Parlamentskorrespondenz Nr. 185 vom 27.02.2019

Kurz: EU-Wahl gibt Chance zur Erneuerung

Nationalrat debattiert Entwicklung der Europäischen Union anhand des EU-Vorhabensberichts aus dem Bundeskanzleramt

Wien (PK) – Die Neuausrichtung der Europäischen Union war noch vor der Debatte über das Brexit-Begleitgesetz Thema im Nationalrat. "2019 ist ein Jahr der Veränderung", erklärte im Plenum Bundeskanzler Sebastian Kurz. Neben dem geplanten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU würden auch die Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) und die neu zu bildende Europäische Kommission Auswirkungen auf die Zukunft der EU haben. Angesichts dessen appellierte der Kanzler an die Bevölkerung, wählen zu gehen und mitzubestimmen, wohin sich die EU künftig bewegt. Grundlage der Diskussionen bildete der schließlich mehrheitlich angenommene Bericht von Bundeskanzler Sebastian Kurz und Kanzleramtsminister Gernot Blümel über aktuelle EU-Vorhaben in ihrem Zuständigkeitsbereich.

Ein SPÖ-Antrag an die Bundesregierung, "sich glaubwürdig von Spekulationen über einen Öxit zu distanzieren", erhielt von der Mehrheit im Plenum keine Unterstützung. Die SozialdemokratInnen halten besonders den Freiheitlichen vor, Überlegungen über einen Austritt Österreichs aus der Europäischen Union, vulgo Öxit, nicht abgeneigt zu sein. Von der FPÖ wurde dieser Vorwurf entschieden zurückgewiesen. Petra Steger, die für die FPÖ bei der EP-Wahl antritt, verdeutlichte, ihre Fraktion trachte nach einer Europäischen Union aus starken Nationalstaaten, nach dem Motto "weg vom blinden Zentralismus". Für mehr Subsidiarität setzt sich auch die ÖVP ein, sodass sich die EU künftig auf wesentliche Themen wie Wachstum, Friedensicherung und Klimaschutz konzentriert und in kleineren Politikbereichen die Entscheidungshoheit den Ländern und Regionen überlässt.

Als "Erfolgsprojekt" habe die EU nach Jahrhunderten der Kriege auf dem Kontinent für Frieden und Wohlstand gesorgt, betonte Kanzleramtsminister Gernot Blümel. Nun gelte es, diese Stabilität auch in die Nachbarländer des Westbalkans zu "exportieren", warb er dafür, den südosteuropäischen Staaten eine klare EU-Beitrittsperspektive zu geben, wenn sie die entsprechenden Auflagen erfüllen. Rechtsstaatlichkeit sei hier ein entscheidender Faktor.

Von der Liste JETZT wird allerdings bezweifelt, inwieweit die österreichische Regierung gewillt ist, europäische Grundrechte zu schützen. Anlass war die vom Innenministerium kolportierte Einführung einer Sicherungshaft für potenziell gefährliche Asylwerbende, wodurch aus JETZT-Sicht gegen die persönlichen Freiheitrechte verstoßen wird. Die NEOS richten den Fokus auf die technologische Wettbewerbsfähigkeit der EU in Zeiten der Cyberkriminalität. Europa müsse in Schlüsseltechnologien eigenständiger werden, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern vor allem auch zum Schutz der Bevölkerung.

Viel Raum in der Debatte nahm das kürzlich veröffentlichte Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) ein, das eine Novelle der heimischen Karfreitags-Feiertagsregelung erforderlich macht. Insbesondere bei der SPÖ war man irritiert, dass der entsprechende Gesetzesvorschlag, der noch heute beschlossen werden soll, erst gestern Nacht im Parlament eingelangt ist. "Sie nehmen den Leuten einen Urlaubstag oder einen Feiertag weg", warf Andreas Schieder (SPÖ) den Regierungsfraktionen vor, den Entwurf keiner eingehenden Begutachtung unterzogen zu haben. Dieser Umgang mit einem EuGH-Urteil sei ein Beleg dafür, dass die Regierung demokratische Spielregeln auf europäischer wie nationaler Ebene missachtet, so der SPÖ-Spitzenkandidat für die EP-Wahl.

SPÖ und JETZT geben Nationalismus Schuld an Misstrauen in die EU

Eine klare Distanzierung von einem EU-Austritt Österreichs forderte namens der SPÖ Angela Lueger von der Regierung in einem eigens dazu eingebrachten Entschließungsantrag. In Abrede gestellt wird darin das Pro-EU-Bekenntnis der Regierungspartei FPÖ. Immerhin hätten die Freiheitlichen 2016 im Nationalrat eine Volksbefragung über einen Öxit beantragt. Kanzleramtsminister Gernot Blüml wandte ein, der EU-Austritt eines Landes sei immer eine "Lose-lose-Situation", wie am Beispiel des UK deutlich werde. "Der Brexit ist eine Katastrophe für beide Seiten." Die Union müsse nun den richtigen Weg zur Erneuerung einschlagen.

Jörg Leichtfried (SPÖ) bestätigte, der Brexit sei eine große Katastrophe, er gab die Schuld dafür aber vor allem der konservativen nationalistischen Politik. "Wir haben eine Partei in unserer Mitte, die bekennt sich offen zum Öxit", warf er der FPÖ vor, sich mehrfach medial für eine Abkehr von der EU ausgesprochen zu haben. Die Freiheitlichen befänden sich im Europaparlament in einer Parteienfamilie mit Kräften, die die EU zerstören wollten.

Für Alma Zadić (JETZT) veranschaulicht der Brexit, welche Auswirkungen eine nationale Politik hat, die die EU als "Sündenbock" für sämtliche Probleme heranzieht, sei es Armut, Arbeitslosigkeit oder die Migrationskrise. Speziell bei der Migration, einer in den Augen Zadićs "globalen Herausforderung", brauche es aber eine europäische Lösung. Eine solche in Form einer starken EU-Asylagentur habe der österreichische Ratsvorsitz nicht erzielt, kritisierte sie. Vielmehr habe die Bundesregierung den Beitritt zum UN-Migrationspakt verweigert und wolle das Grundrecht des Schutzes vor willkürlicher Verhaftung aufheben, richtete sie den Blick auf die vom Innenministerium angeregte Sicherungshaft, basierend auf "Gefährdungsprognosen". Innenminister Herbert Kickl schade dem Ansehen Österreichs durch seine Infragestellung europäischer Grundrechte, zog ihr Parteikollege Peter Pilz nach. Konkret zur Sicherungshaft sagte er, anlässlich des Mords in Dornbirn durch einen abgewiesenen Asylwerber dürfe nicht einfach mit einer Verfassungsänderung eine Verhaftung von missliebigen Personen ermöglicht werden. "Die Grund- und Freiheitsrechte sind vor der Freiheitlichen Partei zu schützen".

FPÖ tritt gegen EU-Zentralismus auf

Die FPÖ stehe für eine Politik der Vernunft, hob hingegen Petra Steger (FPÖ) hervor, gerade auch in Europa. Einen "Umdenkprozess auf EU-Ebene" habe ihre Fraktion angestoßen, denn als Regierungspartei richte sie sich gegen eine "Politik des geringsten Widerstands". Am Beispiel des noch nicht ausverhandelten EU-Budgets 2021 bis 2027 stellte sie die freiheitliche EU-Politik dar. Nicht einzusehen sei, weswegen Österreich mehr an Brüssel zahlen sollte, während die EU mit ihrem "gewaltigen Verwaltungsapparat" eine 20%-prozentige Steigerung ihrer Verwaltungsausgaben plane. Im Sinne der Verwaltungseinsparungen habe FPÖ-EU-Mandatar Harald Vilimsky eine Reduktion der Abgeordnetenzahl im EU-Parlament vorgeschlagen. "Wir brauchen weniger Brüssel, wir brauchen wieder mehr Österreich", konstatierte auch Roman Haider (FPÖ). Die EU dürfe sich nicht in Bereiche einmischen, für die sie nicht zuständig sei, sondern sollte lieber für einen funktionierenden Außengrenzschutz sorgen. Immerhin habe die unkoordinierte Grenzöffnung für Flüchtlinge 2015 letztendlich maßgeblich zum Brexit beigetragen. Aus dem erörterten EU-Bericht griff er unter anderem den Punkt Bankenunion heraus. Dabei wandte er sich deutlich gegen eine europäische Einlagensicherung, da sie eine Ausweitung der Transferunion auf Kosten der ÖsterreicherInnen darstellen würde.

ÖVP würdigt Österreichs Rolle in der EU

Aus Sicht der ÖVP hat Österreich eine ausgezeichnete Position in der EU. Die Europäische Kommission habe dem Land für seine makroökonomische Entwicklung ein gutes Zeugnis ausgestellt, berichtete Reinhard Lopatka (ÖVP) über die Rückmeldungen aus Brüssel im Rahmen des sogenannten Europäischen Semesters. 77 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sehen laut Lopatka die Europäische Union positiv beziehungsweise neutral. Nicht zuletzt die österreichische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2018 habe zu dieser Meinungsbildung beigetragen, ist er überzeugt, da die Regierung die Sorgen der Menschen – Stichwort Migration –ernst nehme. Die Politik müsse alles dafür tun, "die Menschen für die EU zu begeistern". Nikolaus Berlakovich (ÖVP) pflichtete bei, Sicherheitsprobleme müssten genauso wie bedenkliche wirtschaftliche Entwicklungen offen angesprochen werden, um das Vertrauen der BürgerInnen in die EU wiederzuerlangen. Das sei essenziell für eine Weiterentwicklung der Union, die sich mit der EU-Wahl abzeichne. "Wir müssen eine attraktivere Europäische Union haben", die effizienter wird, spielte Berlakovich auf den nächsten mehrjährige Finanzrahmen an.

NEOS wollen Stärkung der EU im digitalen Wettbewerb

Mehr Bedeutung müsse das Vorgehen gegen Desinformation erhalten, gerade im Internet, hielt Claudia Gamon (NEOS) fest. Immerhin würden ExpertInnen darauf hinweisen, dass auch die kommende EU-Wahl über dunkle Kanäle beeinflusst werden könnte, mahnte die NEOS-Spitzenkandidatin für das Europaparlament. Grundsätzlich müsse die EU im globalen Umfeld mehr Wettbewerbsfähigkeit in den neuen Technologien erlangen, drängte sie auf europäische Antworten in Sachen Cyberangriffe und auf die Förderung der digitalen Kompetenzen von Bürgerinnen und Bürgern. "Lügenkampagnen erschüttern das Vertrauen in die Demokratie." Angela Lueger (SPÖ) meinte zur österreichischen Position betreffend Cyberpolitik, dem Rechnungshof zufolge fehlen Österreich die nötigen Ressourcen und gesetzlichen Vorkehrungen dafür. Angesichts des bestehenden Fachkräftemangels in diesem Bereich empfahl Gamon, die EU solle eine "vernünftige Einwanderungspolitik" für TechnologieexpertInnen in die Wege leiten.

Das Kapitel "Nachhaltige Entwicklung" im EU-Bericht sprach die fraktionslose Abgeordnete Martha Bißmann an. Sie hinterfragte dabei, wie die einzelnen Ressorts die UN-Nachhaltigkeitsziele erreichen wollen, da ein "interdisziplinärer Ansatz" für diese Querschnittsmaterie fehle. Mit einem "Klimaschutz-Staatssekretariat" beziehungsweise einem "Nachhaltigkeits-Staatssekretariat" ließe sich institutionell die Vorkehrung für die notwendige konstruktive Kooperation schaffen.

Kurz: Chance für mehr Subsidiarität in der EU

Die aktuellen Herausforderungen der Europäischen Union sind für Bundeskanzler Kurz nicht gänzlich hausgemacht. Vielfach trage ein instabiles, spannungsgeladenes internationales Umfeld dazu bei, dass sich die EU mit neuen Problemen konfrontiert sieht, sowohl wirtschaftlich als auch sicherheitspolitisch. "Zu wenig Zeit für Zukunftsdiskussionen" habe die EU bisher gefunden, verwies Kurz auf akut zu klärende Fragen wie Migration, Finanzkrise und Brexit. Die Europawahl eröffne nun neue Chancen, die Union weiterzuentwickeln. Die Bundesregierung setze sich in diesem Zusammenhang für eine "subsidiäre EU" ein, die sich mit großen Fragen befasst, aber dort, wo Regionen oder Mitgliedsstaaten die sinnvolleren Entscheidungen treffen können, zurücknimmt.

Konkret zum mit 29. März 2019 angekündigten EU-Austritt des Vereinigten Königreichs sagte Kurz, "ich bin für eine Verschiebung, wenn keine Einigung bis März gefunden wird". Ein Austritt ohne Abkommen mit der EU müsse jedenfalls abgewendet werden. (Fortsetzung Nationalrat) rei