Parlamentskorrespondenz Nr. 376 vom 24.05.2002

VOLLLIBERALISIERUNG DES GASMARKTS SOLL KUNDEN 180 MILL. ��� BRINGEN

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Wien (PK) - Am 10. August 2000 ist das Gaswirtschaftsgesetz (GWG) und damit auch der Stufenplan zur Liberalisierung des Gasmarktes in Kraft getreten, der den freien Netzzugang für alle Gaskunden ab 1. Oktober des heurigen Jahres vorsieht. Bisher erlaubte das GWG nur Großabnehmern mit einer Jahresmenge von mehr als 25 Mill. m3, Netzzugang und individuelle Verträge mit Lieferanten ihrer Wahl aushandeln. Diese Möglichkeit haben bislang nur 40 Gaskraftwerke und Industriebetriebe wahrgenommen, was EU-Experten in Österreich wie in anderen Ländern auf das Fehlen regulatorischer Instrumente zurückführen. Daher will die Regierung für den 1. Oktober 2002 die rechtlichen, technischen und organisatorischen Voraussetzungen zu einer reibungslosen Vollliberalisierung des Gasmarktes im Sinne des "geregelten" Netzzugangs aller Kunden schaffen. Dies ist der Inhalt einer Gaswirtschaftsgesetz-Novelle, zu der die Bundesregierung dem Nationalrat kürzlich einen umfangreichen Entwurf (1116 d.B.) vorgelegt hat. Dabei geht die Regierung von der Erwartung aus, dass die Gaspreise für alle Kunden, auch für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) und die privaten Haushalte, infolge des Wettbewerbs zwischen den Lieferanten um 10 bis 20 Prozent sinken werden und die Kaufkraft der österreichischen Volkswirtschaft um insgesamt 180 Mill. Euro steigen wird.

REGULIERTER STATT VERHANDELTER NETZZUGANG FÜR ALLE ENDVERBRAUCHER

Im Zentrum der geplanten Novelle steht ein neues technisch-organisatorisches Modell für den österreichischen Gasmarkt ab 1.10. 2002. Hatte sich Österreich beim Gaswirtschaftsgesetz 2000 noch für das Liberalisierungsmodell des "verhandelten" Netzzugangs entschieden, schlägt die Regierung nun den Übergang zum System des "regulierten" Netzzugangs vor. Sie folgt dabei der EU-Kommission, die eine Änderung der Energiebinnenmarktrichtlinie vorschlägt, um den marktorientierten Wettbewerb bei Erdgas effektiver durchzusetzen. Die geltende Richtlinie stellte den Mitgliedstaaten den "verhandelten" oder "regulierten" Netzzugang noch als theoretisch gleichwertige Modelle zur Auswahl. Praktisch hat sich der regulierte Netzzugang aber als effektiver erwiesen, weil unabhängige Regulierungsbehörden Tarife für Fernleitung und Verteilung des Erdgases vorweg festlegen, während die beim "verhandelten" Netzzugang vorgesehenen Aufsichtsbehörden oder die Gerichte nur im Nachhinein auf wettbewerbswidrige Situationen reagieren können, was für die KMU und privaten Haushalte vielfach bedeuten würde, ihr Recht auf Gleichbehandlung und Preisangemessenheit auf dem Gasmarkt erst in langwierigen und kostspieligen Prozessen durchsetzen zu müssen.

Da Österreich mit seinem Stichtag 1. Oktober 2002 einen wesentlich ehrgeizigeren Zeitplan für die volle Liberalisierung des Gasmarktes verfolgt als die EU - selbst der "beschleunigte" Kommissionsvorschlag nennt als Stichtag erst den 1. Jänner 2005 - kann die Bundesregierung die endgültige EU-Entscheidung über die Änderung der Energiemarktbinnenrichtlinie nicht abwarten. In Übereinstimmung mit dem Vorschlag der Kommission und mit dem Konzept der Regulierungsbehörden, das sich auf dem heimischen Strommarkt bereits bestens bewährt hat, soll der Wirtschaftsminister die oberste Aufsichtsbehörde mit Richtlinien- und Aufsichtsfunktion für den Gasmarkt werden. Operativ wird die bestehende Elektrizitäts-Control GmbH als "Energie-Control GmbH" tätig werden, ihre Überwachungs-, Aufsichts- und Regulierungsfunktion auf alle leitungsgebundenen Energien ausdehnen und als Regulator gegebenenfalls auch Anträge im Sinne des Kartellgesetzes stellen. Als unabhängige Kollegialbehörde mit richterlichem Einschlag wird - in Entsprechung zur Elektrizitäts-Control-Kommission - eine Erdgas-Control-Kommission bei der Energie-Control GmbH angesiedelt.

NETZTENTGELT UND "ALLGEMEINE BEDINGUNGEN"  

Die Höhe des von der Behörde zu genehmigenden Netzentgelts, das der Kunde für den Transport des Gases vom Lieferanten seiner Wahl bis in sein Haus oder in seinen Betrieb zahlen muss, wird nach einem punktorientierten Tarifmodell ("Briefmarkenmodell") ermittelt. Der Netztarif für Endverbraucher deckt auch die Benutzung aller vorgelagerten Netze ab. Das "Netznutzungsentgelt" ist eines von vier Komponenten des "Systemnutzungsentgelts", mit dem die Kunden dem Netzbetreiber die Kosten für Errichtung, Ausbau, Instandhaltung und Betrieb des Netzes sowie den Aufwand für Messungen u.a. vergüten werden.

Das Rechtsverhältnis zwischen den einzelnen Marktteilnehmern und den Netzbetreibern wird durch die von der Erdgas-Control-Kommission zu genehmigenden "Allgemeinen Bedingungen" nach den Grundsätzen der Wettbewerbsneutralität, Gleichbehandlung, Ausgewogenheit und Transparenz geregelt.

WIE WIRD DER LIBERALISIERTE GASMARKT FUNKTIONIEREN?

Damit ab 1.10.2002 alle Kunden (Endverbraucher, Erdgashändler und Erdgasunternehmen, die Erdgas kaufen) freien Zugang zum Gasnetz und zu den Lieferanten ihrer Wahl haben, müssen alle integrierten Unternehmen, die mehr als 50.000 Haushalte versorgen, ihren Netzbetrieb von Vertrieb und Speicherung trennen ("Unbundling"). Zweitens müssen völlig neue Systeme geschaffen werden, die dafür sorgen, das auch bei einer großen Zahl von Netzzugangsberechtigten mit kaum vorhersehbaren Verbrauchsprofilen Stabilität im Gasnetz herrscht. Für die Kunden wird bei ihren Anträgen auf Netzzugang der lokale Netzbetreuer als "One Stop Shop" fungieren. Laut Novellenentwurf wird er die Ansuchen auf Netzzugang entgegennehmen und an den Regelzonenführer weiterleiten.

DREI REGELZONEN

Das Leitungssystem wird in drei "Regelzonen" unterteilt. Die Regelzone Ost umfasst Wien, Niederösterreich, Burgenland, Steiermark, Kärnten, Oberösterreich und Salzburg. Die übrigen beiden Regelzonen sind durch die Bundesländer Tirol und Vorarlberg festgelegt. Für jede Regelzone wird ein Fernleitungsunternehmen bestimmt, das einen "Regelzonenführer" nominiert, der für Drucksteuerung, Systemdienstleistung und optimale Nutzung der Leitungskapazitäten sorgt.

BILANZGRUPPEN

Erzeuger, sonstige Gaslieferanten und Verbraucher werden nach dem Vorbild des liberalisierten Strommarktes zu "Bilanzgruppen" zusammengefasst, wobei jeweils die Zugehörigkeit des Lieferanten für die Zuordnung eines Verbrauchers oder Erzeugers zu einer bestimmten Bilanzgruppe den Ausschlag gibt. Ziel jeder Bilanzgruppe ist es, die bei Energiekunden unvermeidlichen Über- und Unterbezüge statistisch möglichst ausgleichen, um den Bedarf an Ausgleichsenergie zum Nutzen aller Kunden gering zu halten. Ein "Bilanzgruppenverantwortlicher" erstellt auf Grund des angemeldeten Bedarfs der gemessenen Kunden bzw. der für die Lastprofile der Kleinkunden relevanten Daten einen "Summenfahrplan" und leitet diesen an den Regelzonenführer weiter. Aufgrund aller Ein- und Verkaufsverträge sowie der Fahrpläne ("Sollwerte") und Lastprofile ("Istwerte") ermittelt die "Verrechnungsstelle" für jede Bilanzgruppe die Menge der gelieferten oder bezogenen Ausgleichsenergie.

DIE VERRECHNUNGSSTELLE

Die "Verrechnungsstelle für Transaktionen und Preisbildung für Ausgleichsenergie (Clearing and Settlement)" hat zwei Aufgaben: Erstens ermittelt sie den Preis für Ausgleichsenergie und zweitens ordnet sie die Ausgleichsenergie den einzelnen Bilanzgruppen zu. Sie stellt fest, inwieweit die prognostizierten Einspeisungen und Entnahmen von Erdgas aus dem Netz, wie sie den Regelzonenführern von den Bilanzgruppen übermittelt wurden, mit den tatsächlichen Lieferungen übereinstimmen. Die Rechnungsstelle ermittelt die "Fahrplanabweichungen" und stellt jeder Bilanzgruppe für jedes Messintervall die Kosten für die Ausgleichsversorgung in Rechnung. Eine Bilanzgruppe, die dem System der Regelzone mehr Erdgas entnommen oder weniger eingespeist hat als geplant, zahlt dafür den "positiven" Ausgleichspreis. Hat die Bilanzgruppe hingegen weniger Erdgas entnommen oder mehr eingespeist als vorgeplant, wird ihr ein "negativer" Ausgleichspreis vergütet.

Von der Ausgleichsenergie, die innerhalb bestimmter Intervalle über Fahrpläne abgerufen wird, ist die "Regelenergie" zu unterscheiden. Sie dient dem Ausgleich von Netzschwankungen innerhalb der Regelzonen und wird vom Regelzonenführer bereitgestellt. Die Regelenergie kann nicht verursachergerecht zugeordnet werden. Ihre Bereitstellung gilt als Systemdienstleistung und wird über den Netznutzungstarif abgegolten.

VERHANDELTER SPEICHERZUGANG

Dem Zugang zu Erdgasspeicheranlagen und anderen Hilfsanlagen kommt bei der Entfaltung eines wettbewerbsorientierten Gasmarktes eine entscheidende Rolle zu. Da sich die Kostenfaktoren bei der Speichernutzung sehr komplex darstellen, schlägt die Regierung anstelle eines Tarifes für Speicherleistungen eine nachträgliche Angemessenheitskontrolle durch die Erdgas-Control-Kommission vor, die der Speicherzugangsberechtigte in Anspruch nehmen kann. Voraussetzung zur Erfüllung dieser Aufgabe ist die obligatorische Vorlage aller Verträge an die Kommission.

VERBESSERTER RECHTSSCHUTZ

Der Entwurf für eine Gaswirtschaftsgesetz-Novelle umschreibt nicht nur Rechte und Pflichten der Marktteilnehmer. Er zielt auch auf eine bessere Rechtsdurchsetzung und auf einen effektiveren Rechtsschutz. Dem dient das dargestellte Netzzugangsmodell, die Verankerung des Antragsrechts der Regulatoren im Kartellgesetz und die Schadenersatzpflicht für Netzbetreiber und Regelzonenführer, wenn sie einem Kunden den Netzzugang rechtswidrig verweigern. Ein spezielles Problem auf dem Gasmarkt stellen sogenannte "Kommitierungsverträge" dar, mit denen Leitungskapazitäten reserviert und damit andere Kunden vom Wettbewerb ausgeschlossen werden. In Österreich stellt die Kommitierung einer Leitung ein nicht genehmigungsfähiges Kartell dar, da es im Widerspruch zum Wettbewerbsrecht der EU steht. Die bereits beschlossene Änderung des Kartellgesetzes gibt Regulatoren auf dem Energiemarkt das Recht, beim Kartellgericht Anträge gegen die Durchführung von Kartellen zu stellen.

Das "Rucksackprinzip" verhindert, dass dem Kunden beim Wechsel des Lieferanten der Netzzugang verweigert wird. Dem Kunden steht ausdrücklich auch nach einem Lieferantenwechsel die gesamte für seine Belieferung benutzte Leitungskapazität zur Verfügung.

Eine weitere wichtige Detailregelung des umfangreichen Entwurfes stellt das sogenannte "Use-It-or-Loose-It"-Prinzip dar. Es bedeutet, dass nicht in Anspruch genommene Transportkapazitäten verfallen und anderen Kunden zur Verfügung stehen.

Außerdem schreibt der Entwurf vor, dass über Anträge auf Netzzugang innerhalb einer angemessenen Frist - die Kommission spricht von zwei Wochen, die in der Regel nicht überschritten werden sollen - zu entscheiden sei. Sehr rasch soll auch darüber entschieden werden, ob Vereinbarungen und Absprachen, durch die ein Mangel an Netzkapazitäten bewirkt wird, gesetzmäßig sind. (Schluss)