5.9.2008   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

L 238/5


ENTSCHEIDUNG DES RATES

vom 24. Juli 2008

zum Bestehen eines übermäßigen Defizits im Vereinigten Königreich

(2008/713/EG)

DER RAT DER EUROPÄISCHEN UNION —

gestützt auf den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere auf Artikel 104 Absatz 6,

auf Empfehlung der Kommission,

unter Berücksichtigung der Bemerkungen des Vereinigten Königreichs,

in Erwägung nachstehender Gründe:

(1)

In Artikel 104 des Vertrags ist ein Verfahren bei einem übermäßigen Defizit (VÜD) vorgesehen, um sicherzustellen, dass die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite vermeiden oder gegebenenfalls korrigieren.

(2)

Gemäß Ziffer 5 des Protokolls über einige Bestimmungen betreffend das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland gilt die nach Artikel 104 Absatz 1 des Vertrags bestehende Verpflichtung zur Vermeidung übermäßiger öffentlicher Defizite nicht für das Vereinigte Königreich, es sei denn, es geht zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion über. In der zweiten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion muss das Vereinigte Königreich nach Artikel 116 Absatz 4 des Vertrags bemüht sein, übermäßige öffentliche Defizite zu vermeiden.

(3)

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt beruht auf dem Ziel einer gesunden öffentlichen Finanzlage als Mittel zur Verbesserung der Voraussetzungen für Preisstabilität und ein kräftiges tragfähiges Wachstum, das der Schaffung von Arbeitsplätzen förderlich ist.

(4)

Das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit nach Artikel 104 des Vertrags, das durch die zum Stabilitäts- und Wachstumspakt gehörende Verordnung (EG) Nr. 1467/97 des Rates vom 7. Juli 1997 über die Beschleunigung und Klärung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (1) näher geregelt wird, sieht eine Entscheidung über das Bestehen eines übermäßigen Defizits vor. Das Protokoll über das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit im Anhang zum Vertrag enthält weitere Bestimmungen zur Durchführung des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit. In der Verordnung (EG) Nr. 3605/93 (2) des Rates werden detaillierte Regeln und Definitionen für die Anwendung des genannten Protokolls festgelegt.

(5)

Nach Artikel 104 Absatz 5 des Vertrags hat die Kommission dem Rat eine Stellungnahme vorzulegen, wenn sie der Auffassung ist, dass in einem Mitgliedstaat ein übermäßiges Defizit besteht oder sich ergeben könnte. Unter Berücksichtigung ihres Berichts nach Artikel 104 Absatz 3 des Vertrags und nach Stellungnahme des Wirtschafts- und Finanzausschusses gemäß Artikel 104 Absatz 4 gelangte die Kommission zu der Auffassung, dass im Vereinigten Königreich ein übermäßiges Defizit besteht. Die Kommission hat dem Rat daher am 2. Juli 2008 eine entsprechende Stellungnahme zum Vereinigten Königreich vorgelegt.

(6)

Nach Artikel 104 Absatz 6 des Vertrags hat der Rat die Bemerkungen, die der betreffende Mitgliedstaat gegebenenfalls abzugeben wünscht, zu berücksichtigen, bevor er nach Prüfung der Gesamtlage entscheidet, ob ein übermäßiges Defizit besteht. Im Falle des Vereinigten Königreichs führt die Prüfung der Gesamtlage zu folgenden Schlussfolgerungen.

(7)

Ende der 90er Jahre unternahm das Vereinigte Königreich rigorose Konsolidierungsanstrengungen. Anschließend lockerte die Regierung ihre Finanzpolitik, vor allem aufgrund des erklärten Ziels, die Ausgaben für öffentliche Dienste zu erhöhen. Infolgedessen verwandelte sich der gesamtstaatliche Haushaltssaldo von einem Überschuss Ende der 90er Jahre in ein Defizit von 3,2 % des BIP 2003/04 und 3,5 % 2004/05. Da die Produktionslücke in diesem Zeitraum positiv blieb, entsprach dies einer Verschlechterung des strukturellen Saldos um 4

Formula

BIP-Prozentpunkte von 1999/2000 bis 2004/05 (3). Am 21. September 2005 leitete die Kommission mit der Annahme eines Berichts nach Artikel 104 Absatz 3 des Vertrags das Defizitverfahren gegen das Vereinigte Königreich ein, und am 24. Januar 2006 entschied der Rat, dass im Vereinigten Königreich ein übermäßiges Defizit bestand. In den Jahren 2005/06 und 2006/07 besserte sich die Haushaltslage, und das Gesamtdefizit ging 2006/07 auf 2,6 % des BIP zurück. Am 12. September 2007 nahm die Kommission unter Berücksichtigung des Defizitergebnisses für 2006/07 sowie der Frühjahrsprognose 2007 eine Empfehlung für eine Entscheidung des Rates an, das Defizitverfahren gegen das Vereinigte Königreich einzustellen. Am 9. Oktober 2007 beschloss der Rat „Wirtschaft und Finanzen“ (Ecofin), das Defizitverfahren gemäß Artikel 104 Absatz 12 des Vertrags einzustellen.

(8)

Gemäß den von den Behörden des VK im März 2008 übermittelten VÜD-Daten plante das Vereinigte Königreich für 2008/09 ein gesamtstaatliches Defizit von 3,2 % des BIP und damit über dem Referenzwert von 3 % des BIP; im Haushaltsplan des Vereinigten Königreichs vom März 2008 wird hierfür der gleiche Wert genannt und das gesamtstaatliche Defizit auf 2,8 % des BIP 2009/10 veranschlagt. Aufgrund unterschiedlicher Erwartungen hinsichtlich des BIP-Wachstums 2009/10 wird im letzten Jahr von einer niedrigeren Defizitzahl ausgegangen als in der Frühjahrsprognose der Kommissionsdienststellen (3,3 %). Nach Veröffentlichung des Haushaltsplans vom März 2008 erfolgte am 13. Mai die Ankündigung einer durch zusätzlich aufgenommene Kredite finanzierten ESt-Senkung im Haushalt 2008/09, dies wird zusätzliche Kosten von 2,7 Mrd. GBP verursachen. Bei Aufrechnung auf das in der Frühjahrsprognose der Kommissionsdienststellen ermittelte Defizit 2008/09 ergibt sich somit ein Defizit von 3,5 % des BIP. Zwar liegt das im März 2008 gemeldete Plandefizit 2008/09 über dem EGV-Referenzwert von 3 % des BIP, bleibt aber noch in dessen Nähe. Der Referenzwert von 3 % des BIP wird nicht nur ausnahmsweise im Sinne des Artikels 104 Absatz 2 überschritten. Insbesondere ist die Überschreitung weder auf ein außergewöhnliches Ereignis, das sich der Kontrolle des Vereinigten Königreichs entzieht, noch auf einen schwerwiegenden Wirtschaftsabschwung zurückzuführen. Die Kommissionsdienststellen rechnen in ihrer Frühjahrsprognose 2008 damit, dass sich das Wachstum im Vereinigten Königreich 2008 und 2009 abschwächen und im Jahresdurchschnitt unter dem Potenzial liegen wird. Gleichwohl dürfte das BIP-Wachstum 2008 1,7 % und 2009 1,6 % erreichen. Da die Kommissionsdienststellen in ihrer Prognose unter der Annahme einer unveränderten Politik davon ausgehen, dass die Defizitquote auch 2009/10 über 3 % liegen wird (3,3 %), wird der Referenzwert auch nicht nur vorübergehend überschritten. Dies weist darauf hin, dass die Anforderungen des Vertrags in Bezug auf das Defizitkriterium nicht erfüllt sind.

(9)

Die gesamtstaatliche Schuldenquote liegt weiterhin deutlich unter dem Referenzwert von 60 % (im März wurde für das Haushaltsjahr 2007/08 eine Schuldenquote von 43,0 % des BIP gemeldet) (4), wenngleich sie den Prognosen zufolge bis 2009/10 tendenziell ansteigt. Nach der Prognose der Kommissionsdienststellen dürfte die Schuldenquote 2009/10 rund 47 

Formula

 % des BIP erreichen.

(10)

Gemäß Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung (EG) Nr. 1467/97 können „sonstige einschlägige Faktoren“ bei der Entscheidung des Rates über das Bestehen eines übermäßigen Defizits nach Artikel 104 Absatz 6 nur dann berücksichtigt werden, wenn die doppelte Bedingung — dass das Defizit in der Nähe des Referenzwertes bleibt und der Referenzwert vorübergehend überschritten wird — vollständig erfüllt ist. Diese doppelte Bedingung ist nicht erfüllt. Daher werden in den Verfahrensschritten auf dem Weg zur Entscheidung über das Bestehen eines übermäßigen Defizits keine sonstigen einschlägigen Faktoren berücksichtigt —

HAT FOLGENDE ENTSCHEIDUNG ERLASSEN:

Artikel 1

Nach Prüfung der Gesamtlage ist festzustellen, dass im Vereinigten Königreich ein übermäßiges Defizit besteht.

Artikel 2

Diese Entscheidung ist an das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland gerichtet.

Geschehen zu Brüssel am 24. Juli 2008.

Im Namen des Rates

Der Präsident

B. HORTEFEUX


(1)  ABl. L 209 vom 2.8.1997, S. 6.

(2)  ABl. L 332 vom 31.12.1993, S. 7.

(3)  Schätzung der Kommissionsdienststellen unter Anwendung der gemeinsamen Methodik für die Schätzung von Produktionslücken.

(4)  Unter Zugrundelegung des FISIM-bereinigten BIP (FISIM: Finanzserviceleistungen, indirekte Messung).