Parlamentskorrespondenz Nr. 132 vom 03.03.1997

AUFBRUCH IN DEN UNTERGANG

Fischer präsentiert Forschungen über Österreicher in der UdSSR

Wien (PK) - Fast 7.000 Österreicher glaubten in den Jahren nach 1925 in der Sowjetunion, von der zumindest die Kommunisten behaupteten, sie sei das "Vaterland aller Werktätigen", eine neue Heimat und somit eine neue Zukunft zu finden. Für das Gros dieser Emigranten allerdings endete der Aufbruch in ein besseres Leben mit Verfolgung, Verhaftung und Tod.

Nach dem Ende der UdSSR 1991 wurden der zeitgeschichtlichen Forschung die Arbeit von den amtlichen Stellen in Moskau massgeblich erleichtert, und so machten sich auch österreichische Historiker daran, das Schicksal jener Österreicher zu durchleuchten, die aus verschiedensten Gründen nach Sowjetrussland ausgewandert waren. Nationalratspräsident Dr. Heinz FISCHER, der seinerzeit durch Empfehlungsschreiben die Kontakte zu Moskauer Archiven wesentlich erleichtert hatte, stellte heute die Ergebnisse dieser mehrjährigen Untersuchungen vor und präsentierte im Beisein von Klubobfrau Dr. Heide SCHMIDT und Bundesminister a.D. Dr. Kurt STEYRER das Buch "Aufbruch - Hoffnung - Endstation" von Dr. Finbarr McLOUGHLIN, Dr. Hans SCHAFRANEK und Dr. Walter SZEVERA.

Fischer meinte in seiner Rede, das Nachzeichnen des Schicksals österreichischer Landsleute, die in die Mühlen der "Säuberung" kamen, wäre an sich schon verdienstvoll, gleichwohl aber gehe es um mehr: um die Analyse einer Diktatur. Arthur Köstler lasse in seinem Roman "Sonnenfinsternis", das immer zu seinen, Fischers, Lieblingsbüchern gezählt habe, seinen Protagonisten Anatoli Rubaschow sagen: "Unsere Ziele sind alle richtig, unsere Resultate sind alle falsch." Dies sei nicht weiter verwunderlich, habe man sich in der Sowjetunion doch auf das Totalitäre eingelassen.

Das Ausmass dessen, was sich während der "Säuberung" in der UdSSR ereignet hat, ist unglaublich, sagte Fischer und wies darauf hin, dass etwa von jenen sieben Bolschewiki, welche das Leninsche Politbüro gebildet hatten, nur Stalin die "Tschistka" überlebte. Von den 19 Mitgliedern des Politbüros 1934 waren 1938 nur noch sieben am Leben, vom 139köpfigen ZK des Jahres 1934 erlebten nur 41 das Jahr 1941. Ähnliches lasse sich von den Parteitagsdelegierten und von den Funktionären der lokalen Ebenen feststellen.

In diesem Jahrhundert habe es zwei grosse, auf bestimmte Menschen faszinierende, Diktaturen gegeben, die Hitlers und die Stalins, und es stelle sich gar nicht die Frage, welche furchtbarer war, mache es doch keinen Sinn, zu multiplizieren oder zu dividieren, wenn es um Menschenrechte geht. Schon bisher habe es viele Zeugnisse und Biographien über jene Zeit gegeben, doch könnten diese eine sorgsame wissenschaftliche Darstellung nicht ersetzen. Den Autoren gebühre für ihre Arbeit dementsprechend Dank und Anerkennung.

Für die Autoren stellte McLoughlin die euphorischen Einschätzungen des Jahres 1920 jenen ernüchternden Befunden des Jahres 1949 gegenüber, welche gleichsam auch die siebenjährige Forschungsarbeit resümierten. Im Gegensatz zu den NS-Herrschern scheine aber der Stalinsche Staatsterrorismus in seiner Rationalität nur zum Teil nachvollziehbar. Ein Gutteil der Verhafteten sei aufgrund festgelegter "Quoten" der Freiheit beraubt worden. Aber auch persönliche Motive spielten dabei eine Rolle. Das Fehlen eines demokratischen Rechtssystems und einer zivilen Gesellschaft in Russland habe ein Übriges getan und es den Regierenden erleichtert, "in regelmässigen Zeitabständen einen Verhaftungsorkan nach dem anderen über das weite Land brausen zu lassen".

Nicht umsonst habe Stalin, der in der Tradition altrussischer Despoten agierte, Iwan Grozny als sein Vorbild betrachtet und dessen Rehabilitierung in Büchern und Filmen betrieben. Aufallend sei aber auch die Tatsache, dass das Regime seine Terrorwellen stets dann in Gang setzte, wenn es sich besonders sicher fühlte, um sie in Zeiten von Gefahr abzuschwächen. Die Verfolgung österreichischer Bürger in der Sowjetunion müsse im Gesamtkontext der "grossen Tschistka" gesehen werden, erklärte McLoughlin, der auf die Vernichtung deutscher, polnischer, lettischer und finnischer Emigranten hinwies und auch Dokumente zitierte, wonach der NKWD die Erschiessung aller invaliden Häftlinge forderte, um so Platz für neue Opfer zu schaffen.

McLoughlin kam schliesslich auf die Motivation der Autoren zu dieser Arbeit zu sprechen und schilderte den Weg von den ersten Recherchen bis zur Drucklegung dieses Buches, das wohl eine Zäsur, gleichwohl aber nicht das Ende dieser Forschungen bedeute. Vielmehr seien auf Basis der bisherigen Erkenntnisse noch viele Fragen einer Klärung zuzuführen, viele Spezialthemata eingehender zu behandeln, wozu hoffentlich auch im postjelzinistischen Russland noch Gelegenheit bestehen werde.

EINÄUGIGE AVANTGARDISTEN

"Aufbruch - Hoffnung - Endstation" gliedert sich in mehrere Abschnitte. Zunächst befasst sich Schafranek mit der "Avantgarde der Einäugigen", den österreichischen "Arbeiterdelegationen", die zwischen 1925 und 1930 die Sowjetunion besuchten. Der sowjetische Staat trachtete schon bald nach dem Ende des Bürgerkrieges und der Konsolidierung der bolschewistischen Macht danach, ausländische Besucher als "Augenzeugen des erfolgreichen Aufbaus" zu missbrauchen. Neben prominenten Schriftstellern - von Lion Feuchtwanger bis Liam O´Flaherty -, die, wieder zuhause, freilich nicht immer das gewünschte Zeugnis ablegten, legte man seitens der Partei- und Staatsführung besonderen Wert auf "Proletarier", die in ihrer Heimat von den paradiesischen Bedingungen künden sollten, unter denen die russischen "Klassengenossen" leben durften. Doch die Fassade war schon Mitte der 20er Jahre mehr als brüchig: Wer Augen hatte, zu sehen, dem stachen Mangel, Misswirtschaft und polizeiliche Überwachung der Arbeiterklasse nur allzu deutlich ins Auge, was selbst eingefleischte KPÖ-Mitglieder verwirrte. Nicht minder irritierend der kaum verhüllte Machtkampf in der KP-Spitze, wurde doch der Revolutions-Heros Leo Trotzki zunehmend zur Unperson. Ab Anfang der 30er Jahre unterblieben jedenfalls weitere Delegationen, weil es immer schwieriger wurde, ein Bild von der Sowjetunion zu evozieren, dass die Realität glaubwürdig zu übertünchen vermocht hätte.

UNSICHERE KANTONISTEN

Szevera geht in der Folge auf die rund 5.000 Facharbeiter ein, die, teils getragen von dem Willen, beim "Aufbau des Sozialismus" mitzuhelfen, teils aber auch aus finanziellen Erwägungen - beziehungsweise auf der Flucht vor der in Österreich herrschenden Arbeitslosigkeit - in die Sowjetunion emigrierten. Diese wurden zunächst als wertvolle und qualifizierte Arbeitskräfte durchaus geschätzt und einer privilegierten Behandlung teilhaftig. Ihre Verbesserungsvorschläge zur Rationalisierung und Effektivierung der Produktion stiessen jedoch zunehmend auf Ablehnung und, daraus folgend, auf Misstrauen. Zudem waren viele Spezialisten an den marxistisch-leninistischen Kaderschulungen nur mässig interessiert, was sie zusätzlich als unsichere Kantonisten brandmarkte. Nicht wenige wurden alsbald der Diversion oder gar der Sabotage beschuldigt, dies vor allem in den ab Beginn der 30er Jahre beginnenden Kampagnen gegen parteilose "Spezialisten". Und doch kamen die Facharbeiter in dieser Phase grossteils noch glimpflich davon. Ein nicht unbeträchtlicher Teil wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen und fand, da politisch nicht stigmatisiert, in Österreich Aufnahme.

AUSLÄNDISCHE SPIONE

Schon anders erging es jenen 750 Schutzbündlern, die nach dem Februar 1934 via Tschechoslowakei in die Sowjetunion reisten. Zwar konnten auch aus diesem Kontingent noch rund 200, vor allem in der Zeit vor 1936, nach Österreich zurückkehren - während rund 160 als Freiwillige an die Seite der spanischen Republik eilten -, doch von den verbliebenen 370 fielen mehr als 200 dem stalinistischen Terror zum Opfer, nicht selten unter der Anklage, sie seien ausländische Spione. Ausführlich zeichnet McLoughlin das Schicksal dieser Personengruppe auf und weist dabei nach, wie der Terrorapparat des NKWD (der Vorläuferorganisation des KGB) auch in den Reihen ausländischer Emigranten wütete. Unter fadenscheinigsten Beschuldigungen wurden wahllos Leute verhaftet, in Scheingerichtsverhandlungen, die oft nicht einmal eine Stunde dauerten, zum Tod verurteilt und zumeist schon unmittelbar danach erschossen. Selbst wenn das Urteil auf Lagerhaft oder Zwangsarbeit lautete, waren die Betroffenen noch nicht ihres Lebens sicher. Viele starben als Folge von Unterernährung, Mangelerkrankungen und zahlreichen Schikanen, manchen wurde erneut der Prozess gemacht, wobei die Strafe in ein Todesurteil umgewandelt wurde. Auch nachdem die Deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfallen hatte, gingen die Verhaftungen weiter. So bezichtigte der NKWD zwölf Schutzbündler der konterrevolutionären Tätigkeit. Alle zwölf landeten in einem GULag, nur ein einziger überlebte die dortigen Torturen und konnte 1954 nach Österreich zurückkehren.

GESTÜRZTE VORBILDER

Nicht einmal alte KP-Kader waren vor Verfolgung und "Repression" sicher. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang war das Schicksal von Franz Koritschoner, Mitbegründer und 1918 bis 1924 führender Funktionär der KPÖ. Koritschoner war mit Lenin persönlich bekannt und galt in der Komintern noch Anfang der 20er Jahre als vorbildlicher Kader, der auf Kongressen mit Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht verglichen wurde. Doch gerade dieser Ruhm sollte ihm zum Verhängnis werden. In den 30er Jahren immer öfter drangsaliert, wurde er schliesslich 1936 verhaftet und zu einer langen Lagerstrafe verhaftet. Kein Politbüro-Mitglied der KPÖ sah sich veranlasst, für Koritschoner einzutreten, für ihn zu intervenieren. Während der Periode des "Hitler-Stalin-Paktes" (1939-1941) lieferte die Sowjetunion, wissend, was dies für Koritschoner bedeuten musste, das Vorbild von einst an die Gestapo aus. 1941 starb Koritschoner in einem deutschen KZ.

BILANZ DES TERRORS

Lange Jahre ging vor allem die westeuropäische Forschung von etwa sieben Millionen Menschen aus, die zwischen 1936 und 1938 der sogenannten "Tschistka" (Säuberung) verhaftet wurden. Rund eine Million wurde von den Einheiten des NKWD erschossen. Diese Zahl nahm auch der sowjetische Historiker Roy Medwedew noch 1991 an, während der ehemalige General und Parlamentsabgeordnete Dmitri Wolkogonow von etwa vier Millionen Verhafteten und etwa 850.000 Erschossenen ausging. McLoughlin weist in seinem Beitrag allerdings auf jene von O.G. Schatunowskaja geleitete Kommission hin, die 1960 vom damaligen Parteichef Nikita S. Chruschtschow eingesetzt worden war. Schatunowskaja konnte sich dabei auf Dokumente stützen, die, nicht zuletzt ob ihres Abschlussberichts, "in Verstoss" gerieten, sodass sie Wolkogonow und Medwedew nicht mehr vorlagen. Schatunowskaja kam dabei auf die unglaubliche Zahl von 19,8 Millionen Verhafteten zwischen 1935 und 1941, wovon nicht weniger als 7 Millionen in der Folge vor den Erschiessungspelotonen endeten. Angesichts eines solchen Ergebnisses kann es nicht verwundern, dass Chruschtschow den Schatunowskaja-Bericht zur Verschlusssache erklärte, und Schatunowskaja wenig später ihrer Ämter enthoben wurde. Vor dem Hintergrund solcher Zahlen erweist sich das Schicksal der Österreicher als Mosaikstein in einem Puzzle des Horrors.

DIE AUTOREN

Der 1949 in der Republik Irland geborene Finbarr McLoughlin ist promovierter Historiker und publizierte zahlreiche Bücher zur österreichischen und zur irischen Geschichte. Einen besonderen Forschungsschwerpunkt in seiner Arbeit nimmt der Republikanische Schutzbund und die Emigration in die Sowjetunion ein. Hans Schafranek, geboren 1952 in Schärding, studierte ebenfalls Geschichte und legte eine Vielzahl von Veröffentlichungen zur Entwicklung des Stalinismus, aber auch zur Historie des Trotzkismus und seiner Vertreter vor. Walter Szevera schliesslich, 1965 in Wien geboren und ebenfalls Historiker, befasst sich schwerpunktmässig mit der österreichischen Arbeiterbewegung und dem Themenfeld Nationalismus.

Das Buch "Aufbruch - Hoffnung - Endstation" umfasst 717 Seiten, ist im "Verlag für Gesellschaftskritik" erschienen und im Buchhandel um 598 Schilling erhältlich. (Schluss)