Nationalrat, XX.GP Stenographisches Protokoll 62. Sitzung / Seite 54

Home Seite 1 Vorherige Seite Nächste Seite

wurden, täuschen und umschmeicheln lassen, von den Schalmeientönen wie etwa: Wenn das Wachstum kommt, dann kommt auch die Beschäftigung!?

Ein französischer Soziologe und Vordenker, Pierre Bourdieu, hat versucht, diese Haltung, die bezüglich des Binnenmarktes, des ungezügelten Wachstums und der Freiheiten eines grenzenlosen Marktes in Europa besteht, in einem "Spiegel"-Interview in wenigen Worten zu charakterisieren. Ich lese vor:

"Es gibt gegenwärtig so etwas wie eine kollektive Blindheit. Alles, was die Währung, die Weltbank, den Internationalen Währungsfonds oder die Deutsche Bundesbank umgibt, ist zu einem fast schon religiösen Phänomen geworden. Die Losungen, die so frenetisch ausgegeben werden – Globalisierung, Flexibilität: Man weiß doch gar nicht, was das bedeutet; es sind nur vage, unscharfe Begriffe im Umlauf wie bei einem religiösen Bekenntnis. Der Neoliberalismus, der Glaube an den freien Markt und seine Kräfte, ist heute das, was im Mittelalter für die Theologen die ,communis doctorum opinio’ war, die gemeinsame Überzeugung der Gelehrten, ein Lehrgebäude." – Meine Damen und Herren! Manchmal ist es auch ein Leergebäude mit Doppel-e.

Das Problem, das wir heute in Europa haben, ist, daß Ihnen nicht nur die Überzeugung abhanden gekommen ist – sonst hätten Sie deutlicher die Meinung vertreten, daß mit diesen Wachstumsideologien in Europa Beschäftigung geschaffen werden könne –, sondern daß Sie auch wissen, daß im Zusammenhang mit Informationstechnologien Beschäftigungswachstum nur sehr bedingt schaffbar ist; Wachstum allein möglicherweise schon, aber die Informationstechnologien bringen nicht die Beschäftigtenzahlen, die Sie uns in der Vergangenheit immer wieder prophezeit haben, was Sie genauso gut wie wir wissen. Trotzdem versuchen Sie in dieser Debatte genauso wie in Österreich und in Europa noch immer, den Leuten vorzuspiegeln, daß darin eine Art Heilslehre zu finden sei, mit der man tatsächlich etwas bewegen könne.

Meine Damen und Herren! Diese Heilslehre gibt es nicht. Wer auch immer sie verspricht: Es gibt sie nicht! Es ist weder der freie Markt, es sind weder die Informationstechnologien, es ist weder ein Beschäftigungsprogramm für sich, noch sind es andere einzelne, isolierte Maßnahmen.

Meine Damen und Herren! Es stellt sich die Frage, welchen Weg wir in Europa und in Österreich gehen. Wir müssen zweifellos anders diskutieren als früher, als wir isoliert diskutierten, nämlich dahin gehend, was uns in Österreich weiterhelfen könnte. Wir sind jetzt ein Teil Europas, ob wir es wollten oder nicht, ob wir den Zeitpunkt und die Perspektiven für richtig gehalten haben oder nicht, und wir können uns vor der Verantwortung nicht drücken, weshalb wir auch von Ihnen Verantwortung einfordern, Verantwortung, die Sie abzugeben versuchen und aus der Sie sich davonstehlen wollen. (Beifall bei den Grünen.)

Meine Damen und Herren! Es ist ein Hohn, daß es einerseits durch die liberalisierten Kapital- und Finanzmärkte möglich ist, Milliarden zu transferieren, um sie steuerschonendst am günstigsten Ort anzulegen, und andererseits in Österreich das Sparbuch des kleinen Sparers mit 25 Prozent Kapital ertragsteuer belastet ist. Man betrachtet das als Hohn, wenn man weiß, was über Stiftungen tatsächlich transferiert wird, um auf diese Art die Kapitalertragsteuer nicht zahlen zu müssen. – Und das ist das Problem, mit dem wir uns auch in bezug auf die Beschäftigung in diesem Land auseinanderzusetzen haben.

Wenn dann Kollege Rudas, der neue Bundesgeschäftsführer der SPÖ, sagt: Wir müssen lernen, bestimmte wirtschaftsfreundliche Maßnahmen zu setzen und die Auswirkungen so gering wie möglich zu halten!, muß ich sagen: Vom Bundesgeschäftsführer der SPÖ möchte ich schon etwas Deutlicheres hören, nämlich was er damit meint: die Fortsetzung dieser Politik, die in bezug auf die Beschäftigung überhaupt nichts gebracht hat, die dazu geführt hat, daß die Verteilungssituation in Europa noch ungerechter ist, daß die Freiheit des Marktes tatsächlich nicht für alle die gleiche Freiheit bietet?

Ein französischer Soziologe, nicht Bourdieu, hat gesagt: Die Freiheit des Marktes ist vergleichbar mit der Freiheit des Fuchses in einem Hühnerstall, wo er es nur mit freien Hühnern zu tun hat. – Das heißt sehr deutlich, daß es unterschiedliche Interessen gibt, die Sie, meine Damen


Home Seite 1 Vorherige Seite Nächste Seite