Nach der Auflösung der Monarchie stand die Politik vor der Aufgabe, das Vertrauen der Bevölkerung in die neuen Staatsorgane zu festigen. Die Voraussetzungen dafür waren schwierig: Die Lebensbedingungen hatten sich nach dem Waffenstillstand nicht verbessert. Abgeschnitten von den ehemaligen Versorgungsgebieten fehlte es dem neuen Staat an Nahrungsmitteln und Kohle.
Funktionierendes Parlament
Die ersten Jahre des Parlaments nach dem Ersten Weltkrieg standen im Zeichen von Kompromisslösungen, um dem jungen Staat Ordnung zu geben und die Demokratie zu festigen.
Angst vor Unregierbarkeit als gemeinsamer Nenner
Die Arbeitslosigkeit nach dem Krieg war hoch, die Hoffnung in der Bevölkerung gering. Weder für die von der Front zurückströmenden Soldaten noch für die Beschäftigten der zahlreichen, wegen Kohle- und Rohstoffmangels stillstehenden Betriebe gab es Arbeit.
Angesichts der herrschenden Not war die Stimmung in den Ballungszentren verzweifelt und gedrückt. Die Sorge der politischen Parteien war groß, dass radikalisierte, von der "Romantik der Revolution" erfüllte Soldaten, Arbeiter:innen und Intellektuelle an Einfluss gewinnen und den Aufbau eines demokratisch parlamentarischen Systems gefährden könnten.
Aus Angst vor einem kommunistischen Putsch und der Unregierbarkeit des neuen Staates stieg die Kompromissbereitschaft der Parlamentsparteien. In der Provisorischen Nationalversammlung, deren Zusammensetzung noch auf den Reichsratswahlen von 1911 beruhte, stellten die Deutschnationalen die stärkste Fraktion. Dahinter folgten die Christlichsozialen. Politisch dominierende Kraft waren aber die Sozialdemokraten, denn nur ihnen wurde die Befriedung der radikalisierten Massen zugetraut.
Trotz gegensätzlicher ideologischer Auffassungen konnten sie sich in vielen Belangen einigen. Besonders im Sozialbereich setzten sie ein beeindruckendes Reformwerk um: Achtstundentag, Urlaub, Arbeitslosenversicherung, Kollektivvertrag, Betriebsräte und zahlreiche andere Regelungen setzten neue Maßstäbe.
In einer Ansprache 1931 erinnert Karl Renner an die Staatsgründung und die schwierige Aufgabe der Koalitionsregierung.
Neues Wahlrecht
Zu den wichtigsten Aufgaben der Provisorischen Nationalversammlung zählte die Schaffung der gesetzlichen Voraussetzungen für die Abhaltung von Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung.
Die Einführung des allgemeinen Wahlrechts "ohne Unterschied des Geschlechts" nach dem Prinzip der Verhältniswahl hatte das Parlament bereits mit dem Gesetz über die Staats- und Regierungsform vom 12. November 1918 beschlossen. Binnen weniger Wochen einigten sich die Parteien in der Folge auch auf eine Wahlordnung für die Konstituierende Nationalversammlung.
In der Frage des Wahlsystems herrschte weitgehender Konsens: Alle im Parlament vertretenen Parteien hielten die Verhältniswahl für die beste Methode, ihr politisches Bestehen im Falle einer Minderheitsposition zu sichern.
Kontroversen gab es hinsichtlich der Ausgestaltung, v. a. der Einteilung der Wahlkreise und der Erstellung der Wahllisten. Sozialdemokraten und Christlichsoziale setzten sich mit der Festlegung auf gebundene, von den Parteien erstellte Listen durch. Die Deutschnationalen kritisierten diese als Begünstigung des "Parteibonzentums" und Benachteiligung kleiner Parteien. Debatten gab es auch bezüglich des Wahlalters: Für das aktive Wahlrecht wurde es mit 20 Jahren, für die Wählbarkeit mit 29 Jahren festgelegt.
Frauenwahlrecht wird eingeführt
Mit der Wahlreform erhielten Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Die Entscheidung der Abgeordneten war nicht selbstverständlich, denn sowohl bei den bürgerlichen Parteien als auch in der sozialdemokratischen Partei gab es Vorbehalte gegen die Beteiligung von Frauen am politischen Leben.
Die Sozialdemokraten befürchteten, dass Frauen vor allem konservativ wählen würden, die Christlichsozialen, dass ihre potentiellen Wählerinnen nicht zur Wahl gehen könnten. Sie bestanden deshalb, zum Missfallen der Sozialdemokraten, auf der Einführung der Wahlpflicht als "wichtiges Erziehungsmittel vor allem für die Frauen". Die Wahlpflicht wurde als landesgesetzlich festzulegende Regelung in das Bundesgesetz aufgenommen.
Die Deutschnationalen äußerten in der Debatte zur neuen Wahlordnung Bedenken, dass man mit dem Wahlgesetz "die Frauen in die politische Arena hineinziehen will". Auch sie misstrauten den abschätzig als "Wahlweibern" bezeichneten künftigen Wählerinnen.
Die Wahl zur Konstituierenden Nationalversammlung
Die Wahl am 16. Februar 1919 fand nur in 25 der vorgesehenen 38 Wahlkreise statt. In den böhmischen, mährischen und schlesischen Wahlkreisen wurde sie gar nicht abgehalten, in einigen anderen wegen ungeklärter Gebietsansprüche nur teilweise. Die Wahlbeteiligung der Frauen war etwas niedriger als die der Männer, lag aber mit mehr als 82 % sehr hoch.
Das Wahlergebnis veränderte die Kräfteverhältnisse zugunsten der Sozialdemokrat:innen, die als stärkste Partei mit 72 Abgeordneten ins Parlament einzogen. Knapp dahinter lagen die Christlichsozialen mit 69 Sitzen. Das Wahlbündnis der Deutschnationalen erhielt nach großen Verlusten 27 Sitze. Zwei Mandatare gehörten kleinen Parteien an.
Die ersten weiblichen Abgeordneten
Insgesamt erhielten 1919 acht Frauen ein Mandat in der Konstituierenden Nationalversammlung. 162 Mandate gingen an männliche Abgeordnete. Der Einsatz für gleiche Rechte und der Kampf um soziale Gerechtigkeit prägten die parlamentarische Arbeit dieser Pionierinnen.
Die Sozialdemokrat:innen und Christlichsozialen bildeten eine Koalitionsregierung unter der Leitung von Staatskanzler Karl Renner.
Die Mitglieder der neuen Regierung wählte die Konstituierende Nationalversammlung in ihrer Sitzung am 15. März 1919.
Friedensverhandlungen von Saint-Germain-en-Laye
Parlament und Regierung arbeiteten an den verfassungsmäßigen Grundlagen des Staates, der Klärung der Staatsgrenzen und der Sicherung der inneren Stabilität.
Die Staatsgrenzen legte der im September 1919 geschlossene Staatsvertrag von Saint Germain fest, mit dem Österreich auch der Anschluss an das Deutsche Reich untersagt wurde.
Karl Renner, Leiter der österreichischen Delegation, fasst die Ergebnisse der Verhandlungen in einer Rede 1931 rückblickend zusammen: Er spricht von einem "harten Friedensdiktat".
Bedrängt von inneren Unruhen
Gewaltsame Unruhen prägten die ersten Monate der Tagung der Nationalversammlung. Die kommunistische Bewegung erhielt durch das Beispiel der Räterepubliken in Ungarn und Bayern starken Auftrieb. Mit den "Roten Garden" hatte sie Einfluss in der Volkswehr, dem provisorischen Heer des neuen Staates.
Dass die Gefahr eines Umsturzes bestand, zeigten zwei Gewaltausbrüche: einer am Gründonnerstag 1919 und, der folgenschwerere mit 26 Toten und mehr als hundert Verletzten, am 15. Juni 1919.
Mit dem Ende der Räteherrschaft in den Nachbarstaaten flauten die kommunistischen Aktivitäten in Österreich ab. Zur inneren Befriedung trug die Fortführung der Arbeits- und Sozialreformen bei, welche die Konstituierende Nationalversammlung vor allem im ersten Jahr beschäftigten.
Konstituierende Nationalversammlung erarbeitet Verfassung
Die Arbeiten an einer definitiven Verfassung dauerten bis Herbst 1920. Zwei konkurrierende Modelle standen zur Debatte: Die Sozialdemokrat:innen wollten dem Parlament eine politische Vorrangstellung einräumen und den Bund gegenüber den Ländern stärken, die Christlichsozialen plädierten für eine weitgehende Autonomie der Länder und größere Selbständigkeit der Regierung.
Als wichtiger Berater bei der Erarbeitung der Verfassung wirkte der Staatsrechtslehrer Hans Kelsen.
Nach langwierigen Verhandlungen, die auch im Rahmen von Länderkonferenzen geführt wurden, legte der Unterausschuss des Verfassungsausschusses den Verfassungstext vor. Den Unterausschuss geleitet hatten der Sozialdemokrat Otto Bauer und der Christlichsoziale Ignaz Seipel. Sie galten als die führenden Theoretiker ihrer Parteien.
Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes am 1. Oktober 1920
Der Beschluss des Bundes-Verfassungsgesetzes durch die Konstituierende Nationalversammlung geschah am 1. Oktober 1920. Er war einstimmig möglich, weil bestimmte Punkte wie die Finanzverfassung, Fragen der Organisation der Verwaltung in den Ländern und der Kompetenzen im Schul- und Erziehungswesen ausgeklammert worden waren. Diese Bereiche wurden im Rahmen der Verfassungsnovelle 1925 geregelt.
In der Frage der Grundrechte behalf man sich mit der Übernahme der Bestimmungen über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger:innen aus dem Staatsgrundgesetz von 1867.
Die Verfassung von 1920 begründete den österreichischen Staat als eine bundesstaatliche Republik mit einem stark parlamentarisch geprägten System.
Auf Bundesebene wurden zwei Kammern eingerichtet: der direkt vom Volk gewählte Nationalrat und der von den Landtagen beschickte Bundesrat als Vertretung der Länder. Der Nationalrat wählte die Bundesregierung, die von dessen Vertrauen abhängig war.
Vom Parlament abhängig war auch der Bundespräsident, dessen Amtsperiode vier Jahre dauerte. Er wurde von der aus Nationalrat und Bundesrat bestehenden Bundesversammlung gewählt. Bei der Wahl des neuen Staatsoberhaupts am 9. Dezember 1920 fand sich erst im fünften Wahlgang eine Mehrheit für einen Kompromisskandidaten, den parteilosen Juristen Michael Hainisch.