URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

8. Dezember 2020 ( *1 )

„Nichtigkeitsklage – Richtlinie (EU) 2018/957 – Freier Dienstleistungsverkehr – Entsendung von Arbeitnehmern – Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen – Entlohnung – Entsendungsdauer – Bestimmung der Rechtsgrundlage – Art. 53 und 62 AEUV – Änderung einer bestehenden Richtlinie – Art. 9 AEUV – Diskriminierungsverbot – Erforderlichkeit – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Verordnung (EG) Nr. 593/2008 – Anwendungsbereich – Straßenverkehr – Art. 58 AEUV“

In der Rechtssache C‑626/18

betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 3. Oktober 2018,

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna und D. Lutostańska als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Europäisches Parlament, zunächst vertreten durch M. Martínez Iglesias, K. Wójcik, A. Pospíšilová Padowska und L. Visaggio, dann durch M. Martínez Iglesias, K. Wójcik, L. Visaggio und A. Tamás als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland, zunächst vertreten durch J. Möller und T. Henze, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,

Französische Republik, vertreten durch E. de Moustier, A.‑L. Desjonquères und R. Coesme als Bevollmächtigte,

Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman, C. Schillemans und J. Langer als Bevollmächtigte,

Europäische Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, B.‑R. Killmann und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

Rat der Europäischen Union, zunächst vertreten durch E. Ambrosini, K. Adamczyk Delamarre und A. Norberg, dann durch E. Ambrosini, A. Sikora-Kalėda, Z. Bodnar und A. Norberg als Bevollmächtigte,

Beklagter,

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland, zunächst vertreten durch J. Möller und T. Henze, dann durch J. Möller als Bevollmächtigte,

Französische Republik, vertreten durch E. de Moustier, A.‑L. Desjonquères und R. Coesme als Bevollmächtigte,

Königreich der Niederlande, vertreten durch M. K. Bulterman, C. Schillemans und J. Langer als Bevollmächtigte,

Königreich Schweden, zunächst vertreten durch C. Meyer-Seitz, A. Falk, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder, dann durch C. Meyer-Seitz, H. Shev und H. Eklinder als Bevollmächtigte,

Europäische Kommission, vertreten durch M. Kellerbauer, B.‑R. Killmann und A. Szmytkowska als Bevollmächtigte,

Streithelferinnen,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), E. Regan, M. Ilešič und N. Wahl, der Richter E. Juhász, D. Šváby, S. Rodin, F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, P. G. Xuereb und N. Jääskinen,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. März 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. Mai 2020

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Republik Polen, Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und Nr. 2 Buchst. b sowie Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie (EU) 2018/957 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Juni 2018 zur Änderung der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 2018, L 173, S. 16, berichtigt im ABl. 2019, L 91, S. 77) (im Folgenden: angefochtene Richtlinie) für nichtig zu erklären, hilfsweise, die gesamte angefochtene Richtlinie für nichtig zu erklären.

I. Rechtlicher Rahmen

A. AEU-Vertrag

2

Art. 9 AEUV lautet:

„Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und ihrer Maßnahmen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, mit der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“

3

Art. 53 AEUV bestimmt:

„(1)   Um die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten zu erleichtern, erlassen das Europäische Parlament und der Rat [der Europäischen Union] gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise sowie für die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Tätigkeiten.

(2)   Die schrittweise Aufhebung der Beschränkungen für die ärztlichen, arztähnlichen und pharmazeutischen Berufe setzt die Koordinierung der Bedingungen für die Ausübung dieser Berufe in den einzelnen Mitgliedstaaten voraus.“

4

Art. 58 Abs. 1 AEUV sieht vor:

„Für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs gelten die Bestimmungen des Titels über den Verkehr.“

5

Art. 62 AEUV lautet:

„Die Bestimmungen der Artikel 51 bis 54 finden auf das in diesem Kapitel geregelte Sachgebiet Anwendung.“

B. Bestimmungen über entsandte Arbeitnehmer

1.   Richtlinie 96/71/EG

6

Die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) wurde auf der Grundlage von Art. 57 Abs. 2 und Art. 66 EG (jetzt Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV) erlassen.

7

Nach ihrem Art. 3 Abs. 1 verfolgte die Richtlinie 96/71 das Ziel, den in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten entsandten Arbeitnehmern bezüglich der in ihr geregelten Aspekte die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen zu garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wurde, durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festgelegt waren.

8

Zu den in der Richtlinie 96/71 geregelten Aspekten gehörten nach ihrem Art. 3 Abs. 1 Buchst. c die Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze.

2.   Angefochtene Richtlinie

9

Die angefochtene Richtlinie wurde auf der Grundlage von Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV erlassen.

10

In den Erwägungsgründen 1, 4, 6 und 9 bis 11 der angefochtenen Richtlinie heißt es:

„(1)

Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, die Niederlassungsfreiheit und die Dienstleistungsfreiheit sind Grundprinzipien des Binnenmarktes, die im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert sind. Die Umsetzung und Durchsetzung dieser Grundsätze werden durch die Union weiterentwickelt und sollen gleiche Bedingungen für Unternehmen und die Achtung der Arbeitnehmerrechte gewährleisten.

(4)

Mehr als zwanzig Jahre nach Erlass der Richtlinie 96/71… muss geprüft werden, ob sie immer noch für das richtige Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit der Förderung der Dienstleistungsfreiheit und der Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen einerseits und zum anderen der Notwendigkeit des Schutzes der Rechte entsandter Arbeitnehmer sorgt. Damit die Vorschriften einheitlich angewendet werden und eine echte soziale Konvergenz erreicht wird, sollte neben der Überarbeitung der Richtlinie 96/71… der Umsetzung und Durchsetzung der Richtlinie 2014/67/EU des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 15. Mai 2014 zur Durchsetzung der Richtlinie 96/71 und zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1024/2012 über die Verwaltungszusammenarbeit mit Hilfe des Binnenmarkt‑Informationssystems (‚IMI-Verordnung‘) (ABl. 2014, L 159, S. 11)] Vorrang eingeräumt werden.

(6)

Der Gleichbehandlungsgrundsatz und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit sind seit den Gründungsverträgen im Unionsrecht verankert. Der Grundsatz des gleichen Entgelts wurde im Sekundärrecht umgesetzt, nicht nur für Frauen und Männer, sondern auch für Arbeitnehmer mit befristeten Arbeitsverträgen und vergleichbare Arbeitnehmer mit unbefristeten Verträgen, für Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigte sowie für Leiharbeitnehmer und vergleichbare Arbeitnehmer des entleihenden Unternehmens. Diese Grundsätze umfassen das Verbot aller Maßnahmen, die eine direkte oder indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit darstellen. Bei der Anwendung dieser Grundsätze ist die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu berücksichtigen.

(9)

Die Entsendung hat vorübergehenden Charakter. Entsandte Arbeitnehmer kehren nach Abschluss der Arbeiten, für die sie entsandt worden sind, in der Regel in den Mitgliedstaat, aus dem sie entsandt wurden, zurück. Allerdings sollten angesichts der langen Dauer mancher Entsendungen und in Anerkennung der Verbindung, die zwischen dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats und den für solch lange Zeiträume entsandten Arbeitnehmern besteht, bei Entsendezeiträumen von über 12 Monaten die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass die Unternehmen, die Arbeitnehmer in ihr Hoheitsgebiet entsenden, diesen Arbeitnehmern zusätzliche Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die für die Arbeitnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem die Arbeit verrichtet wird, verbindlich gelten. Dieser Zeitraum sollte verlängert werden, sofern der Dienstleistungserbringer eine mit einer Begründung [versehene] Mitteilung vorlegt.

(10)

Ein besserer Arbeitnehmerschutz ist notwendig, um den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sowohl kurz- als auch langfristig sicherzustellen, insbesondere indem ein Missbrauch der durch die Verträge garantierten Rechte verhindert wird. Jedoch können die Vorschriften über den Arbeitnehmerschutz das Recht von Unternehmen, die Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsenden, sich auch in Fällen, in denen die Entsendung länger als zwölf Monate oder gegebenenfalls 18 Monate dauert, auf die Dienstleistungsfreiheit zu berufen, nicht berühren. Bestimmungen, die für entsandte Arbeitnehmer im Rahmen einer Entsendung von mehr als zwölf oder gegebenenfalls 18 Monaten gelten, müssen daher mit dieser Freiheit vereinbar sein. Gemäß der ständigen Rechtsprechung sind Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit nur zulässig, wenn sie aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie verhältnismäßig und erforderlich sind.

(11)

Überschreitet eine Entsendung 12 oder gegebenenfalls 18 Monate, sollten die zusätzlichen Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen, die von dem Unternehmen, das Arbeitnehmer in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats entsendet, garantiert werden, auch für Arbeitnehmer gelten, die entsandt werden, um andere entsandte Arbeitnehmer, die die gleiche Tätigkeit am gleichen Ort ausführen, zu ersetzen, damit sichergestellt wird, dass mit diesen Ersetzungen nicht die sonst geltenden Vorschriften umgangen werden.“

11

Die Erwägungsgründe 16 bis 19 haben folgenden Wortlaut:

„(16)

In einem wirklich integrierten und wettbewerbsorientierten Binnenmarkt konkurrieren Unternehmen auf der Grundlage von Faktoren wie Produktivität, Effizienz und dem Bildungs- und Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte sowie der Qualität ihrer Güter und Dienstleistungen und durch den Grad an Innovation miteinander.

(17)

Es fällt in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, Entlohnungsvorschriften im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten festzulegen. Die Festlegung der Löhne und Gehälter fällt in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten und der Sozialpartner. Es ist besonders darauf zu achten, dass die nationalen Systeme für die Festlegung der Löhne und Gehälter und die Freiheit der beteiligten Parteien nicht untergraben werden.

(18)

Beim Vergleich der Entlohnung des entsandten Arbeitnehmers mit der geschuldeten Entlohnung gemäß dem nationalen Recht und/oder der nationalen Gepflogenheit des Aufnahmemitgliedstaats sollte der Bruttobetrag der Entlohnung berücksichtigt werden. Dabei sollten nicht die einzelnen Bestandteile der Entlohnung, die gemäß dieser Richtlinie zwingend vorgeschrieben sind, sondern die Bruttobeträge der Entlohnung insgesamt verglichen werden. Um Transparenz zu gewährleisten und die zuständigen Behörden und Stellen bei der Durchführung von Prüfungen und Kontrollen zu unterstützen, ist es jedoch notwendig, dass die einzelnen Bestandteile der Entlohnung gemäß dem nationalen Recht und/oder den Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, aus dem der Arbeitnehmer entsandt wurde, hinreichend genau ermittelt werden können. Sofern die Entsendungszulagen nicht Auslagen betreffen, die infolge der Entsendung tatsächlich entstanden sind, wie z. B. Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten, sollten diese als Bestandteil der Entlohnung gelten und für den Vergleich der Bruttobeträge der Entlohnung berücksichtigt werden.

(19)

Entsendungszulagen dienen oft mehreren Zwecken. Soweit ihr Zweck die Erstattung von infolge der Entsendung entstandenen Kosten wie z. B. Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten ist, sollten sie nicht als Bestandteil der Entlohnung gelten. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, im Einklang mit ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten Erstattungsvorschriften für diese Kosten festzulegen. Der Arbeitgeber sollte entsandten Arbeitnehmern diese Kosten im Einklang mit den auf das Arbeitsverhältnis anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten erstatten.“

12

Der 24. Erwägungsgrund der Richtlinie lautet:

„Mit dieser Richtlinie wird ein ausgeglichener Rahmen für die Dienstleistungsfreiheit und den Schutz entsandter Arbeitnehmer eingerichtet, der diskriminierungsfrei, transparent und verhältnismäßig ist und gleichzeitig die Vielfalt der nationalen Arbeitsbeziehungen achtet. Diese Richtlinie steht der Anwendung von für entsandte Arbeitnehmer günstigeren Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen nicht entgegen.“

13

Mit Art. 1 Nr. 1 Buchst. b der angefochtenen Richtlinie werden in Art. 1 der Richtlinie 96/71 die Abs. –1 und –1a eingefügt:

„(–1)   Mit [der Richtlinie 96/71] wird der Schutz entsandter Arbeitnehmer während ihrer Entsendung im Verhältnis zur Dienstleistungsfreiheit sichergestellt, indem zwingende Vorschriften in Bezug auf die Arbeitsbedingungen und den Schutz der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer festgelegt werden, die eingehalten werden müssen.

(–1a)   [Die Richtlinie 96/71] berührt in keiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten und auf Unionsebene anerkannten Grundrechte, einschließlich des Rechts oder der Freiheit zum Streik oder zur Durchführung anderer Maßnahmen, die im Rahmen der jeweiligen Systeme der Mitgliedstaaten im Bereich der Arbeitsbeziehungen nach ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder ihren nationalen Gepflogenheiten vorgesehen sind. Sie berührt auch nicht das Recht, im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten Tarifverträge auszuhandeln, abzuschließen und durchzusetzen oder kollektive Maßnahmen zu ergreifen.“

14

Durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der angefochtenen Richtlinie wird Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 wie folgt geändert, diesem Unterabsatz die Buchst. h und i hinzugefügt und in diesen Art. 3 Abs. 1 ein Unterabs. 3 eingefügt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte auf der Grundlage der Gleichbehandlung die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, festgelegt sind,

durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche oder durch Tarifverträge oder Schiedssprüche, die anderweitig nach Absatz 8 Anwendung finden:

c)

Entlohnung, einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

h)

Bedingungen für die Unterkünfte von Arbeitnehmern, wenn sie vom Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die von ihrem regelmäßigen Arbeitsplatz entfernt sind, zur Verfügung gestellt werden;

i)

Zulagen oder Kostenerstattungen zur Deckung von Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten für Arbeitnehmer, die aus beruflichen Gründen nicht zu Hause wohnen.

Für die Zwecke [der Richtlinie 96/71] bestimmt sich der Begriff ‚Entlohnung‘ nach den nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt ist, und umfasst alle die Entlohnung ausmachenden Bestandteile, die gemäß nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften oder durch in diesem Mitgliedstaat für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche oder durch Tarifverträge oder Schiedssprüche, die nach Absatz 8 anderweitig Anwendung finden, zwingend verbindlich gemacht worden sind.“

15

Durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der angefochtenen Richtlinie wird in Art. 3 der Richtlinie 96/71 ein Abs. 1a eingefügt, der folgenden Wortlaut hat:

„In Fällen, in denen die tatsächliche Entsendungsdauer mehr als 12 Monate beträgt, sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern auf der Grundlage der Gleichbehandlung zusätzlich zu den Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gemäß Absatz 1 des vorliegenden Artikels sämtliche anwendbaren Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird, festgelegt sind

durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und/oder

durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche, oder durch Tarifverträge oder Schiedssprüche, die anderweitig nach Absatz 8 anderweitig Anwendung finden.

Unterabsatz 1 des vorliegenden Absatzes findet keine Anwendung auf folgende Aspekte:

a)

Verfahren, Formalitäten und Bedingungen für den Abschluss und die Beendigung des Arbeitsvertrags, einschließlich Wettbewerbsverboten;

b)

zusätzliche betriebliche Altersversorgungssysteme.

Legt der Dienstleistungserbringer eine mit einer Begründung versehene Mitteilung vor, so verlängert der Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, den in Unterabsatz 1 genannten Zeitraum auf 18 Monate.

Ersetzt ein in Artikel 1 Absatz 1 genanntes Unternehmen einen entsandten Arbeitnehmer durch einen anderen entsandten Arbeitnehmer, der die gleiche Tätigkeit am gleichen Ort ausführt, so gilt als Entsendungsdauer für die Zwecke dieses Absatzes die Gesamtdauer der Entsendezeiten der betreffenden einzelnen entsandten Arbeitnehmer.

Der in Unterabsatz 4 dieses Absatzes genannte Begriff ‚gleiche Tätigkeit am gleichen Ort‘ wird unter anderem unter Berücksichtigung der Art der zu erbringenden Dienstleistung oder der durchzuführenden Arbeit und der Anschrift(en) des Arbeitsplatzes bestimmt.“

16

Nach Art. 1 Nr. 2 Buchst. c der angefochtenen Richtlinie hat Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 96/71 folgenden Wortlaut:

„Die Absätze 1 bis 6 stehen der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen nicht entgegen.

Die Entsendungszulagen gelten als Bestandteil der Entlohnung, sofern sie nicht als Erstattung von infolge der Entsendung tatsächlich entstandenen Kosten wie z. B. Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten gezahlt werden. Der Arbeitgeber erstattet dem entsandten Arbeitnehmer unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 Buchstabe i diese Kosten im Einklang mit den auf das Arbeitsverhältnis des entsandten Arbeitnehmers anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften und/oder nationalen Gepflogenheiten.

Legen die für das Arbeitsverhältnis geltenden Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen nicht fest, ob und wenn ja welche Bestandteile einer Entsendungszulage als Erstattung von infolge der Entsendung tatsächlich entstandenen Kosten gezahlt werden oder welche Teil der Entlohnung sind, so ist davon auszugehen, dass die gesamte Zulage als Erstattung von infolge der Entsendung entstandenen Kosten gezahlt wird.“

17

Art. 3 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für den Straßenverkehrssektor ab dem Geltungsbeginn eines Gesetzgebungsakts zur Änderung der Richtlinie 2006/22/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über Mindestbedingungen für die Durchführung der Verordnungen (EWG) Nr. 3820/85 und (EWG) Nr. 3821/85 des Rates über Sozialvorschriften für Tätigkeiten im Kraftverkehr sowie zur Aufhebung der Richtlinie 88/599/EWG des Rates (ABl. 2006, L 102, S. 35)] bezüglich der Durchsetzungsanforderungen und zur Festlegung spezifischer Regeln im Zusammenhang mit der Richtlinie 96/71… und der Richtlinie 2014/67… für die Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor.“

C. Bestimmungen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht

18

Im 40. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6) (im Folgenden: Rom‑I-Verordnung) heißt es:

„Die Aufteilung der Kollisionsnormen auf zahlreiche Rechtsakte sowie Unterschiede zwischen diesen Normen sollten vermieden werden. Diese Verordnung sollte jedoch die Möglichkeit der Aufnahme von Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse in Vorschriften des [Unionsrechts] über besondere Gegenstände nicht ausschließen.

Diese Verordnung sollte die Anwendung anderer Rechtsakte nicht ausschließen, die Bestimmungen enthalten, die zum reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts beitragen sollen, soweit sie nicht in Verbindung mit dem Recht angewendet werden können, auf das die Regeln dieser Verordnung verweisen. …“

19

Art. 8 („Individualarbeitsverträge“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Individualarbeitsverträge unterliegen dem von den Parteien nach Artikel 3 gewählten Recht. Die Rechtswahl der Parteien darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Arbeitnehmer der Schutz entzogen wird, der ihm durch Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach den Absätzen 2, 3 und 4 des vorliegenden Artikels mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.

(2)   Soweit das auf den Arbeitsvertrag anzuwendende Recht nicht durch Rechtswahl bestimmt ist, unterliegt der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet. Der Staat, in dem die Arbeit gewöhnlich verrichtet wird, wechselt nicht, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet.

…“

20

Art. 9 dieser Verordnung lautet:

„(1)   Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.

(2)   Diese Verordnung berührt nicht die Anwendung der Eingriffsnormen des Rechts des angerufenen Gerichts.

(3)   Den Eingriffsnormen des Staates, in dem die durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen erfüllt werden sollen oder erfüllt worden sind, kann Wirkung verliehen werden, soweit diese Eingriffsnormen die Erfüllung des Vertrags unrechtmäßig werden lassen. Bei der Entscheidung, ob diesen Eingriffsnormen Wirkung zu verleihen ist, werden Art und Zweck dieser Normen sowie die Folgen berücksichtigt, die sich aus ihrer Anwendung oder Nichtanwendung ergeben würden.“

21

Art. 23 („Verhältnis zu anderen [Unionsrechtsakten]“) der Verordnung sieht vor:

„Mit Ausnahme von Artikel 7 berührt diese Verordnung nicht die Anwendung von Vorschriften des [Unionsrechts], die in besonderen Bereichen Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse enthalten.“

II. Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

22

Die Republik Polen beantragt,

folgende Artikel der angefochtenen Richtlinie für nichtig zu erklären:

Art. 1 Nr. 2 Buchst. a, mit dem Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 der Richtlinie 96/71 neu gefasst werden,

Art. 1 Nr. 2 Buchst. b, mit dem Abs. 1a in Art. 3 der Richtlinie 96/71 eingefügt wird, und

Art. 3 Abs. 3;

hilfsweise, die angefochtene Richtlinie für nichtig zu erklären;

dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

23

Das Parlament und der Rat beantragen, die Klage abzuweisen und der Republik Polen die Kosten aufzuerlegen.

24

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 2. April 2019 sind die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande und die Kommission als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments und des Rates zugelassen worden.

25

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 2. April 2019 ist das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.

III. Zur Klage

26

Die Republik Polen stellt Hauptanträge gegen mehrere näher bezeichnete Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie und einen Hilfsantrag auf Nichtigerklärung der gesamten angefochtenen Richtlinie.

27

Das Parlament hält die Hauptanträge für unzulässig, da sich die angefochtenen Bestimmungen nicht von den übrigen Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie trennen ließen.

A. Zur Zulässigkeit der Hauptanträge

28

Die teilweise Nichtigerklärung eines Unionsrechtsakts ist nur möglich, soweit sich die Teile, deren Nichtigerklärung beantragt wird, vom Rest des Rechtsakts trennen lassen. Insoweit hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass dieses Erfordernis nicht erfüllt ist, wenn die teilweise Nichtigerklärung eines Rechtsakts zur Folge hätte, dass sein Wesensgehalt verändert würde (Urteile vom 12. November 2015, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, C‑121/14, EU:C:2015:749, Rn. 20, und vom 9. November 2017, SolarWorld/Rat, C‑204/16 P, EU:C:2017:838, Rn. 36).

29

Daher ist es für die Prüfung der Abtrennbarkeit von Teilen eines Unionsrechtsakts erforderlich, die Bedeutung dieser Bestimmungen zu prüfen, um beurteilen zu können, ob ihre Nichtigerklärung den Sinn und den Wesensgehalt dieses Aktes verändern würde (Urteile vom 12. November 2015, Vereinigtes Königreich/Parlament und Rat, C‑121/14, EU:C:2015:749, Rn. 21, und vom 9. November 2017, SolarWorld/Rat, C‑204/16 P, EU:C:2017:838, Rn. 37).

30

Außerdem stellt die Frage, ob eine teilweise Nichtigerklärung den Wesensgehalt des Unionsrechtsakts verändern würde, ein objektives, nicht aber ein subjektives Kriterium dar, das vom politischen Willen des Organs abhängig wäre, das den streitigen Rechtsakt erlassen hat (Urteile vom 30. März 2006, Spanien/Kommission, C‑36/04, EU:C:2006:209, Rn. 14, und vom 29. März 2012, Kommission/Estland, C‑505/09 P, EU:C:2012:179, Rn. 121).

31

Sowohl durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a als auch durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der angefochtenen Richtlinie wird die Richtlinie 96/71 geändert, indem zum einen der Begriff „Mindestlohnsätze“ in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 durch den Begriff „Entlohnung“ ersetzt wird und zum anderen Art. 3 Abs. 1a der Richtlinie 96/71, der eine Sonderregelung für Entsendungen vorsieht, die mehr als – in der Regel – zwölf Monate dauern, in diese Richtlinie eingefügt wird.

32

Die beiden neuen Vorschriften, die mit diesen Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie eingeführt werden, haben erhebliche Änderungen der durch die Richtlinie 96/71 geschaffenen Regelung für entsandte Arbeitnehmer zur Folge. Es handelt sich um die wichtigsten Änderungen dieser Regelung, die das ursprünglich berücksichtigte Gleichgewicht der Interessen verändern.

33

Die Nichtigerklärung der genannten Bestimmungen der angefochtenen Richtlinie würde daher deren Wesensgehalt antasten, da diese Bestimmungen als Kern der vom Unionsgesetzgeber eingeführten neuen Entsenderegelung angesehen werden können (vgl. entsprechend Urteil vom 30. März 2006, Spanien/Kommission, C‑36/04, EU:C:2006:209, Rn. 16).

34

Der Hauptantrag auf Nichtigerklärung von Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und Art. 1 Nr. 2 Buchst. b der angefochtenen Richtlinie ist daher unzulässig, da sich diese Bestimmungen nicht von den übrigen Bestimmungen dieser Richtlinie trennen lassen.

35

Dagegen sieht Art. 3 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie, auf den sich der Hauptantrag ebenfalls bezieht, lediglich vor, dass diese Richtlinie für den Straßenverkehrssektor ab der Veröffentlichung eines spezifischen Gesetzgebungsakts gilt, so dass die Nichtigerklärung dieser Bestimmung den Wesensgehalt dieser Richtlinie nicht antasten würde.

36

Da der dritte Klagegrund, der speziell diese Bestimmung betrifft, sowohl für die Hauptanträge als auch für den Hilfsantrag gilt, wird bei der Prüfung des Hilfsantrags auf ihn eingegangen.

B. Zum Hilfsantrag

37

Die Republik Polen stützt ihren Antrag auf drei Klagegründe, mit denen sie einen Verstoß gegen Art. 56 AEUV durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und b der angefochtenen Richtlinie, die Wahl einer falschen Rechtsgrundlage im Rahmen des Erlasses dieser Richtlinie und die zu Unrecht erfolgte Einbeziehung des Straßenverkehrssektors in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie rügt.

38

Zunächst ist der zweite Klagegrund zu prüfen, da er die Wahl der Rechtsgrundlage der angefochtenen Richtlinie betrifft und es sich somit um eine Vorfrage für die Prüfung der gegen den Inhalt der Richtlinie gerichteten Klagegründe handelt, sodann der erste Klagegrund und schließlich der dritte Klagegrund.

1.   Zum zweiten Klagegrund: Wahl einer falschen Rechtsgrundlage für den Erlass der angefochtenen Richtlinie

a)   Vorbringen der Parteien

39

Die Republik Polen wendet sich gegen die Heranziehung von Art. 53 Abs. 1 und Art. 62 AEUV als Rechtsgrundlage der angefochtenen Richtlinie mit der Begründung, dass diese im Gegensatz zur Richtlinie 96/71 zu Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs für Arbeitnehmer entsendende Unternehmen führe.

40

Hauptziel der angefochtenen Richtlinie sei der Schutz der entsandten Arbeitnehmer, so dass sie auf die einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Sozialpolitik hätte gestützt werden müssen.

41

Außerdem diene Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und b der angefochtenen Richtlinie nicht dazu, die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit zu erleichtern, sondern untergrabe diese Ausübung vielmehr. Die Ersetzung des Begriffs „Mindestlohnsätze“ durch den der „Entlohnung“ und die neue Regelung für mehr als zwölf Monate entsandte Arbeitnehmer stellten ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Es sei daher widersprüchlich, auf die für die Harmonisierung dieser Freiheit anwendbare Rechtsgrundlage zurückzugreifen.

42

Das Parlament und der Rat, die durch die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden und die Kommission unterstützt werden, treten dem Vorbringen der Republik Polen entgegen.

b)   Würdigung durch den Gerichtshof

43

Zunächst ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen muss, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören. Ergibt die Prüfung des betreffenden Rechtsakts, dass er zwei Zielsetzungen hat oder zwei Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die andere nur nebensächliche Bedeutung hat, so ist der Rechtsakt nur auf eine Rechtsgrundlage zu stützen, und zwar auf die, die die hauptsächliche oder überwiegende Zielsetzung oder Komponente erfordert (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Auch kann zur Bestimmung der richtigen Rechtsgrundlage der rechtliche Zusammenhang, in den sich eine neue Regelung einfügt, berücksichtigt werden, insbesondere soweit dieser Zusammenhang Aufschluss über das Ziel dieser Regelung zu geben vermag (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 32).

45

Somit sind bei einer Regelung, die, wie die angefochtene Richtlinie, eine bestehende Regelung ändert, für die Bestimmung ihrer Rechtsgrundlage auch die bestehende Regelung, die durch sie geändert wird, und vor allem deren Ziel sowie deren Inhalt zu berücksichtigen (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 42).

46

Außerdem kann, wenn ein Gesetzgebungsakt die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in einem bestimmten Bereich des Handelns der Union bereits koordiniert hat, der Unionsgesetzgeber im Hinblick auf seine Aufgabe, über den Schutz der im AEU-Vertrag anerkannten allgemeinen Interessen zu wachen, nicht daran gehindert sein, diesen Rechtsakt den veränderten Umständen oder neuen Erkenntnissen anzupassen und die übergreifenden Ziele der Union in Art. 9 AEUV zu berücksichtigen, zu denen u. a. die Erfordernisse im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus und der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes gehören (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2016, AGET Iraklis, C‑201/15, EU:C:2016:972, Rn. 78).

47

In einem solchen Fall kann der Unionsgesetzgeber seine Aufgabe, über den Schutz dieser allgemeinen Interessen und übergreifenden Ziele der Union zu wachen, nämlich nur dann ordnungsgemäß wahrnehmen, wenn es ihm erlaubt ist, die einschlägigen Unionsvorschriften den veränderten Umständen oder neuen Erkenntnissen anzupassen (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48

Zweitens ist der betreffende Rechtsakt, wenn die Verträge eine spezifischere Bestimmung enthalten, die als Rechtsgrundlage für ihn dienen kann, auf diese Bestimmung zu stützen (Urteil vom 12. Februar 2015, Parlament/Rat, C‑48/14, EU:C:2015:91, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Drittens ergibt sich aus Art. 53 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 62 AEUV, dass der Unionsgesetzgeber für den Erlass von Richtlinien zuständig ist, die u. a. auf die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Aufnahme und Ausübung von Dienstleistungstätigkeiten abzielen, um die Aufnahme und Ausübung dieser Tätigkeiten zu erleichtern.

50

Diese Bestimmungen ermächtigen daher den Unionsgesetzgeber, die nationalen Regelungen zu koordinieren, die schon durch ihre Unterschiedlichkeit geeignet sind, den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern.

51

Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass der Unionsgesetzgeber bei der Koordinierung solcher Regelungen nicht auch für die Beachtung des von den verschiedenen Mitgliedstaaten verfolgten Allgemeininteresses und der in Art. 9 AEUV verankerten Ziele zu sorgen hat, die die Union bei der Festlegung und Durchführung aller ihrer Politiken und Maßnahmen berücksichtigen muss, zu denen die in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten Erfordernisse gehören.

52

Sind somit die Voraussetzungen für die Heranziehung von Art. 53 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 62 AEUV als Rechtsgrundlage erfüllt, kann der Unionsgesetzgeber nicht deshalb daran gehindert sein, sich auf diese Rechtsgrundlage zu stützen, weil er auch solche Erfordernisse berücksichtigt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C‑233/94, EU:C:1997:231, Rn. 17, und vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Folglich müssen die vom Unionsgesetzgeber auf der Grundlage von Art. 53 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 62 AEUV erlassenen Koordinierungsmaßnahmen nicht nur zum Ziel haben, die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs zu erleichtern, sondern gegebenenfalls auch, den Schutz anderer grundlegender Interessen zu gewährleisten, die diese Freiheit beeinträchtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Mai 2016, Philip Morris Brands u. a., C‑547/14, EU:C:2016:325, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die Richtlinie 96/71, da die angefochtene Richtlinie einige Bestimmungen der Richtlinie 96/71 ändert oder neue Bestimmungen in diese einfügt, Teil des rechtlichen Zusammenhangs der angefochtenen Richtlinie ist, wie insbesondere aus deren Erwägungsgründen 1 und 4 hervorgeht, in denen es zum einen heißt, dass die Union die Grundprinzipien des Binnenmarkts, nämlich die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungs‑ und die Dienstleistungsfreiheit, weiterentwickelt, die gleiche Bedingungen für Unternehmen und die Achtung der Arbeitnehmerrechte gewährleisten sollen, und in denen es zum anderen heißt, dass mehr als 20 Jahre nach Erlass der Richtlinie 96/71 geprüft werden muss, ob sie immer noch für das richtige Gleichgewicht zwischen der Notwendigkeit der Förderung der Dienstleistungsfreiheit und der Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen einerseits und der Notwendigkeit des Schutzes der Rechte entsandter Arbeitnehmer andererseits sorgt.

55

Was zum Ersten ihr Ziel anbelangt, soll die angefochtene Richtlinie zusammen mit der durch sie geänderten Richtlinie ein Gleichgewicht zwischen zwei Interessen schaffen, nämlich zum einen den Unternehmen aller Mitgliedstaaten die Möglichkeit gewährleisten, Dienstleistungen im Binnenmarkt zu erbringen, indem sie Arbeitnehmer aus ihrem Sitzmitgliedstaat in den Mitgliedstaat ihrer Leistungserbringung entsenden, und zum anderen, die Rechte der entsandten Arbeitnehmer schützen.

56

Zu diesem Zweck wollte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der angefochtenen Richtlinie den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sicherstellen, d. h. in einem rechtlichen Rahmen, der einen Wettbewerb gewährleistet, der nicht darauf beruht, dass in ein und demselben Mitgliedstaat Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gelten, deren Niveau sich wesentlich danach unterscheidet, ob der Arbeitgeber in diesem Mitgliedstaat ansässig ist oder nicht, und der gleichzeitig den entsandten Arbeitnehmern einen besseren Schutz bietet, wobei, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, dieser Schutz zugleich auch das Mittel ist, um „den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage … sicherzustellen“.

57

Zu diesem Zweck zielt die Richtlinie darauf ab, die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen der entsandten Arbeitnehmer so weit wie möglich denen der Arbeitnehmer, die von im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen beschäftigt werden, anzunähern und so einen besseren Schutz der in diesen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer sicherzustellen.

58

Was zum Zweiten ihren Inhalt anbelangt, bezweckt die angefochtene Richtlinie insbesondere mit den von der Republik Polen beanstandeten Bestimmungen eine stärkere Berücksichtigung des Schutzes der entsandten Arbeitnehmer, und zwar ebenfalls mit dem Ziel, die faire Ausübung eines freien Dienstleistungsverkehrs im Aufnahmemitgliedstaat sicherzustellen.

59

Vor diesem Hintergrund ändert Art. 1 Nr. 1 dieser Richtlinie erstens Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 96/71, indem zum einen ein Abs. –1 eingefügt wird, der die Sicherstellung des Schutzes entsandter Arbeitnehmer während ihrer Entsendung den Zielen der Richtlinie hinzufügt, und zum anderen ein Abs. –1a, in dem klargestellt wird, dass die Richtlinie 96/71 in keiner Weise die Ausübung der in den Mitgliedstaaten und auf Unionsebene anerkannten Grundrechte berührt.

60

Zweitens wird Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a der angefochtenen Richtlinie geändert, indem zur Begründung der den entsandten Arbeitnehmern im Bereich der Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen zu gewährenden Garantie auf die Gleichbehandlung Bezug genommen wird. Die Liste der von dieser Garantie betroffenen Bereiche wird zum einen auf die Bedingungen für die Unterkünfte von Arbeitnehmern, wenn sie vom Arbeitgeber für Arbeitnehmer, die von ihrem regelmäßigen Arbeitsplatz entfernt sind, zur Verfügung gestellt werden, und zum anderen auf die Zulagen oder Kostenerstattungen zur Deckung von Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten für Arbeitnehmer, die aus beruflichen Gründen nicht zu Hause wohnen, erweitert. Außerdem wird in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 in der durch die angefochtene Richtlinie geänderten Fassung (im Folgenden: geänderte Richtlinie 96/71) der Begriff „Mindestlohnsätze“ durch den Begriff „Entlohnung“ ersetzt.

61

Drittens schafft die angefochtene Richtlinie eine Abstufung bei der Anwendung der Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats, indem sie mittels der Einfügung eines Art. 3 Abs. 1a in die Richtlinie 96/71 die Anwendung fast aller dieser Bedingungen vorschreibt, wenn die Entsendung tatsächlich mehr als – in der Regel – zwölf Monate dauert.

62

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die angefochtene Richtlinie entgegen dem Vorbringen der Republik Polen geeignet ist, den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage zu stärken, was das mit ihr verfolgte Hauptziel ist, da sie sicherstellt, dass die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen der entsandten Arbeitnehmer so weit wie möglich denen der Arbeitnehmer, die von im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen beschäftigt werden, angenähert sind, wobei den entsandten Arbeitnehmern in diesem Mitgliedstaat Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen zugutekommen, die einen besseren Schutz bewirken als die in der Richtlinie 96/71 vorgesehenen.

63

Zum Dritten sollen mit der Richtlinie 96/71, wie aus ihrem ersten Erwägungsgrund hervorgeht, zwar Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beseitigt werden, im fünften Erwägungsgrund wird jedoch klargestellt, dass die Förderung des länderübergreifenden Dienstleistungsverkehrs im Rahmen eines fairen Wettbewerbs und von Maßnahmen, die die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer garantieren, verwirklicht werden muss.

64

Vor diesem Hintergrund kündigen die Erwägungsgründe 13 und 14 der Richtlinie 96/71 die Koordinierung der Gesetze der Mitgliedstaaten an, um einen „harten Kern“ zwingender Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz festzulegen, das im Aufnahmemitgliedstaat von Arbeitgebern zu gewährleisten ist, die Arbeitnehmer dorthin entsenden.

65

Somit hat die Richtlinie 96/71, auch wenn sie zugleich das Ziel verfolgt hat, den länderübergreifenden freien Dienstleistungsverkehr zu verbessern, vom Zeitpunkt ihres Erlasses an bereits die Notwendigkeit berücksichtigt, einen Wettbewerb zu gewährleisten, der nicht darauf beruht, dass in ein und demselben Mitgliedstaat Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gelten, deren Niveau sich wesentlich danach unterscheidet, ob der Arbeitgeber in diesem Mitgliedstaat ansässig ist oder nicht, und hat damit auch dem Schutz der entsandten Arbeitnehmer Rechnung getragen. Insbesondere waren in Art. 3 dieser Richtlinie die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats aufgeführt, die den in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats entsandten Arbeitnehmern von den Arbeitgebern, die sie entsandt haben, um dort Dienstleistungen zu erbringen, zu gewährleisten waren.

66

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass, wie in den Rn. 46 und 47 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der Unionsgesetzgeber beim Erlass eines Rechtsakts im Hinblick auf seine Aufgabe, über den Schutz der im AEU-Vertrag anerkannten allgemeinen Interessen zu wachen, nicht daran gehindert sein kann, diesen Rechtsakt den veränderten Umständen oder neuen Erkenntnissen anzupassen.

67

Unter Berücksichtigung des größeren rechtlichen Zusammenhangs, in dem die angefochtene Richtlinie erlassen wurde, ist jedoch festzustellen, dass sich der Binnenmarkt seit dem Inkrafttreten der Richtlinie 96/71 wesentlich verändert hat, vor allem durch die schrittweisen Erweiterungen der Union in den Jahren 2004, 2007 und 2013, die dazu geführt haben, dass Unternehmen aus Mitgliedstaaten, in denen im Allgemeinen Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen galten, die sich von denen in den anderen Mitgliedstaaten unterschieden, an diesem Markt beteiligt wurden.

68

Darüber hinaus hat die Kommission, wie das Parlament geltend gemacht hat, in ihrer Arbeitsunterlage SWD(2016) 52 final vom 8. März 2016 mit dem Titel „Folgenabschätzung zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Richtlinie 96/71“ (im Folgenden: Folgenabschätzung) festgestellt, dass die Richtlinie 96/71 zu ungleichen Wettbewerbsbedingungen zwischen in einem Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Unternehmen und Unternehmen, die Arbeitnehmer in diesen Mitgliedstaat entsenden, sowie zur Segmentierung des Arbeitsmarkts wegen struktureller Unterschiede der auf ihre jeweiligen Arbeitnehmer anwendbaren Entgeltregelungen geführt habe.

69

Angesichts des mit der Richtlinie 96/71 verfolgten Ziels, den freien länderübergreifenden Dienstleistungsverkehr im Binnenmarkt im Rahmen eines fairen Wettbewerbs sicherzustellen und die Wahrung der Rechte der Arbeitnehmer zu garantieren, konnte sich der Unionsgesetzgeber daher beim Erlass der angefochtenen Richtlinie in Anbetracht der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Entwicklung der Umstände und Erkenntnisse auf dieselbe Rechtsgrundlage stützen, die für den Erlass der Richtlinie 96/71 herangezogen wurde. Um dieses Ziel in einem geänderten Kontext bestmöglich zu erreichen, konnte es der Unionsgesetzgeber nämlich für erforderlich halten, das Gleichgewicht, auf dem die Richtlinie 96/71 beruhte, anzupassen, indem die Rechte der in den Aufnahmemitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer in der Weise gestärkt werden, dass sich der Wettbewerb zwischen den Unternehmen, die Arbeitnehmer in diesen Mitgliedstaat entsenden, und den dort ansässigen Unternehmen unter faireren Bedingungen entwickelt.

70

Unter diesen Umständen ist das Vorbringen der Republik Polen, dass die einschlägigen Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Sozialpolitik die geeignete Rechtsgrundlage für die angefochtene Richtlinie seien, zurückzuweisen.

71

Der zweite Klagegrund ist folglich zurückzuweisen.

2.   Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 56 AEUV durch Art. 1 Nr. 2 Buchst. a und b der angefochtenen Richtlinie

a)   Vorbringen der Parteien

72

Mit ihrem ersten Klagegrund macht die Republik Polen geltend, die angefochtene Richtlinie schaffe gegen Art. 56 AEUV verstoßende Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs, indem sie in die Richtlinie 96/71 die Verpflichtung der Mitgliedstaaten einführe, den entsandten Arbeitnehmern zum einen eine Entlohnung gemäß den Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten des Aufnahmemitgliedstaats und zum anderen sämtliche Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gemäß diesen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten zu garantieren, sofern die tatsächliche Entsendungsdauer eines Arbeitnehmers mehr als – im Wesentlichen – zwölf Monate betrage.

73

In einem ersten Teil des ersten Klagegrundes trägt die Republik Polen erstens vor, die Ersetzung des Begriffs „Mindestlohnsätze“ durch den Begriff „Entlohnung“ in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 96/71 stelle eine diskriminierende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da sie Dienstleistungserbringern, die entsandte Arbeitnehmer beschäftigten, zusätzliche wirtschaftliche und administrative Belastungen auferlege.

74

Damit bewirke diese Bestimmung der geänderten Richtlinie 96/71, dass der Wettbewerbsvorteil der in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Dienstleistungserbringer, der sich aus niedrigeren Entlohnungssätzen als denen des Aufnahmemitgliedstaats ergebe, beseitigt werde.

75

Zweitens ist die Republik Polen der Ansicht, dass zum einen der in Art. 56 AEUV garantierte freie Dienstleistungsverkehr nicht auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung, sondern auf dem Diskriminierungsverbot beruhe, und dass zum anderen sich die ausländischen Dienstleistungserbringer hauptsächlich deshalb in einer anderen und schwierigeren Situation als die im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleister befänden, weil sie sowohl die Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats als auch die des Aufnahmemitgliedstaats beachten müssten.

76

Ferner befänden sich die entsandten Arbeitnehmer in einer anderen Situation als die Arbeitnehmer des Aufnahmemitgliedstaats, weil ihr Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat vorübergehend sei und sie sich nicht in dessen Arbeitsmarkt eingliederten, da sie den Lebensmittelpunkt in ihrem Wohnsitzstaat behielten. Die diesen Arbeitnehmern gezahlte Entlohnung müsse es ihnen daher ermöglichen, die Lebenshaltungskosten im Wohnsitzstaat zu decken.

77

Drittens können die Änderungen durch die angefochtene Richtlinie nach Ansicht der Republik Polen nicht als durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt oder verhältnismäßig angesehen werden, während die Ziele des Arbeitnehmerschutzes und der Verhinderung unfairen Wettbewerbs in der Richtlinie 96/71 berücksichtigt worden seien.

78

Wie sich aus dem 16. Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie und bestimmten Passagen der Folgenabschätzung ergebe, gehe der Unionsgesetzgeber davon aus, dass schon der Nutzen eines sich aus niedrigeren Arbeitskosten ergebenden Wettbewerbsvorteils nunmehr ein solcher unfairer Wettbewerb sei, auch wenn er bisher nicht als solcher betrachtet worden sei.

79

In diesem Zusammenhang hebt die Republik Polen hervor, dass von einem unfairen Wettbewerbsvorteil keine Rede sein könne, wenn ein Dienstleistungserbringer verpflichtet sei, den von ihm in einen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmern Löhne und Gehälter zu zahlen, die den in diesem Mitgliedstaat geltenden Vorschriften entsprächen.

80

Mit dem zweiten Teil des ersten Klagegrundes macht die Republik Polen geltend, dass dadurch, dass Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 ein höheres Schutzniveau für die für mehr als zwölf Monate in den Aufnahmemitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer vorsehe, eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs eingeführt werde, die weder gerechtfertigt noch verhältnismäßig sei.

81

Diese Bestimmung führe zu zusätzlichen finanziellen und administrativen Belastungen für den in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringer und verstoße angesichts der Mehrdeutigkeit, die darauf zurückzuführen sei, dass der Unionsgesetzgeber die nach dieser Bestimmung anwendbaren Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats nicht aufgezählt habe, gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit.

82

Der Grundsatz der Gleichbehandlung gelte für Personen, die von der Freizügigkeit Gebrauch gemacht hätten, d. h. für Personen, die im Aufnahmemitgliedstaat einer festen Beschäftigung nachgingen. Es sei aber nicht möglich, in Bezug auf die für mehr als zwölf Monate in diesen Mitgliedstaat entsandten Arbeitnehmer analog zu argumentieren, da die entsandten Arbeitnehmer sich ihrerseits nicht in den Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaats einfügten.

83

Die Republik Polen ist der Ansicht, dass Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 gegen Art. 9 der Rom‑I-Verordnung verstoße und dass diese Richtlinie keine lex specialis im Sinne von Art. 23 dieser Verordnung darstelle.

84

Die in Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 gewählte Lösung sei unverhältnismäßig, zum einen in Anbetracht des Umstands, dass bereits viele Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen in der Union harmonisiert worden seien, so dass die Interessen der Arbeitnehmer durch die Rechtsvorschriften des Herkunftsmitgliedstaats hinreichend geschützt seien, und zum anderen in Anbetracht des Umstands, dass der Mechanismus zum Ersatz entsandter Arbeitnehmer, der bei der Berechnung der Dauer des Zeitraums von zwölf Monaten, nach dem fast alle Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen Anwendung fänden, berücksichtigt werde, von der Situation des entsandten Arbeitnehmers entkoppelt sei.

85

Schließlich gebe es keine zeitliche Begrenzung für die Zusammenrechnung der Entsendezeiten, die sich über viele Jahre erstrecken könnten.

86

Das Parlament und der Rat, die durch die Bundesrepublik Deutschland, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden und die Kommission unterstützt werden, treten dem Vorbringen der Republik Polen zu beiden Teilen des ersten Klagegrundes entgegen.

b)   Würdigung durch den Gerichtshof

1) Vorbemerkungen

87

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass das Verbot von Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs nicht nur für nationale Maßnahmen, sondern auch für Maßnahmen der Unionsorgane gilt (Urteil vom 26. Oktober 2010, Schmelz, C‑97/09, EU:C:2010:632, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

88

Wie aus Rn. 53 des vorliegenden Urteils hervorgeht, bezwecken die vom Unionsgesetzgeber auf dem Gebiet des freien Waren‑, Personen‑, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs erlassenen Maßnahmen, ob es sich nun um Maßnahmen zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten oder um Maßnahmen zur Koordinierung dieser Rechtsvorschriften handelt, nicht nur, die Ausübung einer dieser Freiheiten zu erleichtern, sondern gegebenenfalls auch, den Schutz anderer von der Union anerkannter grundlegender Interessen zu gewährleisten, die durch diese Freiheit beeinträchtigt werden können.

89

Dies gilt insbesondere dann, wenn der Unionsgesetzgeber mittels Koordinierungsmaßnahmen, die den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen, dem von den verschiedenen Mitgliedstaaten verfolgten Allgemeininteresse Rechnung trägt und zur Wahrung dieses Interesses ein Schutzniveau festlegt, das in der Union akzeptabel erscheint (vgl. entsprechend Urteil vom 13. Mai 1997, Deutschland/Parlament und Rat, C‑233/94, EU:C:1997:231, Rn. 17).

90

Wie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wollte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der angefochtenen Richtlinie den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sicherstellen, d. h. in einem rechtlichen Rahmen, der einen Wettbewerb gewährleistet, der nicht darauf beruht, dass in ein und demselben Mitgliedstaat Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gelten, deren Niveau sich wesentlich danach unterscheidet, ob der Arbeitgeber in diesem Mitgliedstaat ansässig ist oder nicht, und der gleichzeitig den entsandten Arbeitnehmern einen besseren Schutz bietet, wobei, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, dieser Schutz zugleich auch das Mittel ist, um „den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage … sicherzustellen“.

91

Zweitens muss sich das Unionsgericht, das mit einer Nichtigkeitsklage gegen einen Gesetzgebungsakt zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen wie die angefochtene Richtlinie befasst ist, unter dem Gesichtspunkt der materiellen Rechtmäßigkeit dieses Rechtsakts nur vergewissern, dass dieser nicht gegen den EU-Vertrag und den AEU-Vertrag oder die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts verstößt und dass er nicht ermessensmissbräuchlich ist.

92

Sowohl der Grundsatz der Gleichbehandlung als auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, auf die sich die Republik Polen im Rahmen des vorliegenden Klagegrundes beruft, gehören zu diesen allgemeinen Grundsätzen.

93

Zum einen verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung nach ständiger Rechtsprechung, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, es sei denn, dass eine solche Behandlung objektiv gerechtfertigt ist (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 164 und die dort angeführte Rechtsprechung).

94

Zum anderen verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die von einer Unionsbestimmung eingesetzten Mittel zur Erreichung der mit der betreffenden Regelung zulässigerweise verfolgten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 76 und die dort angeführte Rechtsprechung).

95

Was die gerichtliche Nachprüfbarkeit der Einhaltung dieser Voraussetzungen betrifft, hat der Gerichtshof dem Unionsgesetzgeber im Rahmen der Ausübung der ihm übertragenen Zuständigkeiten ein weites Ermessen in Bereichen zugebilligt, in denen seine Tätigkeit sowohl politische als auch wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen verlangt und in denen er komplexe Prüfungen und Beurteilungen vornehmen muss. Es geht somit nicht darum, ob eine in diesem Bereich erlassene Maßnahme die einzig mögliche oder die bestmögliche war; sie ist vielmehr nur dann rechtswidrig, wenn sie gemessen an dem Ziel, das die zuständigen Organe zu verfolgen beabsichtigen, offensichtlich ungeeignet ist (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 77 und die dort angeführte Rechtsprechung).

96

Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Unionsregelung über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen in einen solchen Bereich fällt.

97

Außerdem bezieht sich das weite Ermessen des Unionsgesetzgebers, das eine begrenzte gerichtliche Kontrolle seiner Ausübung impliziert, nicht ausschließlich auf die Art und die Tragweite der zu erlassenden Bestimmungen, sondern in bestimmtem Umfang auch auf die Feststellung der Grunddaten (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).

98

Auch bei einem weiten Ermessen ist der Unionsgesetzgeber jedoch verpflichtet, seine Entscheidung auf objektive Kriterien zu stützen und zu untersuchen, ob die mit der gewählten Maßnahme verfolgten Ziele nachteilige, oder gar erhebliche, wirtschaftliche Folgen für bestimmte Wirtschaftsteilnehmer rechtfertigen können. Nach Art. 5 des Protokolls (Nr. 2) zum EU-Vertrag und zum AEU-Vertrag über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit müssen nämlich die Entwürfe von Gesetzgebungsakten berücksichtigen, dass die Belastung der Wirtschaftsteilnehmer so gering wie möglich gehalten wird und in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Ziel stehen muss (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

99

Ferner ist auch für eine begrenzte gerichtliche Kontrolle erforderlich, dass die Unionsorgane, die den in Rede stehenden Rechtsakt erlassen haben, in der Lage sind, vor dem Gerichtshof zu belegen, dass sie beim Erlass des Rechtsakts ihr Ermessen tatsächlich ausgeübt haben, was voraussetzt, dass alle erheblichen Faktoren und Umstände der Situation, die mit diesem Rechtsakt geregelt werden sollten, berücksichtigt worden sind. Daraus folgt, dass die Unionsorgane zumindest in der Lage sein müssen, die Grunddaten, die zur Begründung der angefochtenen Maßnahmen dieses Rechtsakts zu berücksichtigen waren und von denen die Ausübung ihres Ermessens abhing, beizubringen und klar und eindeutig darzulegen (Urteil vom 3. Dezember 2019, Tschechische Republik/Parlament und Rat, C‑482/17, EU:C:2019:1035, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

100

Im Licht dieser Erwägungen sind die beiden Teile des ersten Klagegrundes zu prüfen.

2) Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Vorliegen einer diskriminierenden Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs

101

Zum Ersten ist die Republik Polen der Ansicht, die Ersetzung des Begriffs „Mindestlohnsätze“ durch den Begriff „Entlohnung“ in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 96/71 stelle eine diskriminierende Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar, da sie Dienstleistungserbringern, die entsandte Arbeitnehmer beschäftigten, zusätzliche wirtschaftliche und administrative Belastungen auferlege, die zur Folge hätten, dass der Wettbewerbsvorteil der Dienstleister, die in den Mitgliedstaaten mit den niedrigsten Entlohnungssätzen ansässig seien, beseitigt werde.

102

In Anbetracht des Wesens der geänderten Richtlinie 96/71, nämlich des eines Instruments zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen, führt diese dazu, dass Dienstleistungserbringer, die Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat als den ihres Sitzes entsenden, nicht nur den Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats, sondern auch denen des Aufnahmemitgliedstaats dieser Arbeitnehmer unterliegen.

103

Die zusätzlichen administrativen und wirtschaftlichen Belastungen, die daraus für diese Dienstleister resultieren können, ergeben sich aus den mit der Änderung der Richtlinie 96/71 verfolgten Zielen, die als Instrument zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen im Übrigen bereits vor dieser Änderung dazu führte, dass die die Arbeitnehmer entsendenden Dienstleistungserbringer gleichzeitig den Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats und des Aufnahmemitgliedstaats unterlagen.

104

Wie jedoch in den Rn. 56 und 90 des vorliegenden Urteils ausgeführt, wollte der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der angefochtenen Richtlinie den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sicherstellen, d. h. in einem rechtlichen Rahmen, der einen Wettbewerb gewährleistet, der nicht darauf beruht, dass in ein und demselben Mitgliedstaat Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gelten, deren Niveau sich wesentlich danach unterscheidet, ob der Arbeitgeber in diesem Mitgliedstaat ansässig ist oder nicht, und der gleichzeitig den entsandten Arbeitnehmern einen besseren Schutz bietet, wobei, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt, dieser Schutz zugleich auch das Mittel ist, um „den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage … sicherzustellen“.

105

Daraus folgt, dass die angefochtene Richtlinie, indem sie einen besseren Schutz der entsandten Arbeitnehmer gewährleistet, auf die Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs in der Union im Rahmen eines Wettbewerbs abzielt, der nicht von übermäßigen Unterschieden in den Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen abhängt, die in ein und demselben Mitgliedstaat für die Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten gelten.

106

Um dieses Ziel zu erreichen, nimmt die angefochtene Richtlinie insoweit einen neuen Ausgleich der Faktoren vor, auf deren Grundlage die in den verschiedenen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen miteinander in Wettbewerb treten können, ohne jedoch den etwaigen Wettbewerbsvorteil zu beseitigen, der den Dienstleistern bestimmter Mitgliedstaaten zugutegekommen sein mag, da diese Richtlinie entgegen dem Vorbringen der Republik Polen nicht die Ausschaltung jeglichen auf den Kosten beruhenden Wettbewerbs bewirkt. Sie sieht nämlich vor, dass den entsandten Arbeitnehmern die Anwendung einer Reihe von Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen im Aufnahmemitgliedstaat zu garantieren ist, einschließlich der die Entlohnung ausmachenden Bestandteile, die in diesem Staat zwingend verbindlich gemacht worden sind. Die Richtlinie wirkt sich daher nicht auf die übrigen Kostenelemente der Unternehmen aus, die solche Arbeitnehmer entsenden, wie etwa die Produktivität oder Effizienz dieser Arbeitnehmer, die im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie erwähnt werden.

107

Außerdem zielt die angefochtene Richtlinie nach ihrem 16. Erwägungsgrund sowohl darauf ab, einen „wirklich integrierten und wettbewerbsorientierten Binnenmarkt“ zu schaffen als auch, nach ihrem vierten Erwägungsgrund, darauf, durch die einheitliche Anwendung von Vorschriften über Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen eine „echte soziale Konvergenz“ zu erreichen.

108

Aus alledem ergibt sich, dass der Unionsgesetzgeber, um die in Rn. 104 des vorliegenden Urteils genannten Ziele zu erreichen, davon ausgehen durfte, dass der Begriff „Entlohnung“ geeigneter ist als der durch die Richtlinie 96/71 eingeführte Begriff „Mindestlohnsätze“, ohne eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung von Dienstleistungserbringern je nach dem Mitgliedstaat ihres Sitzes zu schaffen.

109

Zum Zweiten ist die Republik Polen erstens der Ansicht, dass der in Art. 56 AEUV garantierte freie Dienstleistungsverkehr nicht auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung, sondern auf dem Diskriminierungsverbot beruhe.

110

So macht sie im Wesentlichen geltend, dass die angefochtene Richtlinie zu Unrecht eine Gleichbehandlung der entsandten Arbeitnehmer und der von Unternehmen mit Sitz im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer vorschreibe. Es ist jedoch festzustellen, dass diese Richtlinie keine solche Gleichheit zwischen diesen beiden Gruppen von Arbeitnehmern bewirkt.

111

Insoweit führen weder die Ersetzung des Begriffs „Mindestlohnsätze“ durch den Begriff „Entlohnung“ in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 96/71 noch die Anwendung der Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats auf die entsandten Arbeitnehmer in Bezug auf die Erstattungen von Reise‑, Unterbringungs- und Verpflegungskosten für Arbeitnehmer, die aus beruflichen Gründen nicht zu Hause wohnen, dazu, dass diese Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat in eine gleiche oder ähnliche Situation wie die Arbeitnehmer versetzt werden, die von Unternehmen mit Sitz im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigt werden.

112

Diese Änderungen führen nämlich nicht zur Anwendung aller Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats, da nach Art. 3 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 96/71 nur einige dieser Bedingungen in jedem Fall auf diese Arbeitnehmer anwendbar sind.

113

In Anbetracht der in Rn. 67 des vorliegenden Urteils dargelegten Gesichtspunkte konnte die Republik Polen jedoch nicht nachweisen, dass die mit der angefochtenen Richtlinie vorgenommenen Änderungen an Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels der angefochtenen Richtlinie, nämlich den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sicherzustellen und den entsandten Arbeitnehmern einen besseren Schutz zu bieten, erforderlich ist.

114

Zweitens macht die Republik Polen geltend, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringer befänden sich hauptsächlich deshalb in einer anderen und schwierigeren Situation als die im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleister, weil sie sowohl die Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats als auch die des Aufnahmemitgliedstaats beachten müssten.

115

Ebenso wenig wie bei den entsandten Arbeitnehmern bewirkt die angefochtene Richtlinie, dass die in anderen Mitgliedstaaten als dem Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringer in eine Situation versetzt werden, die mit derjenigen der im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleister vergleichbar ist, da Erstere den Arbeitnehmern, die sie dort beschäftigen, nur bestimmte für Letztere geltende Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen vorschreiben dürfen.

116

Außerdem führt die geänderte Richtlinie 96/71, wie in den Rn. 102 und 103 des vorliegenden Urteils dargelegt, schon in Anbetracht ihres Wesens als Instrument zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen dazu, dass Dienstleistungserbringer, die Arbeitnehmer in einen anderen Mitgliedstaat als den ihres Sitzes entsenden, nicht nur den Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats, sondern auch denen des Aufnahmemitgliedstaats dieser Arbeitnehmer unterliegen.

117

Was die Situation entsandter Arbeitnehmer angeht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass ihr Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat vorübergehend ist und sie sich nicht in dessen Arbeitsmarkt eingliedern, trifft es zu, dass diese Arbeitnehmer während eines bestimmten Zeitraums ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen ausüben, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.

118

Aus diesem Grund durfte es der Unionsgesetzgeber für angemessen halten, dass die entsandten Arbeitnehmer während dieses Zeitraums gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der geänderten Richtlinie 96/71 die durch die zwingenden Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats festgelegte Entlohnung erhalten, um es ihnen zu ermöglichen, die Lebenshaltungskosten in diesem Mitgliedstaat zu decken, und nicht – entgegen dem Vorbringen der Republik Polen – eine Entlohnung, die es ihnen ermöglicht, die Lebenshaltungskosten im Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu decken.

119

Zum Dritten ist die Republik Polen der Ansicht, die Änderungen durch die angefochtene Richtlinie seien weder durch zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses gerechtfertigt noch verhältnismäßig, während die Ziele des Arbeitnehmerschutzes und der Verhinderung unfairen Wettbewerbs in der Richtlinie 96/71 berücksichtigt worden seien.

120

Dieses Vorbringen beruht auf dem Gedanken, dass der Unionsgesetzgeber mittels der angefochtenen Richtlinie die Meinung vertrete, der Nutzen eines Wettbewerbsvorteils, der sich aus niedrigeren Arbeitskosten als den im Aufnahmemitgliedstaat geltenden ergebe, sei unfairer Wettbewerb.

121

Die angefochtene Richtlinie erweitert zwar den Bereich der Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen, die für die in einen anderen Mitgliedstaat als den, in dem sie gewöhnlich tätig sind, entsandten Arbeitnehmer gelten, doch bewirkt sie nicht, dass jeder auf den Kosten beruhende Wettbewerb verboten ist, insbesondere nicht der, der sich aus den im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie erwähnten Unterschieden in der Produktivität oder Effizienz dieser Arbeitnehmer ergibt.

122

Ferner wird in keiner Passage der angefochtenen Richtlinie der Wettbewerb, der auf solchen Unterschieden beruht, als „unfair“ eingestuft. Diese Richtlinie soll den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage wahren, indem sie den Schutz der entsandten Arbeitnehmer insbesondere dadurch sicherstellt, dass auf diese alle durch den Aufnahmemitgliedstaat zwingend vorgeschriebenen, die Entlohnung ausmachenden Bestandteile Anwendung finden.

123

Infolgedessen ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.

3) Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: in Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 eingeführte ungerechtfertigte und unverhältnismäßige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs

124

Erstens sieht Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 vor, dass der Dienstleistungserbringer, wenn der Arbeitnehmer mehr als zwölf Monate oder mehr als 18 Monate, sofern der Dienstleistungserbringer eine mit einer Begründung versehene Mitteilung in diesem Sinne vorlegt, in den Aufnahmemitgliedstaat entsendet wird, auf der Grundlage der Gleichbehandlung zusätzlich zu den Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gemäß Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sämtliche anwendbaren Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantiert, die in diesem Mitgliedstaat durch Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festgelegt sind. Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 verbleiben nur zum einen die Verfahren, Formalitäten und Bedingungen für den Abschluss und die Beendigung des Arbeitsvertrags, einschließlich der Wettbewerbsverbote, und zum anderen zusätzliche betriebliche Altersversorgungssysteme.

125

In Anbetracht des in den Rn. 95 und 96 des vorliegenden Urteils angeführten weiten Ermessens des Unionsgesetzgebers konnte dieser, ohne einen offensichtlichen Beurteilungsfehler zu begehen, jedoch annehmen, dass eine derart lange Entsendung zur Folge haben muss, dass die persönliche Situation der betroffenen entsandten Arbeitnehmer der Situation der von Unternehmen mit Sitz im Aufnahmemitgliedstaat beschäftigten Arbeitnehmer spürbar angenähert wird, und es rechtfertigt, dass diesen langfristig entsandten Arbeitnehmern fast alle der im Aufnahmemitgliedstaat geltenden Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen zugutekommen.

126

Was zweitens das Argument betrifft, Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 führe zu zusätzlichen finanziellen und administrativen Belastungen für den in einem anderen Mitgliedstaat als dem Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Dienstleistungserbringer, ergibt sich bereits aus Rn. 102 des vorliegenden Urteils, dass in Anbetracht des Wesens der geänderten Richtlinie 96/71, nämlich des eines Instruments zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen, diese bewirkt, dass die Dienstleistungserbringer, die Arbeitnehmer für länger als zwölf Monate in einen anderen Mitgliedstaat als den ihres Sitzes entsenden, nicht nur den Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats, sondern auch denen des Aufnahmemitgliedstaats dieser Arbeitnehmer unterliegen.

127

Wie in Rn. 103 des vorliegenden Urteils in der Antwort auf den ersten Teil des ersten Klagegrundes ausgeführt worden ist, ergeben sich die zusätzlichen administrativen und wirtschaftlichen Belastungen, die daraus für diese Dienstleister resultieren können, aus den mit der Änderung der Richtlinie 96/71 verfolgten Zielen. Als Instrument zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen führte diese Richtlinie im Übrigen bereits vor dieser Änderung dazu, dass die die Arbeitnehmer entsendenden Dienstleistungserbringer gleichzeitig den Regelungen ihres Herkunftsmitgliedstaats und des Aufnahmemitgliedstaats unterlagen.

128

Drittens ist zu dem Vorbringen, der Grundsatz der Rechtssicherheit sei angesichts der Mehrdeutigkeit aufgrund der fehlenden Aufzählung der nach Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 anwendbaren Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats verletzt worden, festzustellen, dass diese Bestimmung nicht mehrdeutig ist, da sie vorschreibt, dass alle Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen des Aufnahmemitgliedstaats – mit Ausnahme der ausdrücklich genannten – anzuwenden sind, wenn ein Arbeitnehmer mehr als zwölf Monate entsendet wird.

129

Außerdem sieht Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 der geänderten Richtlinie 96/71 vor, dass die Mitgliedstaaten auf der einzigen offiziellen nationalen Website nach Art. 5 der Richtlinie 2014/67 gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten Informationen über die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen, einschließlich aller Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen gemäß Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 veröffentlichen.

130

Viertens beruft sich die Republik Polen auf Art. 9 der Rom‑I-Verordnung und ist der Ansicht, dass die angefochtene Richtlinie keine lex specialis im Sinne von Art. 23 dieser Verordnung sei.

131

Zu diesem letzten Punkt ist festzustellen, dass Art. 8 der Rom‑I-Verordnung in seinem Abs. 1 eine allgemeine Kollisionsregel für Arbeitsverträge aufstellt, die sich auf das von den Parteien eines solchen Vertrags gewählte Recht beruft, und in seinem Abs. 2 vorsieht, dass in Ermangelung einer solchen Rechtswahl der Arbeitsvertrag dem Recht des Staates unterliegt, in dem oder andernfalls von dem aus der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrags gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, wobei dieser Staat nicht wechselt, wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit vorübergehend in einem anderen Staat verrichtet.

132

Allerdings sieht die Rom‑I-Verordnung in ihrem Art. 23 vor, dass von ihren Kollisionsnormen abgewichen werden kann, wenn unionsrechtliche Bestimmungen Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse in besonderen Bereichen enthalten, während es im 40. Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt, dass die Verordnung die Möglichkeit der Aufnahme von Kollisionsnormen für vertragliche Schuldverhältnisse in Vorschriften des Unionsrechts über besondere Gegenstände nicht ausschließen sollte.

133

Nach ihrer Natur und ihrem Inhalt stellen aber sowohl Art. 3 Abs. 1 der geänderten Richtlinie 96/71 in Bezug auf entsandte Arbeitnehmer als auch Art. 3 Abs. 1a dieser Richtlinie in Bezug auf Arbeitnehmer, die länger als – im Allgemeinen – zwölf Monate entsandt werden, spezielle Kollisionsnormen im Sinne von Art. 23 der Rom‑I-Verordnung dar.

134

Darüber hinaus zeigt der Entstehungsprozess der Rom‑I-Verordnung, dass ihr Art. 23 die spezielle, bereits in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 vorgesehene, Kollisionsnorm umfasst, da die Kommission im Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (KOM[2005] 650 endgültig) vom 15. Dezember 2005 ein Verzeichnis der durch andere Vorschriften des Unionsrechts aufgestellten speziellen Kollisionsnormen beigefügt hatte, zu denen diese Richtlinie gehörte.

135

Wenn schließlich die Republik Polen der Auffassung ist, dass Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 gegen Art. 9 der Rom‑I-Verordnung verstoße, genügt die Feststellung, dass sich dieser Artikel, der eng auszulegen ist, auf die „Eingriffsnormen“ der Mitgliedstaaten bezieht, d. h. auf eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses angesehen wird (Urteil vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 41 und 44). Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten geht jedoch nicht hervor, dass Art. 3 Abs. 1a der geänderten Richtlinie 96/71 gegen solche Eingriffsnormen verstößt.

136

Fünftens rügt die Republik Polen den in Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 4 der geänderten Richtlinie 96/71 vorgesehenen Mechanismus, nach dem dann, wenn ein Unternehmen einen entsandten Arbeitnehmer durch einen anderen entsandten Arbeitnehmer ersetzt, der die gleiche Tätigkeit am gleichen Ort ausführt, als Entsendungsdauer für die Zwecke des Abs. 1a die Gesamtdauer der Entsendezeiten der betreffenden einzelnen entsandten Arbeitnehmer gilt. Sie wendet sich auch dagegen, dass diese Bestimmung keine zeitliche Begrenzung für die Zusammenrechnung der Entsendezeiten festlegt.

137

Mit der Einführung des in Art. 3 Abs. 1a Unterabs. 4 der geänderten Richtlinie 96/71 vorgesehenen Mechanismus hat der Unionsgesetzgeber von dem weiten Ermessen Gebrauch gemacht, über das er verfügte, um zu gewährleisten, dass – wie das Parlament und der Rat erläutert haben und wie sich aus dem elften Erwägungsgrund der angefochtenen Richtlinie ergibt – die eingeführte Regelung von den Wirtschaftsteilnehmern nicht umgangen wird, wenn die Arbeitnehmer für mehr als zwölf Monate entsandt werden.

138

In Anbetracht der Bedeutung dieser Bestimmung kann der Umstand, dass bei der Zusammenrechnung der von verschiedenen Arbeitnehmern wahrgenommenen Entsendezeiten der Arbeitsplatz und nicht die Situation dieser Arbeitnehmer berücksichtigt wird, keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit dieser Bestimmung haben, da die Republik Polen insoweit nicht dargelegt hat, welche Bestimmung des AEU-Vertrags oder welcher allgemeine Grundsatz des Unionsrechts damit verletzt wäre. Darüber hinaus verstößt das Fehlen einer zeitlichen Begrenzung für die Zusammenrechnung der Entsendezeiten nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, da diese Bestimmung das von ihr aufgestellte Verbot klar und eindeutig niederlegt.

139

Infolgedessen ist auch der zweite Teil des ersten Klagegrundes und damit dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.

3.   Zum dritten Klagegrund: zu Unrecht erfolgte Einbeziehung des Straßenverkehrssektors in den Anwendungsbereich der angefochtenen Richtlinie

a)   Vorbringen der Parteien

140

Die Republik Polen trägt vor, die angefochtene Richtlinie gelte zu Unrecht im Straßenverkehrssektor, während nach Art. 58 AEUV für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs die Bestimmungen des Titels des AEU-Vertrags über den Verkehr gälten, so dass Art. 56 AEUV auf sie nicht anwendbar sei.

141

Sie beruft sich auf die Auslegung der Kommission, nach der sich aus dem Wortlaut des Richtlinienvorschlags, der zur Richtlinie 96/71 geführt habe, ergebe, dass der Bereich des Verkehrs vom Anwendungsbereich der für die Entsendung von Arbeitnehmern geltenden Vorschriften ausgenommen sei.

142

Das Parlament und der Rat, die durch die Bundesrepublik Deutschland, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden und die Kommission unterstützt werden, treten dem Vorbringen der Republik Polen entgegen.

b)   Würdigung durch den Gerichtshof

143

Die Republik Polen ist der Ansicht, dass Art. 3 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie dadurch gegen Art. 58 AEUV verstoße, dass er die geänderte Richtlinie 96/71 ab dem Erlass eines spezifischen Gesetzgebungsakts für auf den Straßenverkehrssektor anwendbar erkläre.

144

Nach Art. 58 AEUV gelten für den freien Dienstleistungsverkehr auf dem Gebiet des Verkehrs die Bestimmungen des Titels des AEU-Vertrags über den Verkehr, also die Art. 90 bis 100 AEUV.

145

Daraus folgt, dass eine Verkehrsdienstleistung im Sinne von Art. 58 Abs. 1 AEUV vom Anwendungsbereich des Art. 56 AEUV ausgeschlossen ist (Urteil vom 20. Dezember 2017, Asociación Profesional Elite Taxi, C‑434/15, EU:C:2017:981, Rn. 48).

146

Art. 3 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie sieht jedoch lediglich vor, dass diese für den Straßenverkehrssektor ab dem Geltungsbeginn eines Gesetzgebungsakts zur Änderung der Richtlinie 2006/22 gilt, deren Rechtsgrundlage Art. 71 Abs. 1 EG war, der zu den Bestimmungen des Titels des EG-Vertrags über den Verkehr gehörte und Art. 91 AEUV entspricht.

147

Daher bezweckt Art. 3 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie nicht die Regelung des freien Dienstleistungsverkehrs im Bereich des Verkehrs und kann daher nicht gegen Art. 58 AEUV verstoßen.

148

Infolgedessen ist der dritte Klagegrund und damit auch der Hilfsantrag zurückzuweisen.

Kosten

149

Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament und der Rat beantragt haben, die Republik Polen zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr die Kosten aufzuerlegen.

150

Gemäß Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden und die Kommission als Streithelfer ihre eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Die Republik Polen trägt neben ihren eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union.

 

3.

Die Bundesrepublik Deutschland, die Französische Republik, das Königreich der Niederlande, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.