Parlamentskorrespondenz Nr. 413 vom 06.06.2002

TEMELIN-AUSSCHUSS KONZENTRIERT SICH AUF AUSSTIEGSSTRATEGIEN

----

Wien (PK) - Nach der Generaldebatte setzte der Temelin-Sonderausschuss die in der letzten Sitzung unterbrochene Anhörung in- und ausländischer Experten mit dem neuen thematischen Schwerpunkt "Ausstiegsszenarien im europäischen Kontext" fort. Aus der Fülle der Vorschläge, die dabei zur Sprache kamen, seien eine verpflichtende Stromkennzeichnung in der EU, Maßnahmen gegen Konzentrationstendenzen auf dem Binnenmarkt sowie gegen Atomstromimporte aus Drittländern, die Durchsetzung der Entflechtung der Stromkonzerne, auch der CES, sowie wettbewerbsrechtliche Maßnahmen gegen die Quersubventionierung von Atomstrom genannt. Der Euratom-Vertrag sei als inhaltlicher und politischer Anachronismus abzuschaffen oder zu reformieren und überdies seien aktuelle Bemühungen zu stoppen, kommerzielle Atomprojekte in Osteuropa mit Euratom-Krediten zu subventionieren. Es gelte zu verhindern, dass AKW-Errichter und -Betreiber mit jenen Projekten in den Osten gehen, mit denen sie im Westen auf Widerstand stießen, sagten die Fachleute.

Hinsichtlich der Rentabilität des AKW Temelin zeigten sich Experten und Abgeordnete darin einig, dass eine Inbetriebnahme des AKW auf Basis einer volkswirtschaftlichen Vollkostenrechnung keinerlei ökonomische Vorteile erwarten lasse und es daher sinnvoll wäre, einen Ausstiegsvorschlag an Tschechien nicht nur mit einer Ausstiegshilfe, sondern auch mit einer Least-Cost-Studie unter Beteiligung internationaler Experten zu untermauern. Unterschiedlich wurde aber die Frage diskutiert, ob Temelin für einen Betreiber, der die Investitionskosten und diverse externe Kosten nicht berücksichtigen müsse, Vorteile bringen könne.

EXPERTEN ÜBER STRATEGIEN ZUM ATOMAUSSTIEG

Anthony Patrick Froggatt (London) plädierte in seinen Ausführungen für eine Stromkennzeichnung auf dem EU-Binnenmarkt, wie sie in den USA, in Australien und in Neuseeland weit verbreitet und in Österreich bereits eingeführt wurde und demnächst auch in den Niederlanden und in der Schweiz zum Tragen kommen werde. Die großen Elektrizitätskonzerne wehrten sich dagegen, Österreich sollte aber für eine umfassende und verpflichtende Stromkennzeichnung eintreten. Angesichts der zuletzt stark steigenden europäischen Stromimporte aus Drittländern schlug der Experte vor, in der EU Maßnahmen gegen Stromimporte aus Ländern anzuwenden, die nicht den ökologischen und sozialen Standards der EU entsprechen.

In seinen weiteren Ausführungen machte Froggatt auf starke Konzentrationstendenzen auf liberalisierten Strommärkten und die Tatsache aufmerksam, dass große Stromerzeuger kleine Produzenten aufkaufen. Es sei notwendig, die Entflechtung von Produktion und Vertrieb (Unbundling) durchzusetzen, wenn man verhindern will, dass Mega-Energiekonzerne eine Macht erhalten, die jene der Regulatoren des Marktes übersteigt.

Handlungsbedarf der Mitgliedsländer sah Froggatt auch bei der Abschaffung bzw. der Reform des EURATOM-Vertrages und hinsichtlich des Vorschlags, EU-Gelder für ein neues Kraftwerksprojekt in Rumänien einzusetzen. Die diesbezügliche Kreditlinie sei jetzt zu stoppen, da es bei den einzelnen Projekten keine Mitsprache der EU-Mitgliedsländer gebe.

Hinsichtlich der Hoffnung, dass die von EU-Kommissarin Palacio vorgeschlagenen EU-Sicherheitsstandards für AKW zur Schließung von Kernkraftwerken führen oder die Sicherheit erhöhen werden, zeigte sich der Experte skeptisch. Sollten gemeinsame Sicherheitsstandards kommen, sei es notwendig, den EURATOM-Vertrag zu reformieren, um die Kontrolle der Sicherheitsstandards durch ein unabhängiges Komitee vornehmen zu lassen. Ein solches Komitee könne auf Initiative von vier Mitgliedsstaaten eingerichtet werden.

Vorstandsdirektor DI Dr. Josef Heizinger (Linz AG) erinnerte daran, dass eine Expertengruppe der tschechischen Regierung geraten habe, Temelin stillzulegen und statt dessen in Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen zu investieren. Dieser Vorschlag sei mit elf zu acht Stimmen abgelehnt worden. Zur Diskussion um die Wirtschaftlichkeit des Kernkraftwerks merkte Heizinger an, dass die Investition insgesamt unwirtschaftlich sei, es aus der Sicht des Betreibers aber vorteilhaft sei, das Kernkraftwerk zu betreiben, weil er einen positiven Deckungsbeitrag erzielen könne. Als Strategie gegen Atomstrom-Importe plädierte Heizinger dafür, die dezentrale Stromerzeugung zu fördern. Sein Unternehmen setze darauf, den Kunden atomfreien Strom anzubieten.

SC Dr. Ernst Streeruwitz (Umweltministerium) konnte der Argumentation seines Vorredners hinsichtlich der Deckungsbeiträge nicht folgen, sondern unterstrich das Ergebnis seiner Berechnungen, das lautete, dass auch der Betrieb des AKW-Temelin keine wirtschaftlichen Vorteile bringe. Streeruwitz teilte die Kritik Froggatts am EURATOM-Vertrag, der sowohl in seiner politischen Struktur als auch in seiner inhaltlichen Zielsetzung einen Anachronismus darstelle. Die Diskussion über gemeinsame Sicherheitsstandards sah Streeruwitz aber positiv, da man sie politisch nützen könne.

Mag. Herbert Lechner (Energieverwertungsagentur) wies auf kürzlich aktualisierte Daten zur Wirtschaftlichkeitsberechnung des AKW Temelin hin und sah die Aussage, die Nullvariante sei die ökonomisch günstigste, als neuerlich bestätigt an. Auch wenn man die Investitionskosten vernachlässige, lasse eine Inbetriebnahme keine wirtschaftlichen Vorteile erwarten.

Radko Pavlovec (Amt der Oberösterreichischen Landesregierung) schlug vor, Temelin im Gesamtsystem der tschechischen Stromproduktion und der tschechischen Volkswirtschaft zu betrachten. Vor diesem Hintergrund seien auch die Kosten für die in der Kohlebranche arbeitslos werdenden Beschäftigten in der Höhe von 35 Mrd. Kronen zu berücksichtigen. Dazu kommen 10 Mrd. Kronen für Restinvestitionen und weitere Milliardenbeträge für das Zwischenlager sowie die noch ausständigen Investitionen zur Erhöhung der nuklearen Sicherheit. Außerdem erinnerte der Experte an spezielle Probleme beim Export des tschechischen Atomstroms durch Engpässe im Leitungsnetz und bezifferte die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen bei der Inbetriebnahme von Temelin mit 38 bis 65 Mrd. Kronen. Pavlovec plädierte für die Erstellung einer Least-Cost-Studie unter Beteiligung internationaler Experten.

Univ.Prof. Dr. Ferdinand Kerschner (Institut für Umweltrecht der Johannes-Kepler-Universität) wertete das AKW Temelin als eine existenzielle Gefahr für Österreich, die es geboten erscheinen lasse, das Veto gegen einen EU-Beitritt Tschechiens einzusetzen. Aufgrund des Verfassungszieles "umfassender Umweltschutz" könnte dies nach Meinung des Juristen sogar verfassungsrechtlich geboten sein. Die Gefahren, die von einem grenznahen Atomkraftwerk ausgehen, beeinträchtigen die Souveränität des Nachbarlandes, daher könne die Freiheit zur Wahl der Energieform nicht uneingeschränkt gelten. Der EURATOM-Vertrag sollte nicht verlängert werden, weil er die Atomwirtschaft privilegiere.

Abgeordneter Hannes Bauer (S) sah sich durch die Ausführungen Heizingers in seiner Auffassung bestätigt, dass die Deckungsbeiträge in Temelin aus der Sicht des Betreibers die Investitionskosten mindern. Daher sollte man über Vollkosten und nicht über Deckungsbeiträge sprechen. Angesichts der Gefahr von Oligopolen auf dem Energiemarkt und des Aufkaufens kleiner Produzenten durch Atomkonzerne sei die Kennzeichnung wichtig. In der Diskussion über Sicherheitsstandards warnt Bauer davor, in eine Falle gehen, zumal die Sicherheitsstandards von anderen festgelegt werden. "Ich will über den Atomausstieg reden", sagte Bauer. 

Abgeordnete Eva Glawischnig (G) und Ulrike Sima (S) sahen einen Widerspruch zwischen den Zielen des ElWOG und der Zulassung von Atomstrom-Importen durch eine Verordnung der Bundesregierung.

Abgeordnete Gertrude Brinek (V) schloss sich in der Frage der Wirtschaftlichkeitsrechnung ihrem Vorredner an und erkundigte sich bei den Experten u.a. nach der Definition "grenznaher Kernkraftwerke".

Abgeordneter Gerhard Fallent (F) konzentrierte sich auf die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und nach dem Zeitplan für die Einrichtung der Kontrollinstitution für die Atomsicherheitsstandards.

Abgeordneter Maximilian Hofmann (F) ersuchte um eine rechtliche Beurteilung der Stromimportfrage und meinte, es werde an Österreich liegen, entsprechende Sicherheitsstandards festzulegen, um der "Falle niedriger Standards" zu entgehen.

Rechtsanwalt Dr. Christoph Herbst erinnerte hinsichtlich der Abgeltung der Stranded Costs an die relativ liberale Position der Kommission. Der Vertrauensschutz für unter den Bedingungen des Monopols getätigte Investitionen könne aber nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt geltend gemacht werden. Im Falle des AKW Temelin liegt dieser Zeitpunkt für Herbst spätestens 1998. Jede Form von Dumping sei unter Bedingungen der Europäischen Union unzulässig, die diesbezüglichen Rechtsinstrumente im Assoziationsvertrag seien aber rechtlich schwach. Als juristisch problematisch bezeichnete Herbst auch den § 13 des ElWOG, der darauf abziele, Strom-Importe zu aus Produktionen auszuschließen, die nicht den EU-Standards entsprechen.

Radko Pavlovec wies darauf hin, dass der tschechische Strommarkt seit Beginn des Jahres liberalisiert sei, die CES aber versuche, den Netzbetrieb in ihr Unternehmen zu integrieren und die "Quersubventionsmaschine" wieder anzuwerfen.

Daher drängte auch Mag. Herbert Lechner darauf, das Gebot des "Unbundlings" in Tschechien zu beachten und Quersubventionierungen zu unterbinden. Die Energieverwertungsagentur habe eine Energiesparstudie für Tschechien ausgearbeitet. Schwerpunkte der österreichisch-tschechischen Energiepartnerschaft seien die Errichtung eines Kraft-Wärme-Kopplungs-Zentrums, die energetische Sanierung von Plattenbauten und die Erhöhung der Energieeffizienz von Elektrogeräten. Der § 13 des ElWOG (Atomstrom-Importverbot) könne umgangen werden, er sei aber dennoch ein wichtiges politisches Signal.

SC Dr. Ernst Streeruwitz führte aus, dass die Verhinderung von Dumping-Stromexporten aus Tschechien leichter möglich sei, wenn Tschechien EU-Mitglied sei. Ob die Aufstockung der EURATOM-Mittel, gegen die Österreich auftrete, eines einstimmigen Ratsbeschlusses bedürfen, sei noch unklar.

Ausschussobmann Georg Oberhaidinger (S) unterbrach das Expertenhearing und kündigte an, die Beratungen am 4. Juli, 10 Uhr, fortzusetzen. (Schluss)