genauere Erläuterungen erforderlich seien. Zudem wurde um Informationen über andere vor Kurzem angenommene Gesetze und weitere geplante Gesetzesreformen gebeten.

(19)

Am 9. März 2016 erklärte das Verfassungsgericht das Gesetz vom 22. Dezember 2015 für verfassungswidrig. Das Urteil wurde von der Regierung bislang nicht im Amtsblatt veröffentlicht und ist somit nicht rechtskräftig.

(20)

Am 11. März 2016 gab die Venedig-Kommission ihre Stellungnahme „über Änderungen des Gesetzes über das Verfassungsgericht vom 25. Juni 2015“ ab. (17) In Bezug auf die Ernennung von Richtern wurde das polnische Parlament aufgefordert, eine Lösung im Sinne der Rechtsstaatlichkeit zu finden und den Urteilen des Gerichts Rechnung zu tragen. Ferner wurde darauf verwiesen, dass das hohe Anwesenheitsquorum, die für die Beschlussfassung erforderliche Zweidrittelmehrheit sowie die strikte Regelung, die die Behandlung dringender Fälle unmöglich macht, das Verfassungsgericht aushebelt — vor allem wenn diese Bestimmungen gemeinsam zum Tragen kommen. Darüber hinaus würde die Weigerung, das Urteil vom 9. März zu veröffentlichen, die Verfassungskrise in Polen weiter verschärfen.

(21)

In ihrem Schreiben vom 21. März 2016 an die Kommission lud die polnische Regierung den Ersten Vizepräsidenten Timmermans zu einem Treffen in Polen ein, um den bislang zwischen der polnischen Regierung und der Kommission geführten Dialog zu bewerten und festzulegen, wie er unparteiisch, auf der Grundlage von Fakten und konstruktiv fortgesetzt werden könne.

(22)

Am 31. März 2016 übermittelte die polnische Regierung der Kommission neue Informationen und rechtliche Beurteilungen hinsichtlich des Streits über das Verfassungsgericht in Polen. Am 5. April 2016 fanden in Warschau Treffen zwischen dem Ersten Vizepräsidenten Timmermans und dem polnischen Außenminister, dem Justizminister, dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten sowie dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten des Verfassungsgerichts statt. Im Anschluss daran gab es mehrere Treffen zwischen der durch das Justizministerium vertretenen polnischen Regierung und der Kommission.

(23)

Nach dem Urteil vom 9. März 2016 nahm das Verfassungsgericht seine Rechtsprechungstätigkeit wieder auf. Die polnische Regierung beteiligte sich an diesen Verfahren nicht, und bislang wurden die seit dem 9. März 2016 ergangenen Urteile des Verfassungsgerichts von der Regierung nicht im Amtsblatt veröffentlicht. (18)

(24)

Am 13. April 2016 nahm das Europäische Parlament eine Entschließung zur Lage in Polen an, in der die polnische Regierung u. a. nachdrücklich aufgefordert wurde, das Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 zu achten, zu veröffentlichen und unverzüglich umzusetzen, und auch die Urteile vom 3. und 9. Dezember 2015 umzusetzen; darüber hinaus wurde die polnische Regierung aufgefordert, den Empfehlungen der Venedig-Kommission uneingeschränkt Rechnung zu tragen.

(25)

Am 20. April 2016 fand ein Treffen zwischen der Kommission und Vertretern des Netzes der Präsidenten der obersten Gerichtshöfe der EU und der Konferenz der europäischen Verfassungsgerichte statt, um die Lage in Polen zu erörtern.

(26)

Am 26. April 2016 nahm die Generalversammlung des Obersten Gerichtshofs Polens eine Entschließung an, in der bestätigt wurde, dass die Urteile des Verfassungsgerichts gültig sind, auch wenn die polnische Regierung sich weigert, sie im Amtsblatt zu veröffentlichen.

(27)

Am 29. April 2016 legte eine Gruppe von Mitgliedern des Sejm diesem einen Legislativvorschlag für ein neues Gesetz über das Verfassungsgericht vor, um das derzeitige Gesetz zu ersetzen. Der Vorschlag enthielt mehrere bereits von der Venedig-Kommission in ihrer Stellungnahme vom 11. März 2016 kritisierte Bestimmungen, die vom Verfassungsgericht in seinem Urteil vom 9. März 2016 für verfassungswidrig erklärt worden waren. Dazu gehört u. a. die erforderliche Zweidrittelmehrheit für die Annahme von Entscheidungen für die „abstrakte“ Normenkontrolle neu verabschiedeter Gesetze. Im Laufe des Monats April wurde im Sejm eine Sachverständigengruppe zusammengestellt, die zur Ausarbeitung eines neuen Gesetzes über das Verfassungsgericht beitragen sollte.

(28)

Am 24. Mai 2016 traf sich der Erste Vizepräsident Timmermans in Warschau zu Gesprächen mit der polnischen Ministerpräsidentin, dem Präsidenten und Vizepräsidenten des polnischen Verfassungsgerichts, dem Bürgerbeauftragten, der Oberbürgermeisterin von Warschau sowie Mitgliedern der Oppositionsparteien im Sejm. Am 26. Mai 2016 fand in Brüssel ein Treffen zwischen dem Ersten Vizepräsidenten Timmermans und dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Polens statt. Es folgten weitere Gespräche und Treffen zwischen der Kommission und der polnischen Regierung.

(29)

Trotz des detaillierten und konstruktiven Austauschs zwischen der Kommission und der polnischen Regierung konnten die Bedenken der Kommission nicht ausgeräumt werden. Am 1. Juni 2016 gab die Kommission eine Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit in Polen ab. Nachdem die Kommission seit dem 13. Januar einen Dialog mit der polnischen Regierung geführt hatte, hielt sie es für erforderlich, ihre Bewertung der gegenwärtigen Lage in dieser Stellungnahme zu formalisieren. Die Stellungnahme, in der die Bedenken der Kommission dargelegt wurden, sollte dazu beitragen, im Rahmen des laufenden Dialogs mit den polnischen Behörden zu einer Lösung zu gelangen.

(30)

Am 24. Juni 2016 richtete die polnische Regierung ein Schreiben an die Kommission, in dem sie den Eingang der Stellungnahme zur Rechtsstaatlichkeit vom 1. Juni bestätigte. (19) Das Schreiben lieferte Informationen zum Stand der parlamentarischen Arbeit in Polen, u. a. über ein neues Gesetz über das Verfassungsgericht; ferner brachte die polnische Regierung darin ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass das Parlament auf dem richtigen Weg sei, eine konstruktive Lösung zu finden. Der Dialog zwischen der Kommission und der polnischen Regierung wurde daraufhin fortgesetzt.

(31)

Am 22. Juli 2016 verabschiedete der Sejm ein neues Gesetz über das Verfassungsgericht, mit dem das Gesetz über das Verfassungsgericht vom 25. Juni 2015 aufgehoben wurde. Am 10. Juni 2016 fand die erste Lesung statt, die zweite Lesung begann am 5. Juli 2016, die dritte Lesung wurde am 7. Juli abgeschlossen. Am 21. Juli nahm der Senat Änderungen zum Gesetz an. Am 22. Juli verabschiedet der Sejm das Gesetz in der vom Senat geänderten Fassung. Bevor das Gesetz rechtskräftig wird, muss es vom Präsidenten der Republik unterzeichnet und im Amtsblatt veröffentlicht werden. Die Kommission nahm zum Inhalt des Gesetzesentwurfs Stellung und diskutierte diesen mit den polnischen Behörden in verschiedenen Phasen des Rechtsetzungsprozesses.

HAT FOLGENDE EMPFEHLUNG ABGEGEBEN:

1.

Polen sollte der nachfolgenden Analyse der Kommission gebührend Rechnung tragen und die in Abschnitt 6 dieser Empfehlung genannten Maßnahmen ergreifen, damit die ermittelten Probleme innerhalb der gesetzten Frist gelöst werden.

1.   GEGENSTAND DER EMPFEHLUNG

2.

Die vorliegende Empfehlung benennt die Bedenken der Kommission bezüglich der Rechtsstaatlichkeit in Polen und gibt den polnischen Behörden Empfehlungen zur Reaktion auf diese Bedenken an die Hand. Die Bedenken betreffen folgende Punkte:

(1)

die Ernennung der Richter des Verfassungsgerichts und die mangelnde Umsetzung der einschlägigen Urteile des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015;

(2)

die fehlende Veröffentlichung im Amtsblatt und die mangelnde Umsetzung des Urteils des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 sowie seiner Urteile seit dem 9. März 2016;

(3)

die Wirksamkeit der Arbeitsweise des Verfassungsgerichts und der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit neuer Rechtsvorschriften, insbesondere mit Blick auf das Gesetz über das Verfassungsgericht, das der Sejm am 22. Juli 2016 verabschiedet hat.

2.   ERNENNUNG VON RICHTERN DES VERFASSUNGSGERICHTS

3.

Vor der Wahl zum Sejm am 25. Oktober 2015 benannte die scheidende Volksvertretung am 8. Oktober fünf Personen, die vom Präsidenten der Republik zu Richtern des Verfassungsgerichts „ernannt“ werden sollten. Drei dieser Richter sollten Stellen besetzen, die während der zu Ende gehenden Legislaturperiode frei geworden waren, zwei Richter sollten Stellen besetzen, die während der am 12. November 2015 beginnenden Legislaturperiode frei würden.

4.

Am 19. November 2015 änderte der Sejm in einem beschleunigten Verfahren das Gesetz über das Verfassungsgericht und führte die Möglichkeit ein, die Benennung von Richtern durch die vorherige Volksvertretung aufzuheben und fünf neue Richter zu benennen. Am 25. November 2015 hob der Sejm die fünf Nominierungen der vorherigen Volksvertretung auf und benannte am 2. Dezember fünf neue Richter.

5.

Sowohl der Beschluss der vorherigen Volksvertretung als auch der Beschluss der neuen Volksvertretung wurden vor dem Verfassungsgericht angefochten. Dementsprechend ergingen am 3. und 9. Dezember 2015 zwei Urteile des Verfassungsgerichts.

6.

In seinem Urteil vom 3. Dezember (20) entschied das Verfassungsgericht unter anderem, dass der vorherige Sejm berechtigt war, drei Richter für die am 6. November 2015 frei gewordenen Stellen zu benennen. Gleichzeitig stellte das Gericht klar, dass die vorherige Volksvertretung nicht zur Benennung der beiden Richter als Ersatz jener mit im Dezember auslaufenden Mandaten berechtigt gewesen war. Auch bezog sich das Urteil speziell auf die Verpflichtung des Präsidenten der Republik, einen vom Sejm gewählten Richter sofort zu vereidigen.

7.

Am 9. Dezember (21) erklärte das Verfassungsgericht unter anderem, die Benennung von drei Richtern für die Stellen, die am 6. November 2015 frei geworden waren und für die bereits die vorherige Volksvertretung rechtmäßig Richter benannt hatte, durch den neuen Sejm entbehre jeder Rechtsgrundlage.

8.

Trotz dieser Urteile sind die drei von der vorherigen Volksvertretung benannten Richter vom Präsidenten der Republik noch nicht vereidigt worden und haben ihr Amt als Richter des Verfassungsgerichts nicht angetreten. Die drei Richter, die ohne gültige Rechtsgrundlage von der neuen Volksvertretung benannt worden waren, sind hingegen vom Präsidenten der Republik vereidigt worden.

9.

Die beiden Richter, die von der neuen Volksvertretung als Ersatz für die beiden im Dezember 2015 ausgeschiedenen Richter benannt wurden, haben in der Zwischenzeit ihr Amt als Richter des Verfassungsgerichts angetreten.

10.

Am 28. April 2016 vereidigte der Präsident der Republik einen neuen Richter des Verfassungsgerichts, der vom Sejm als Ersatz für einen im selben Monat nach Ablauf seiner Amtszeit ausgeschiedenen Richter benannt worden war.

11.

Am 22. Juli 2016 verabschiedete der Sejm ein neues Gesetz über das Verfassungsgericht. Richter des Gerichts, die vom Präsidenten der Republik vereidigt wurden, aber bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes ihre richterliche Tätigkeit noch nicht aufgenommen haben, werden laut Artikel 90 dieses Gesetzes vom Präsidenten des Gerichts Gremien zugeordnet, zudem weist er ihnen Fälle zu. In Artikel 6 Absatz 7 des neuen Gesetzes ist festgelegt, dass Richter nach ihrer Vereidigung bei Gericht vorstellig werden, um ihre Tätigkeit aufzunehmen, und dass der Präsident des Gerichts ihnen Fälle zuweist und die Voraussetzungen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben schafft.

12.

Nach Auffassung der Kommission wurden die verbindlichen und rechtskräftigen Urteile des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015 hinsichtlich der Ernennung von Richtern noch immer nicht umgesetzt. Nach diesen Urteilen müssen die Staatsorgane Polens loyal zusammenarbeiten, um zu gewährleisten, dass die drei Richter, die während der vorherigen Wahlperiode vom Sejm benannt wurden, gemäß dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit ihr Amt als Richter des Verfassungsgerichts antreten können; sie müssen ferner dafür sorgen, dass die drei Richter, die von der aktuellen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage benannt wurden, dieses Amt nicht antreten. Der Umstand, dass diese Urteile noch nicht umgesetzt worden sind, gibt Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit, da die Umsetzung rechtskräftiger Gerichtsurteile eine grundlegende Bedingung der Rechtsstaatlichkeit ist.

13.

In einem ihrer Schreiben verwies die polnische Regierung darauf, dass es in Polen verfassungsrechtliche Gepflogenheiten bei der Ernennung von Richtern gebe, die den Standpunkt der neuen Volksvertretung stützten. Die Kommission stellt jedoch im Einklang mit der Venedig-Kommission (22) fest, dass es Sache des Verfassungsgerichts ist, das nationale Verfassungsrecht und die einschlägigen Gepflogenheiten auszulegen und anzuwenden, und dass das Verfassungsgericht in seinen Urteilen nicht auf solche Gepflogenheiten verwiesen hat. Das Urteil vom 3. Dezember, das die Rechtsgrundlage für die Benennung von drei Richtern durch den vorherigen Sejm in Bezug auf die Stellen bestätigte, die am 6. November frei geworden waren, kann nicht unter Berufung auf angebliche verfassungsrechtliche Gepflogenheiten aufgehoben werden, die das Gericht nicht anerkannt hat.

14.

Wenn die polnischen Behörden ferner geltend machen, die Regierung sei lediglich verpflichtet, diese Urteile zu veröffentlichen, erkennen sie den Urteilen vom 3. und 9. Dezember die rechtliche und praktische Wirkung ab. Insbesondere wird die Verpflichtung des Präsidenten der Republik aberkannt, die Richter zu vereidigen; diese wurde jedoch vom Verfassungsgericht bestätigt.

15.

Ferner stellt die Kommission fest, dass auch die Venedig-Kommission die Auffassung vertritt, dass eine Lösung des derzeitigen Konflikts über die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts auf der Verpflichtung zur Beachtung und vollständigen Umsetzung der Urteile des Verfassungsgerichts beruhen muss, und die Venedig-Kommission daher alle Staatsorgane und insbesondere den Sejm auffordert, die Urteile vollständig zu beachten und umzusetzen (23).

16.

Schließlich hält die Kommission mit Blick auf das am 22. Juli 2016 verabschiedete Gesetz über das Verfassungsgericht fest, dass dieses Gesetz mit den Urteilen vom 3. und 9. Dezember nicht vereinbar ist. In Artikel 90 und Artikel 6 Absatz 7 ist festgelegt, dass der Präsident des Verfassungsgerichts allen Richtern Fälle zuweisen muss, die vom Präsidenten der Republik vereidigt wurden, ihre richterliche Tätigkeit aber noch nicht aufgenommen haben. Diese Bestimmung scheint auf die Lage der drei Richter zugeschnitten zu sein, die im Dezember 2015 widerrechtlich vom neuen Sejm ernannt wurden. Diesen Richtern würde die Bestimmung den Amtsantritt unter Nutzung der offenen Stellen ermöglichen, für die die vorhergehende Volksvertretung bereits rechtmäßig drei Richter ernannt hatte. Diese Bestimmungen laufen daher den Urteilen des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015 und der Stellungnahme der Venedig-Kommission zuwider.

17.

Zusammenfassend vertritt die Kommission die Auffassung, dass die polnischen Behörden die Urteile des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015 beachten und vollständig umsetzen sollten. Diesen Urteilen zufolge müssen die Staatsorgane loyal zusammenarbeiten, um dafür zu sorgen, dass die drei Richter, die von der Volksvertretung in der vorherigen Legislaturperiode benannt wurden, gemäß dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit ihr Amt als Richter des Verfassungsgerichts antreten können; sie müssen ferner dafür sorgen, dass die drei Richter, die von der aktuellen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage benannt wurden, ihr Amt nicht ohne rechtskräftige Wahl aufnehmen. Die einschlägigen Bestimmungen des am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetzes über das Verfassungsgericht laufen den Urteilen des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015 sowie der Stellungnahme der Venedig-Kommission zuwider und geben Anlass zu erheblichen Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit.

3.   FEHLENDE VERÖFFENTLICHUNG UND MANGELNDE UMSETZUNG DES URTEILS DES VERFASSUNGSGERICHTS VOM 9. MÄRZ 2016 SOWIE SEINER URTEILE SEIT DEM 9. MÄRZ 2016

18.

Am 22. Dezember 2015 änderte der Sejm in einem beschleunigten Verfahren das Gesetz über das Verfassungsgericht (24). Diese Änderungen werden im Abschnitt 4.1 näher ausgeführt. In seinem Urteil vom 9. März 2016 erklärte das Verfassungsgericht das Gesetz vom 22. Dezember 2015 sowohl in seiner Gesamtheit als auch in Bezug auf einzelne Bestimmungen für verfassungswidrig. Die polnischen Behörden haben das Urteil bisher nicht im Amtsblatt veröffentlicht. Die polnische Regierung stellt die Rechtmäßigkeit des Urteils infrage, da das Verfassungsgericht nicht das im Gesetz vom 22. Dezember 2015 vorgesehene Verfahren angewandt habe. Diesen Standpunkt vertritt die Regierung auch hinsichtlich der nach dem 9. März 2016 erlassenen Urteile des Gerichts.

19.

Die Kommission ist der Auffassung, dass das Urteil vom 9. März 2016 verbindlich ist und beachtet werden muss. Nach ihrem Dafürhalten hat das Verfassungsgericht das im Gesetz vom 22. Dezember 2015 vorgesehene Verfahren zu Recht nicht angewandt. In dieser Hinsicht stimmt die Kommission der Venedig-Kommission zu, die zu dieser Frage erklärte, dass ein einfacher Rechtsakt, der die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit außer Kraft zu setzen droht, selbst erst hinsichtlich seiner Verfassungsmäßigkeit geprüft werden muss, bevor er vom Verfassungsgericht angewandt werden kann. Die Grundidee des Vorrangs der Verfassung impliziert, dass ein solches Gesetz, das mutmaßlich die Verfassungsgerichtsbarkeit gefährdet, vom Verfassungsgericht geprüft — und falls erforderlich für ungültig erklärt — wird, bevor es in Kraft tritt. (25) Zudem hebt die Kommission hervor, dass aufgrund der Tatsache, dass nach dem Gesetz vom 22. Dezember 2015 für im Kollegium gefällte Urteile die Anwesenheit von 13 Richtern erforderlich wäre und das Verfassungsgericht nur aus 12 Richtern bestand, es darüber hinaus nicht in der Lage gewesen wäre, die Verfassungsmäßigkeit der Änderungen vom 22. Dezember 2015, wie vom Ersten Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, vom Bürgerbeauftragten und vom Landesjustizrat beantragt, zu prüfen. Dies hätte der polnischen Verfassung widersprochen, der zufolge das Verfassungsgericht die Aufgabe hat, die verfassungsrechtliche Normenkontrolle zu gewährleisten. Ebenso hätte das Verfassungsgericht nicht über die Verfassungsmäßigkeit des Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit entscheiden können, wenn es im Einklang mit ebendiesem Erfordernis, dessen Verfassungsmäßigkeit es zu prüfen galt, abgestimmt hätte.

20.

Die Weigerung der Regierung, das Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 zu veröffentlichen, gibt Anlass zu ernsten rechtsstaatlichen Bedenken, da die Umsetzung rechtskräftiger Urteile eine grundlegende Bedingung der Rechtsstaatlichkeit ist. Insbesondere wenn die Veröffentlichung eines Urteils eine Voraussetzung für dessen Wirksamwerden ist und eine solche Veröffentlichung einer anderen staatlichen Behörde obliegt als dem Gericht, welches das Urteil erlassen hat, ist eine nachträgliche Prüfung der Rechtmäßigkeit des Urteils durch ebendiese staatliche Behörde nicht mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit vereinbar. Durch die Verweigerung der Veröffentlichung des Urteils wird einem verbindlichen und rechtskräftigen Urteil die normale rechtliche und praktische Wirkung aberkannt und gegen die Grundsätze der Rechtmäßigkeit und der Gewaltenteilung verstoßen.

21.

Die Unsicherheit und Uneinigkeit aufgrund der Weigerung, das Urteil vom 9. März zu veröffentlichen, werden sich nicht nur auf dieses Urteil, sondern auf alle darauf folgenden sowie alle künftigen Urteile des Verfassungsgerichts negativ auswirken. Da diese Urteile nach dem Urteil vom 9. März 2016 gemäß den Vorschriften erlassen werden, die vor dem 22. Dezember 2015 galten, wird die Gefahr einer fortlaufenden Auseinandersetzung über jedes künftige Urteil das ordnungsgemäße Funktionieren der Verfassungsjustiz in Polen beeinträchtigen. Diese Gefahr ist bereits zutage getreten, da das Gericht seit seinem Urteil vom 9. März 2016 bislang 20 Urteile erlassen hat, von denen keines im Amtsblatt veröffentlicht wurde.

22.

Die Kommission führt an, dass mit dem am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetz über das Verfassungsgericht die vorstehenden Bedenken nicht ausgeräumt werden. In Artikel 80 Absatz 4 dieses Gesetzes ist vorgesehen, dass der Präsident des Verfassungsgerichts die Veröffentlichung von Urteilen beim Ministerpräsidenten beantragt. Dies legt nahe, dass der Ministerpräsident über die Veröffentlichung von Urteilen entscheidet, was zu erheblichen Bedenken hinsichtlich der Unabhängigkeit des Gerichts Anlass gibt.

23.

Darüber hinaus sieht Artikel 89 vor, dass innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen nach dem Inkrafttreten des Gesetzes die vom Gericht erlassenen und vor dem 20. Juli 2016 nicht gemäß dem Verfahren des Gesetzes über das Verfassungsgericht vom 25. Juni 2015 vorgelegten veröffentlicht werden, sofern die Urteile keine aufgehobenen Rechtsakte betreffen. Diese Bestimmung gibt Anlass zu Bedenken, da die Veröffentlichung von Urteilen nicht von einer Entscheidung des Gesetzgebers abhängen darf. Darüber hinaus ist der Hinweis, dass diese Urteile nicht rechtmäßig erlassen wurden, nicht mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vereinbar, da Entscheidungen über die Verfassungsmäßigkeit nicht zu den Zuständigkeiten des Sejm gehören dürfen. Außerdem steht die Bestimmung weder mit dem Urteil vom 9. März 2016 noch mit der Stellungnahme der Venedig-Kommission in Einklang.

24.

Zusammenfassend ist zu schließen, dass die Tatsache, dass sich die polnische Regierung bisher weigert, das Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 sowie sämtliche darauf folgenden Urteile im Amtsblatt zu veröffentlichen, zu Unsicherheit hinsichtlich der Rechtsgrundlage, auf der das Gericht handeln muss, und hinsichtlich der rechtlichen Wirkung seiner Urteile führt. Diese Unsicherheit beeinträchtigt die Wirksamkeit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und gibt Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit. Mit dem Gesetz vom 22. Juli 2016 werden diese Bedenken nicht ausgeräumt.

4.   ÜBERPRÜFUNG DES VERFASSUNGSGERICHTSGESETZES UND WIRKSAMKEIT DER PRÜFUNG DER VERFASSUNGSMÄSSIGKEIT NEUER RECHTSVORSCHRIFTEN

25.

Die Kommission nimmt zur Kenntnis, dass der Sejm am 22. Juli 2016 ein neues Gesetz über die Arbeitsweise des Verfassungsgerichts verabschiedet hat, mit dem das Verfassungsgerichtsgesetz vom 25. Juni 2015 aufgehoben wurde. Das neue Gesetz schließt an das Gesetz vom 22. Dezember 2015 an, das vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde. Es muss daher geprüft werden, ob das Gesetz in Anbetracht seiner Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit auch neu erlassener Gesetze mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar ist und daher eine geeignete Maßnahme darstellt, um die in der Stellungnahme der Kommission vom 1. Juni festgestellten rechtsstaatlichen Bedenken auszuräumen. Die betreffenden Rechtsvorschriften und ihre Auswirkungen werden im Folgenden eingehender geprüft. Dabei werden die Wirkung, die die Bestimmungen einzeln und im Verhältnis zueinander entfalten, sowie die bisherige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts und die Stellungnahme der Venedig-Kommission berücksichtigt.

4.1.   Änderung vom 22. Dezember 2015 zum Verfassungsgerichtsgesetz

26.

Am 22. Dezember 2015 änderte der Sejm in einem beschleunigten Verfahren das Verfassungsgerichtsgesetz (26). Durch die Änderungen wurde unter anderem die für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl der anwesenden Richter angehoben (27), die für den Erlass einer Entscheidung des Verfassungsgerichts im Plenum erforderliche Mehrheit erhöht (28), die Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge vorgeschrieben (29) und eine Mindestfrist für die Anberaumung von Verhandlungen festgelegt (30). Bestimmte Änderungen (31) haben eine stärkere Beteiligung anderer Staatsorgane an Disziplinarverfahren gegen Verfassungsrichter zur Folge.

27.

In seinem Urteil vom 9. März 2016 erklärte das Verfassungsgericht das Gesetz vom 22. Dezember 2015 sowohl in seiner Gesamtheit als auch in Bezug auf einzelne Bestimmungen (insbesondere die oben genannten) für verfassungswidrig. Die polnischen Behörden haben das Urteil bisher nicht im Amtsblatt veröffentlicht (siehe oben Abschnitt 3).

28.

Wie bereits in der Stellungnahme vom 1. Juni 2016 dargelegt, ist die Kommission der Auffassung, dass die Wirkung der Änderungen in Bezug auf die für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl der anwesenden Richter, die Stimmenmehrheit, die Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge und die Mindestfrist für die Anberaumung von Verhandlungen — und insbesondere ihre Gesamtwirkung — das Verfassungsgericht in seiner Funktion als Hüter der Verfassung schwächt. Die Venedig-Kommission teilt diese Auffassung. Da diese Feststellungen für die Prüfung des Gesetzes vom 22. Juli 2016 von Bedeutung sind, wird nachstehend an die wichtigsten Schlussfolgerungen erinnert.

4.1.1.   Für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl der anwesenden Richter

29.

Der geänderte Artikel 44 Absatz 3 schreibt für den Erlass einer Entscheidung im Plenum die Beteiligung von mindestens 13 Richtern des Gerichts vor. (32) Nach dem geänderten Artikel 44 Absatz 1 entscheidet das Verfassungsgericht im Plenum, sofern im Gesetz nichts anderes bestimmt ist. Dies gilt insbesondere für die sogenannte abstrakte Normenkontrolle in Bezug auf neu erlassene Gesetze. Im geänderten Artikel 44 Absatz 1 sind auch Ausnahmen vorgesehen, insbesondere für Verfassungsbeschwerden und Vorabentscheidungsersuchen ordentlicher Gerichte. Nach der früheren Fassung des Gesetzes mussten für eine Entscheidung im Plenum mindestens neun Richter anwesend sein (Artikel 44 Absatz 3 Nummer 3 des Gesetzes vor der Änderung).

30.

Nach Auffassung der Kommission wird der Entscheidungsprozess des Verfassungsgerichts durch das Erfordernis, dass 13 der 15 Richter anwesend sein müssen, wenn (im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle) das Plenum entscheidet, stark beeinträchtigt und unter Umständen vielleicht sogar blockiert. Die Kommission stellt fest — und dies wird von der Venedig-Kommission bestätigt —, dass die vorgeschriebene Anwesenheit von 13 der 15 Richter im Vergleich zu den Anforderungen in anderen Mitgliedstaaten ungewöhnlich hoch ist. Denn es ist durchaus vorstellbar, dass ein solches Quorum aus verschiedenen Gründen gelegentlich nicht erreicht wird, sodass das Gericht zumindest vorübergehend nicht beschlussfähig wäre. Dies wäre unter den gegenwärtigen Umständen der Fall, da das Gericht derzeit nur 12 Richter hat.

4.1.2.   Stimmenmehrheit

31.

Nach dem geänderten Artikel 99 Absatz 1 müssen Urteile des im Plenum entscheidenden Verfassungsgerichts (im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle) mit einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Richter gefällt werden. In Verbindung mit dem neuen (höheren) Quorum (siehe oben) bedeutet dies, dass mindestens neun Richter zustimmen müssen, wenn das Verfassungsgericht im Plenum entscheidet. (33) Nur wenn das Gericht (im Falle von Verfassungsbeschwerden und Vorabentscheidungsersuchen ordentlicher Gerichte) in Form eines aus sieben oder drei Richtern bestehenden Gremiums entscheidet, reicht eine einfache Mehrheit der Stimmen. Nach der früheren Fassung des Gesetzes war für eine Entscheidung im Plenum eine einfache Mehrheit der Stimmen ausreichend (Artikel 99 Absatz 1 des Gesetzes vor der Änderung).

32.

Zusätzlich zu dem höheren Quorum stellt die für Entscheidungen (im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle) erforderliche Zweidrittelmehrheit eine erhebliche weitere Beeinträchtigung des Entscheidungsprozesses des Verfassungsgerichts dar. Die Kommission stellt fest — und dies wird von der Venedig-Kommission bestätigt —, dass der weitaus größte Teil der europäischen Rechtsordnungen nur eine einfache Mehrheit verlangt. Auf jeden Fall hat das Verfassungsgericht festgestellt, dass die polnische Verfassung die Entscheidung mit einfacher Mehrheit vorschreibt und dass das Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit daher verfassungswidrig ist.

4.1.3.   Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge

33.

Nach dem geänderten Artikel 80 Absatz 2 (34) werden bei der Prüfung von Anträgen auf abstrakte Normenkontrolle die Termine für Verhandlungen oder Sitzungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit in der Reihenfolge festgelegt, in der die Fälle dem Gericht vorgelegt werden. Diese Vorschrift, zu der keine Ausnahmen vorgesehen sind, gilt aufgrund der Änderung für alle anhängigen Rechtssachen, in denen noch kein Verhandlungstermin anberaumt ist. (35) Die frühere Fassung des Gesetzes enthielt keine solche Vorschrift.

34.

Die Vorschrift, nach der das Verfassungsgericht die Rechtssachen in der Reihenfolge behandeln muss, in der sie registriert worden sind, wirkt sich negativ auf seine Fähigkeit aus, schnell Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit neuer Gesetze zu erlassen, vor allem wenn man die Zahl anhängiger Rechtssachen berücksichtigt. Die fehlende Möglichkeit, die Art einer Rechtssache (vor allem wenn es um Grundrechtsfragen geht) sowie ihre Bedeutung und ihren Kontext zu berücksichtigen, könnte das Verfassungsgericht daran hindern, den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 47 der EU-Grundrechtecharta gerecht zu werden. Wie auch die Venedig-Kommission festgestellt hat, könnte die Vorschrift über die Reihenfolge der Bearbeitung von Rechtssachen Gerichte davon abhalten, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, insbesondere wenn nach Eingang der Vorabentscheidung eine Verhandlung stattfinden muss.

4.1.4.   Mindestfrist für die Anberaumung von Verhandlungen

35.

Nach dem geänderten Artikel 87 Absatz 2 (36) darf die Verhandlung nicht früher als drei — bzw. im Falle einer Entscheidung im Plenum sechs — Monate nach dem Tag stattfinden, an dem den Verfahrensbeteiligten die Mitteilung des Verhandlungstermins zugestellt wurde. In der früheren Fassung des Gesetzes war vorgesehen, dass die Verhandlung frühestens 14 Tage nach Zustellung der Mitteilung des Verhandlungstermins an die Verfahrensbeteiligten stattfinden kann.

36.

Letztlich ist dieses Problem in Kombination mit der Anforderung an die Terminierung von Rechtssachen zu sehen. Dabei besteht insbesondere aufgrund der Mindestfrist für die Anberaumung von Verhandlungen (Verfahrensbeteiligte müssen mindestens drei — und bei wichtigen Fällen sechs — Monate vor dem Tag der betreffenden Verhandlung vor dem Verfassungsgericht von dem Verhandlungstermin in Kenntnis gesetzt werden) das Risiko, dass Verfahren verlangsamt werden. Wie vorstehend dargelegt, ist das Fehlen einer allgemeinen Bestimmung, die dem Verfassungsgericht in dringenden Fällen eine Verkürzung dieser Fristen ermöglichen würde, nicht mit den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer nach Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 47 der EU-Grundrechtecharta vereinbar.

4.1.5.   Disziplinarverfahren

37.

Nach dem geänderten Artikel 28a (37) kann ein Disziplinarverfahren auch auf Antrag des Präsidenten der Republik Polen oder des Justizministers spätestens drei Wochen nach Eingang des Antrags eingeleitet werden, es sei denn, der Präsident des Gerichts entscheidet, dass der Antrag unbegründet ist. Ferner darf nach dem geänderten Artikel 31a Absatz 1 des Gesetzes (38) in besonders schweren Fällen die Generalversammlung den Sejm ersuchen, den Verfassungsrichter abzusetzen. Eine solche Maßnahme der Generalversammlung könnte nach Artikel 31a Absatz 2 auf Antrag des Präsidenten der Republik oder des Justizministers eingeleitet werden, über den jedoch das Verfassungsgericht entscheidet. Die abschließende Entscheidung trifft der Sejm. Nach der früheren Fassung des Gesetzes war die Exekutive nicht berechtigt, Disziplinarverfahren einzuleiten, und der Sejm nicht befugt, einen Verfassungsrichter abzusetzen. Diese Befugnis besaß nur das Verfassungsgericht.

38.

Die Kommission stellt mit Sorge fest, dass bestimmte Änderungen eine stärkere Beteiligung anderer Staatsorgane an Disziplinarverfahren gegen Verfassungsrichter zur Folge haben. So wurde insbesondere dem Präsidenten der Republik oder dem Justizminister die Befugnis erteilt, Disziplinarverfahren gegen Verfassungsrichter einzuleiten (39), und in besonders schweren Fällen obliegt es dem Sejm, nach einem entsprechenden Antrag des Verfassungsgerichts die endgültige Entscheidung über die Entlassung eines Richters zu treffen (40).

39.

Nach Auffassung der Kommission kann die Tatsache, dass ein politisches Gremium über eine vom Verfassungsgericht vorgeschlagene Disziplinarmaßnahme entscheidet (und sich somit auch weigern kann, eine solche zu ergreifen), mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz ein Problem darstellen, da das Parlament (als politisches Gremium) seine Entscheidungen auf der Grundlage politischer Erwägungen treffen dürfte. Ebenso ist nicht klar, warum politische Institutionen wie der Präsident der Republik und der Justizminister die Befugnis haben sollten, Disziplinarverfahren einzuleiten. Selbst wenn derartige Verfahren der Zustimmung des Verfassungsgerichts oder seines Präsidenten bedürfen, kann sich allein die Tatsache, dass diese Verfahren von politischen Institutionen eingeleitet werden können, bereits auf die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts auswirken. Dies gibt Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts, da der Vorschlag des Gerichts, einen Richter zu entlassen, vom Sejm abgelehnt werden könnte.

4.2.   Verfassungsgerichtsgesetz vom 22. Juli 2016

40.

Neben den Vorschriften zur Ernennung von Richtern und zur Veröffentlichung der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts (siehe Abschnitte 2 und 3) enthält das am 22. Juli 2016 verabschiedete Gesetz weitere Bestimmungen zur Arbeitsweise des Gerichts. Das Gesetz ist an das Verfassungsgerichtsgesetz vom 1. August 1997 angelehnt, enthält aber zusätzliche Bestimmungen u. a. zur für die Beschlussfähigkeit erforderlichen Zahl der anwesenden Richter, zu den erforderlichen Mehrheiten bei Erlass einer Entscheidung durch das Plenum, zur Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge, zur Terminierung der Verhandlungen, zur Rolle des Generalstaatsanwalts, zur Aussetzung von Beratungen, zu den Übergangsregelungen für anhängige Fälle und zur Legisvakanz.

41.

Die Kommission stellt zwar Verbesserungen gegenüber dem Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2015 fest und räumt ein, dass bestimmten ihrer Bedenken wie nachstehend dargelegt Rechnung getragen wurde, muss aber dennoch konstatieren, dass eine Reihe der bereits gegenüber dem Gesetz vom 22. Dezember 2015 erhobenen Bedenken fortbestehen und einige neue Vorschriften eingeführt wurden, die ebenfalls Anlass zur Sorge geben. Insgesamt gesehen lassen bestimmte Vorschriften des am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetzes für sich oder zusammengenommen Zweifel an der Wirksamkeit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit und der Rechtsstaatlichkeit aufkommen.

4.2.1.   Für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl der anwesenden Richter

42.

In Artikel 26 Absatz 2 heißt es: „Für die Bearbeitung einer Rechtssache durch das Richterplenum ist die Beteiligung von mindestens elf Richtern des Gerichts erforderlich.“ Zudem wird in Artikel 26 Absatz 1 unter Buchstabe g bestimmt: „Das Gericht befindet (…) im Plenum über (…) Rechtssachen, in denen drei Richter des Gerichts dies binnen 14 Tagen ab Eingang einer Verfassungsbeschwerde oder einer Klage oder einer Rechtsfrage im Sinne von Artikel 38 Absatz 1 beantragen.“

43.

Mit Artikel 26 Absatz 2 wird die Zahl der für das Plenum erforderlichen Richter von neun (erforderliche Zahl nach dem Verfassungsgerichtsgesetz von 1997 und dem Gesetz vom 25. Juni 2015 vor seiner Änderung am 22. Dezember 2015) auf elf angehoben. Das beeinträchtigt den Entscheidungsprozess des Verfassungsgerichts. Das Beschlussfähigkeitsquorum wurde im Vergleich zum Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2015 zwar (von dreizehn auf elf) reduziert, aber insbesondere angesichts der Tatsache, dass dem Verfassungsgericht momentan nur zwölf Richter für die Bearbeitung von Rechtssachen zur Verfügung stehen, kann es sein, dass die für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl gelegentlich nicht erreicht wird und das Gericht zumindest vorübergehend beschlussunfähig wäre.

44.

Darüber hinaus muss das Gericht gemäß Artikel 26 Absatz 1 Buchstabe g als Plenum urteilen, wenn drei Richter dies beantragen. Dabei muss es sich nicht um die Richter handeln, denen der betreffende Fall zugewiesen wurde. Laut Gesetz muss der Antrag auf Behandlung im Plenum weder begründet werden noch bestimmte Bedingungen erfüllen. Eine solche Vorschrift ermöglicht es, das Plenum mit einer unvorhersehbaren Zahl von Rechtssachen zu befassen, was die Funktionsfähigkeit des Gerichts und folglich die Wirksamkeit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit beeinträchtigen könnte.

4.2.2.   Stimmenmehrheit

45.

Artikel 69 bestimmt: „Das Gericht entscheidet mit einfacher Mehrheit der Stimmen.“ Dies stellt eine Verbesserung gegenüber dem Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2015 dar, da nicht länger eine verfassungswidrige Zweidrittelmehrheit für den Erlass von Urteilen vorgeschrieben wird. Damit konnten die diesbezüglichen von der Kommission zuvor geltend gemachten Bedenken ausgeräumt werden.

4.2.3.   Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge

46.

In Artikel 38 Absatz 3 heißt es: „Die Verhandlungstermine richten sich nach der Reihenfolge der Eingänge der Klagen bei Gericht.“ In Artikel 38 Absatz 4 werden eine begrenzte Anzahl von Fällen aufgeführt, bei denen die Reihenfolge des Klageeingangs nicht maßgeblich ist. Nach Artikel 38 Absatz 5 kann der „Präsident des Gerichts (…) den Verhandlungstermin ungeachtet der Bestimmungen des Absatzes 3 ansetzen, wenn dies zum Schutz der Rechte und Freiheiten der Bürger, der Staatssicherheit oder der verfassungsmäßigen Ordnung gerechtfertigt ist. Auf Antrag von fünf Richtern kann der Präsident des Gerichts seinen Beschluss zur Ansetzung des Verhandlungstermins überprüfen.“

47.

Die Vorschrift zur Bearbeitung der Rechtssache in der Reihenfolge ihres Eingangs wurde mit dem Änderungsgesetz vom 22. Dezember 2015 eingeführt und war vom Verfassungsgericht u. a. bereits deshalb als verfassungswidrig eingestuft worden, weil sie in die Unabhängigkeit der Justiz eingreift und gegen das Prinzip der Gewaltenteilung verstößt.

48.

Nach Artikel 38 Absatz 3 gilt die chronologische Reihenfolge für „Klagen“; „Verfassungsbeschwerden“ werden nicht erwähnt. Selbst im Falle einer Beschränkung der Reihenfolge-Vorschrift auf Klagen würde die Fähigkeit des Gerichts zur raschen Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen infolge einer Organklage in Mitleidenschaft gezogen.

49.

Nach Artikel 38 Absatz 5 kann der Präsident des Verfassungsgerichts von der Reihenfolge-Vorschrift abweichen. Diese Möglichkeit ist aber auf bestimmte Einzelfälle beschränkt und kann Verzögerungen nach sich ziehen, da fünf Richter eine Überprüfung der Terminansetzung des Gerichtspräsidenten beantragen können. Ferner ist nicht ersichtlich, ob diese Bedingungen es dem Präsidenten des Verfassungsgerichts ermöglichen würden, in allen dringlichen Fällen von der Reihenfolge-Vorschrift abzuweichen.

50.

Selbst wenn das Gesetz vom 22. Juli 2016 gegenüber dem Gesetz vom 22. Dezember 2015 eine Verbesserung darstellt, geben die Auswirkungen der Vorschrift zur Bearbeitung der Rechtssachen in der Reihenfolge ihres Eingangs weiterhin Anlass zu Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit.

4.2.4.   Terminierung der Verhandlungen

51.

Nach Artikel 61 Absatz 1 findet „eine Verhandlung (…) frühestens 30 Tage nach dem Termin statt, an dem die Verfahrensbeteiligten von dem Verhandlungstermin in Kenntnis gesetzt wurden“. In Artikel 61 Absatz 3 wird bestimmt: „In Rechtssachen, die Rechtsfragen, Verfassungsbeschwerden oder Kompetenzstreitigkeiten zwischen wichtigen Verfassungsorganen des Staats betreffen, kann der Präsident des Gerichts eine Halbierung der Frist nach Absatz 1 anordnen, sofern nicht der Beschwerdeführer, das die Rechtsfrage vorlegende Gericht oder der Kläger binnen sieben Tagen nach Erhalt der betreffenden Anordnung des Gerichtspräsidenten Widerspruch einlegt.“ Die Befugnis des Präsidenten des Verfassungsgerichts zur Halbierung der 30-Tage-Frist stellt eine Verbesserung gegenüber dem Gesetz vom 22. Dezember 2015 dar, auch wenn der Beschwerdeführer, das die Rechtsfrage vorlegende Gericht oder der Kläger gegen die Verkürzung Widerspruch einlegen können.

4.2.5.   Disziplinarverfahren

52.

Im Gesetz vom 22. Juli 2016 ist die Beteiligung anderer Staatsorgane an Disziplinarverfahren gegen Verfassungsrichter nicht vorgesehen. Das stellt eine Verbesserung gegenüber dem Gesetz vom 22. Dezember 2015 dar, sodass in dieser Frage keine Bedenken mehr bestehen.

4.2.6.   Möglichkeit des Generalstaatsanwalts, die Verhandlung von Rechtssachen zu verhindern

53.

In Artikel 61 Absatz 6 heißt es: „Die Abwesenheit des ordnungsgemäß vom Verhandlungstermin in Kenntnis gesetzten Generalstaatsanwalts oder seines Vertreters steht der Durchführung der Verhandlung nicht entgegen, soweit die Pflicht zur Teilnahme an der Verhandlung nicht in diesem Gesetz verbindlich vorgeschrieben ist.“ Gemäß Artikel 30 Absatz 5 „wirkt der Generalstaatsanwalt oder sein Vertreter in den Rechtssachen mit, die vom Plenum des Verfassungsgerichts bearbeitet werden“.

54.

Artikel 61 Absatz 6 würde in Verbindung mit Artikel 30 Absatz 5 dem Generalstaatsanwalt, der auch Justizminister ist, augenscheinlich die Möglichkeit eröffnen, die Verhandlung bestimmter Rechtssachen einschließlich solcher, die im Plenum verhandelt werden müssen, durch vorsätzliches Nichterscheinen zu verzögern oder sogar zu verhindern. Dies käme einem unzulässigen Eingriff in die Funktionsfähigkeit des Gerichts gleich und würde gegen den Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit und der Gewaltenteilung verstoßen.

4.2.7.   Aussetzung von Beratungen

55.

Nach Artikel 68 Absatz 5 „können mindestens vier Richter bei Beratungen im Plenum gegen das vorgeschlagene Urteil Einspruch einlegen, wenn sie der Auffassung sind, dass die Angelegenheit aus Gründen der staatlichen Organisation oder der öffentlichen Ordnung von besonderer Bedeutung ist und sie dem Urteilstenor nicht zustimmen“. Nach Artikel 68 Absatz 6 werden „die Beratungen (…) im Falle eines Einspruchs nach Absatz 5 für drei Monate ausgesetzt, und die Richter, die den Einspruch erhoben haben, legen bei der anschließenden Wiederaufnahme der Beratungen einen gemeinsamen Urteilsentwurf vor“. Gemäß Artikel 68 Absatz 7 „werden die neuen Beratungen nach Absatz 6 für weitere drei Monate ausgesetzt, wenn wieder mindestens vier Richter Einwände erheben. Am Ende dieses Zeitraums werden die Beratungen wiederaufgenommen, und das Plenum stimmt ab.“

56.

In den potenziell sehr zahlreichen Fällen, in denen das Plenum entscheiden muss (siehe oben), lässt das am 22. Juli 2016 verabschiedete Gesetz zu, dass mindestens vier Richter des Gerichts Einspruch gegen einen Urteilsentwurf erheben können. Damit könnten die Beratungen nach ihrem Beginn für mindestens drei und in manchen Fällen gar für sechs Monate ausgesetzt werden. Eine Ausnahme zur beschleunigten Behandlung dringlicher Rechtssachen ist im Gesetz nicht vorgesehen.

57.

Die Folgen dieser Bestimmungen für die Wirksamkeit der verfassungsgerichtlichen Prüfung gibt Anlass zu rechtsstaatlichen Bedenken, da sie das Verfassungsgericht an der uneingeschränkten Ausübung seiner Prüfungskompetenz hindert, und zu Bedenken in Bezug auf einen wirksamen und zeitnahen Rechtsbehelf in allen Fällen.

4.2.8.   Übergangsregelungen für anhängige Fälle

58.

Artikel 83 Absatz 1 hat folgenden Wortlaut: „Die Bestimmungen dieses Gesetzes sind auf Verfahren anzuwenden, die vor seinem Inkrafttreten eröffnet, aber noch nicht abgeschlossen waren.“ Nach Artikel 83 Absatz 2 muss „das Gericht (…) die in Absatz 1 genannten Rechtssachen binnen eines Jahres nach Inkrafttreten dieses Gesetzes abschließen. Diese Frist von einem Jahr gilt nicht für die in Artikel 84 genannten Rechtssachen.“ In Artikel 84 Absatz 1 wird bestimmt: „Im Falle von Klagen, die von Einrichtungen nach Artikel 191 Absatz 1 Unterabsätze 1 bis 5 der Verfassung eingereicht wurden und vor Inkrafttreten dieses Gesetzes anhängig waren, setzt das Gericht das Verfahren für sechs Monate aus und fordert die Kläger auf, ihre Klage nach den Vorgaben von Artikel 33 Absätze 2 bis 5 zu ergänzen.“ In Artikel 84 Absatz 2 heißt es: „Wird eine Klage im Sinne von Absatz 1 entsprechend den Anforderungen von Artikel 33 Absätze 2 bis 5 ergänzt, ordnet das Gericht bei Ablauf der Frist nach Absatz 1 die Wiederaufnahme des ausgesetzten Verfahrens an. Andernfalls ist das Verfahren einzustellen.“

59.

In Artikel 85 Absatz 1 heißt es: „Wurde ein Verhandlungstermin vor Inkrafttreten dieses Gesetzes angesetzt, ist die Verhandlung zu verschieben und die Gerichtsbesetzung an die Vorschriften dieses Gesetzes anzupassen.“ Artikel 85 Absatz 2 sieht vor: „Für die Anhörung ist ein neuer Termin anzusetzen. Die Anhörung wird entsprechend den Bestimmungen dieses Gesetzes durchgeführt.“ In Artikel 86 wird bestimmt: „Wurde der Termin der Veröffentlichung eines Urteils vor Inkrafttreten dieses Gesetzes festgesetzt, ist die Veröffentlichung zu verschieben und sind das Panel und das Urteil an die Vorschriften dieses Gesetzes anzupassen.“

60.

Einerseits wird in Artikel 83 Absatz 2 eine Einjahresfrist ab Inkrafttreten des Gesetzes für den Abschluss anhängiger Fälle vorgegeben. Andererseits wird in Artikel 84 abweichend von Artikel 83 Absatz 2 bestimmt, dass anhängige Klagen (z. B. Organklagen auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Rechtsvorschriften) für einen Sechsmonatszeitraum eingefroren werden. Das Gericht müsste von den Klägern Klageergänzungen verlangen, die den neuen Verfahrensvorschriften Rechnung tragen, und könnte die Klagen erst nach Ablauf dieser Sechsmonatsfrist wieder aufgreifen (selbst wenn die Kläger die Klageergänzungen früher einreichen würden). Eine Ausnahme zur beschleunigten Behandlung dringlicher Rechtssachen ist im Gesetz nicht vorgesehen.

61.

Mit Artikel 85 und 86 greift der Gesetzgeber in laufende Gerichtsverfahren — insbesondere auch solche in einem fortgeschrittenen Stadium — ein und könnte damit die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigen.

62.

Zusammengenommen werfen diese Übergangsbestimmungen erhebliche Bedenken auf, da sie die Klagebearbeitung durch das Gericht beträchtlich verzögern werden und das Gericht an einer vollumfänglichen wirksamen Normenkontrolle hindern. Das ist gerade im Zusammenhang mit all den heiklen neuen Rechtsakten, auf die die Kommission in ihrer Stellungnahme Bezug nimmt (siehe unten Abschnitt 4.3), von Bedeutung.

4.2.9.   Legisvakanz

63.

Artikel 92 des Gesetzes vom 22. Juli 2016 schreibt sein Inkrafttreten 14 Tage nach seiner Veröffentlichung vor. Sofern das Gesetz nicht vorab auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft wird, ist die dort vorgesehene Legisvakanz von 14 Tagen für eine wirksame Normenkontrolle unzureichend. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte dem Verfassungsgericht genügend Zeit gegeben werden, um das Gesetz vor seinem Inkrafttreten auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfen.

64.

Die Venedig-Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 11. März 2016 betont, dass das Verfassungsgericht die Möglichkeit haben muss, ein seine Arbeit regelndes ordentliches Gesetz vor Inkrafttreten zu prüfen.

4.3.   Folgen der mangelnden Wirksamkeit der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf neue Gesetze

65.

Eine Reihe besonders sensibler neuer Rechtsvorschriften sind vom Sejm — oftmals im beschleunigten Verfahren — angenommen worden; dazu zählen ein Mediengesetz (41), ein neues Gesetz über den öffentlichen Dienst (42), ein Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und anderer Gesetze (43) und Gesetze über die Staatsanwaltschaft (44) sowie ein neues Gesetz über den Bürgerbeauftragten, mit dem ebenfalls weitere Gesetze geändert wurden (45). Die Kommission hatte die polnische Regierung mit Schreiben vom 1. Februar und 3. März 2016 um Auskunft über den Stand dieser Reformgesetzgebung ersucht, bislang aber keine Antwort erhalten. Zudem wurden vom Sejm eine Reihe weiterer sensibler Gesetzesentwürfe verabschiedet, wie das Gesetz über den nationalen Medienrat (46) und ein neues Gesetz zur Terrorismusbekämpfung (47).

66.

Solange das Verfassungsgericht an einer wirksamen Normenkontrolle gehindert ist, kann eine wirksame verfassungsgerichtliche Prüfung, ob Rechtsakte wie die oben genannten mit der Verfassung und insbesondere den Grundrechten vereinbar sind, nach Auffassung der Kommission nicht stattfinden.

67.

Die Kommission stellt unter anderem fest, dass manche neue Rechtsvorschriften (wie die Mediengesetze (48)) Fragen im Hinblick auf die Freiheit und Vielfalt der Medien aufwerfen. Konkret werden mit den neuen Mediengesetzen die Vorschriften für die Besetzung der Verwaltungs- und Aufsichtsräte der bisher unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten geändert, die nun der Regierung (dem Finanzminister) unterstellt sind. Das neue Gesetz sieht auch die sofortige Absetzung der bestehenden Verwaltungs- und Aufsichtsräte vor. Die Kommission hegt insbesondere Zweifel in Bezug auf die Rechtsbehelfs-Möglichkeiten der von dem Gesetz Betroffenen.

68.

Auch Vorschriften wie das neue Gesetz über den öffentlichen Dienst (49) haben unter dem Blickwinkel der Rechtsstaatlichkeit und der Grundrechte eine besondere Bedeutung. Die Kommission hat die polnische Regierung in ihren Schreiben vom 1. Februar und 3. März 2016 (50) nach möglichen Rechtsbehelfen für die von dem Gesetz Betroffenen gefragt. Bislang hat sie von der polnischen Regierung zu diesem Punkt noch keine Antwort erhalten.

69.

Auch das Gesetz zur Änderung des Polizeigesetzes und anderer Gesetze (51) kann Fragen hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit den Grundrechten (Schutz der Privatsphäre, Datenschutz) aufwerfen. Am 28./29. April 2016 besuchte eine Delegation der Venedig-Kommission Warschau, um die Änderungen des Polizeigesetzes und bestimmter anderer Gesetze zu erörtern; in ihrer Sitzung vom 10./11. Juni 2016 gab sie eine Stellungnahme (52) ab. Dort hält die Venedig-Kommission u. a. fest, dass die Verfahrensgarantien und materiellrechtlichen Bedingungen im Gesetz weiterhin nicht ausreichen, um seiner unverhältnismäßigen Anwendung und ungerechtfertigten Eingriffen in die Privatsphäre Einzelner vorzubeugen.

70.

Bei den neuen Vorschriften zur Terrorbekämpfung, die gerade verfassungsrechtlich überprüft werden, ergeben sich ebenfalls Fragen im Hinblick auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten (53).

71.

Solange das Verfassungsgericht an einer wirksamen verfassungsrechtlichen Normenkontrolle gehindert ist, kann folglich eine wirksame Prüfung, ob Rechtsakte mit den Grundrechten vereinbar sind, nach Auffassung der Kommission nicht stattfinden. Deshalb bestehen erhebliche Zweifel, ob die Rechtsstaatlichkeit gewahrt ist, vor allem da eine Reihe besonders sensibler neuer Rechtsvorschriften vor Kurzem vom Sejm verabschiedet wurden, für die die Möglichkeit einer verfassungsgerichtlichen Prüfung bestehen sollte. Diese Zweifel werden weiter durch den oben dargelegten Umstand verschärft, dass das am 22. Juli 2016 verabschiedete Gesetz die Aussetzung einer Reihe anhängiger Verfahren vorsieht.

5.   SYSTEMISCHE GEFÄHRDUNG DER RECHTSSTAATLICHKEIT

72.

Aus den oben dargelegten Gründen ist die Kommission zu der Auffassung gelangt, dass die Rechtsstaatlichkeit in Polen in der derzeitigen Lage systemimmanent gefährdet ist. Dass das Verfassungsgericht an einer vollumfänglichen, wirksamen Normenkontrolle gehindert ist, beeinträchtigt seine Integrität und Stabilität und sein ordnungsgemäßes Funktionieren und damit eine der wichtigsten Garantien der Rechtsstaatlichkeit in Polen. In Ländern mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit trägt diese entscheidend zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit bei.

73.

Die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit ist nicht nur Voraussetzung für den Schutz sämtlicher in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union aufgelisteter Grundwerte, sie ist auch eine Voraussetzung für die Wahrnehmung aller Rechte und Pflichten, die sich aus den Verträgen und dem Völkerrecht ergeben, und für das Vertrauen der Bürger, Unternehmen und staatlichen Instanzen in die Rechtsordnung der jeweils anderen Mitgliedstaaten.

6.   EMPFEHLUNGEN

74.

Die Kommission empfiehlt den polnischen Behörden, dringend geeignete Maßnahmen zu treffen, um dieser Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit zu begegnen. Insbesondere empfiehlt sie den polnischen Behörden,

a)

die Urteile des Verfassungsgerichts vom 3. und 9. Dezember 2015 vollständig umzusetzen, denen zufolge die drei Richter, die im Oktober 2015 von der vorherigen Volksvertretung rechtmäßig ernannt wurden, ihr Amt als Richter am Verfassungsgericht antreten können und die drei Richter, die von der neuen Volksvertretung ohne gültige Rechtsgrundlage ernannt wurden, ihr Amt nicht ohne rechtskräftige Wahl antreten dürfen;

b)

das Urteil des Verfassungsgerichts vom 9. März 2016 mitsamt den Folgeurteilen zu veröffentlichen und vollständig umzusetzen und dafür zu sorgen, dass künftige Urteile systematisch veröffentlicht werden und weder die Exekutive noch die Legislative über ihre Veröffentlichung entscheiden kann;

c)

sicherzustellen, dass jede Reform des Verfassungsgerichtsgesetzes im Einklang steht mit den Urteilen des Verfassungsgerichts, darunter den Urteilen vom 3. und 9. Dezember 2015 sowie vom 9. März 2016, und der Stellungnahme der Venedig-Kommission umfassend Rechnung trägt und dass das Verfassungsgericht in seiner Funktion als Garant der Verfassung weder durch einzelne noch durch das Zusammenwirken mehrerer der oben beschriebenen Bestimmungen geschwächt wird (für die Beschlussfähigkeit erforderliche Zahl der anwesenden Richter, Bearbeitung der Rechtssachen in chronologischer Reihenfolge, Möglichkeit des Generalstaatsanwalts, die Verhandlung von Rechtssachen zu verhindern, Aussetzung von Beratungen, Übergangsregelungen für anhängige Fälle);

d)

sicherzustellen, dass das Verfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetzes über das Verfassungsgericht prüfen kann, bevor es in Kraft tritt, und dass das diesbezügliche Urteil des Verfassungsgerichts veröffentlicht und vollständig umgesetzt wird;

e)

Maßnahmen und öffentliche Erklärungen zu unterlassen, die die Legitimität und Handlungsfähigkeit des Verfassungsgerichts beeinträchtigen könnten.

75.

Die Kommission betont, dass die zwischen den Staatsorganen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit erforderliche loyale Zusammenarbeit von grundlegender Bedeutung ist, um in der gegenwärtigen Lage eine Lösung zu finden. Die Kommission hält die polnischen Behörden zudem an, die Stellungnahmen der Venedig-Kommission zu dem neuen, am 22. Juli 2016 verabschiedeten Gesetz über das Verfassungsgericht einzuholen.

76.

Die Kommission fordert die polnischen Behörden auf, die in dieser Empfehlung beanstandeten Probleme innerhalb von drei Monaten nach Erhalt der Empfehlung zu beheben und der Kommission die hierzu unternommenen Schritte mitzuteilen.

77.

Die Kommission ist gewillt, den konstruktiven Dialog mit der polnischen Regierung auf der Grundlage dieser Empfehlungen fortzusetzen.

Geschehen zu Brüssel am 27. Juli 2016

Für die Kommission

Frans TIMMERMANS

Vizepräsident


(1)  COM(2014) 158 final, im Folgenden die „Mitteilung“.

(2)  Vgl. COM(2014) 158 final, Anhang I Abschnitt 2.

(3)  Vgl. Abschnitt 4.1 der Mitteilung.

(4)  Ebenda.

(5)  Ebenda.

(6)  Gesetz vom 22. Dezember 2015 zur Änderung des Gesetzes vom 25. Juni 2015 über das Verfassungsgericht. Das Änderungsgesetz wurde am 28. Dezember unter der Nummer 2217 im Amtsblatt veröffentlicht.

(7)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Außenminister Waszczykowski und Justizminister Ziobro vom 23. Dezember 2015.

(8)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Außenminister Waszczykowski und Justizminister Ziobro vom 30. Dezember 2015.

(9)  Schreiben von Staatssekretär Stepkowski an den Ersten Vizepräsidenten Timmermans vom 7. Januar 2016.

(10)  Schreiben von Justizminister Ziobro an den Ersten Vizepräsidenten Timmermans vom 11. Januar 2016.

(11)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Justizminister Ziobro vom 13. Januar 2016.

(12)  Schreiben von EU-Kommissar Oettinger an Justizminister Ziobro vom 19. Januar 2016.

(13)  Schreiben von Justizminister Ziobro an den Ersten Vizepräsidenten Timmermans vom 19. Januar 2016.

(14)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Justizminister Ziobro vom 1. Februar 2016.

(15)  Schreiben von Außenminister Waszczykowski an den Ersten Vizepräsidenten Timmermans vom 29. Februar 2016.

(16)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Außenminister Waszczykowski vom 3. März 2016.

(17)  Stellungnahme Nr. 833/2015 — CDL-AD(2016)001.

(18)  Seit dem 9. März 2016 erließ das Verfassungsgericht 20 Urteile, die nicht veröffentlicht wurden.

(19)  Schreiben von Außenminister Waszczykowski an den Ersten Vizepräsidenten Timmermans vom 24. Juni 2016.

(20)  K 34/15.

(21)  K 35/15.

(22)  Stellungnahme, Absatz 112.

(23)  Stellungnahme, Absatz 136.

(24)  Gesetz vom 25. Juni 2015 über das Verfassungsgericht, veröffentlicht im Amtsblatt vom 30. Juli 2015, Nummer 1064, in der zuletzt geänderten Fassung. Das Gesetz vom 22. Dezember 2015 wurde am 28. Dezember unter Nummer 2217 im Amtsblatt veröffentlicht.

(25)  Stellungnahme, Absatz 41.

(26)  Verfassungsgerichtsgesetz vom 25. Juni 2015, veröffentlicht im Amtsblatt vom 30. Juli 2015, Nummer 1064, in der geänderten Fassung. Das Gesetz vom 22. Dezember 2015 wurde am 28. Dezember unter Nummer 2217 im Amtsblatt veröffentlicht.

(27)  Siehe Artikel 1 Artikel 9 neu, durch den Artikel 44 Absätze 1 bis 3 ersetzt wird.

(28)  Siehe Artikel 1 Artikel 14 neu, durch den Artikel 99 Absatz 1 ersetzt wird.

(29)  Siehe Artikel 1 Artikel 10 neu, durch den ein neuer Artikel 80 Absatz 2 eingefügt wird.

(30)  Siehe Artikel 1 Artikel 12 neu, durch den Artikel 87 Absatz 2 ersetzt wird.

(31)  Siehe Artikel 1 Absatz 5 neu, durch den ein neuer Artikel 28a eingefügt wird, und Artikel 1 Absatz 7 neu, durch den ein neuer Artikel 31a eingefügt wird.

(32)  Das neue Quorum gilt auch für Entschließungen der Generalversammlung, sofern im Gesetz nichts anderes bestimmt ist (Artikel 1 Absatz 3 neu, durch den Artikel 10 Absatz 1 geändert wird).

(33)  Diese Vorschriften (Quorum und Zweidrittelmehrheit) gelten aufgrund der Änderung auch für die Generalversammlung des Gerichts.

(34)  Siehe Artikel 1 Absatz 10 neu, durch den ein neuer Artikel 80 Absatz 2 eingefügt wird.

(35)  Siehe Artikel 1 Absatz 2 neu.

(36)  Siehe Artikel 1 Absatz 12 neu.

(37)  Siehe Artikel 1 Absatz 5 neu.

(38)  Siehe Artikel 1 Absatz 7 neu.

(39)  Siehe Artikel 1 Absatz 5 neu, durch den ein neuer Artikel 28a eingefügt wird.

(40)  Siehe Artikel 1 Absatz 7 neu, durch den ein neuer Artikel 31a eingefügt wird.

(41)  Gesetz vom 30. Dezember 2015 zur Änderung des Rundfunkgesetzes, veröffentlicht im Amtsblatt vom 7. Januar 2016, Nummer 25.

(42)  Gesetz vom 30. Dezember 2015 zur Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Dienst und anderer Rechtsvorschriften, veröffentlicht im Amtsblatt vom 8. Januar 2016, Nummer 34.

(43)  Gesetz vom 15. Januar 2016 zur Änderung des Gesetzes über die Polizei und anderer Gesetze, veröffentlicht im Amtsblatt vom 4. Februar 2016, Nummer 147.

(44)  Gesetz vom 28. Januar 2016 über die Staatsanwaltschaft, veröffentlicht im Amtsblatt vom 15. Februar 2016, Nummer 177. Durchführungsgesetz vom 28. Januar 2016 zum Gesetz über die Staatsanwaltschaft, veröffentlicht im Amtsblatt vom 15. Februar 2016, Nummer 178.

(45)  Gesetz vom 18. März 2016 über den Bürgerbeauftragten und zur Änderung weiterer Gesetze. Dieses Gesetz wurde am 4. Mai 2016 vom Staatspräsidenten unterzeichnet.

(46)  Gesetz vom 22. Juni 2016 über den nationalen Medienrat. Dieses Gesetz wurde am 27. Juni 2016 vom Staatspräsidenten unterzeichnet.

(47)  Gesetz vom 10. Juni 2016 zur Terrorismusbekämpfung. Dieses Gesetz wurde am 22. Juni 2016 vom Staatspräsidenten unterzeichnet. Der Kommission ist ferner bekannt, dass dem Landeszentrum für Gesetzgebung am 5. Mai 2016 vom Justizministerium ein neues Gesetz zur Änderung des Gesetzes über den Landesrichterrat und bestimmter anderer Gesetze vorgelegt wurde.

(48)  Gesetz vom 30. Dezember 2015 zur Änderung des Rundfunkgesetzes, veröffentlicht im Amtsblatt vom 7. Januar 2016, Nummer 25, und Gesetz vom 22. Juni 2016 über den nationalen Medienrat. Dieses Gesetz wurde am 27. Juni 2016 vom Staatspräsidenten unterzeichnet.

(49)  Gesetz vom 30. Dezember 2015 zur Änderung des Gesetzes über den öffentlichen Dienst und anderer Rechtsvorschriften, veröffentlicht im Amtsblatt vom 8. Januar 2016, Nummer 34.

(50)  Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Justizminister Ziobro vom 1. Februar 2016. Schreiben des Ersten Vizepräsidenten Timmermans an Außenminister Waszczykowski vom 3. März 2016.

(51)  Gesetz vom 15. Januar 2016 zur Änderung des Gesetzes über die Polizei und anderer Gesetze, veröffentlicht im Amtsblatt vom 4. Februar 2016, Nummer 147.

(52)  Stellungnahme Nr. 839/2016.

(53)  Gesetz vom 10. Juni 2016 zur Terrorismusbekämpfung. Dieses Gesetz wurde am 22. Juni 2016 vom Staatspräsidenten unterzeichnet.