Fachinfos - Fachdossiers 30.11.2023

Wie wird ein Parlament barrierefrei?

Anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen gibt dieses Fachdossier Einblick in diverse Maßnahmen zur Herstellung der Barrierefreiheit von Parlamenten. (30.11.2023)

Anfang 2023 konnte das österreichische Parlament nach jahrelanger Bautätigkeit wiedereröffnet werden. Die Generalsanierung der alten, denkmalgeschützten Substanz war auch zum Anlass genommen worden, das Parlamentsgebäude barrierefrei zu gestalten. So kamen u. a. die ÖNORM B 1600 und die ÖNORM EN 17210 zum barrierefreien Bauen zur Anwendung. Für das Engagement, Barrieren und Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen abzubauen, wurde dem Parlament Ende November 2023 das Zertifikat "Fair für alle" verliehen.

Dieses Fachdossier befasst sich zunächst mit den konkreten Maßnahmen, die es Mandatar:innen, Mitarbeiter:innen und Bürger:innen mit Behinderungen ermöglichen, gleichberechtigt das Parlament oder die Parlamentswebsite aufzusuchen und zu nützen. In weiterer Folge wird auf grundlegende Rechtsquellen sowie auf die Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in Parlamenten eingegangen. Letzteres schließt das barrierefreie Wählen und Kandidieren mit ein. 

Wer ist oder wird behindert?

Das Verständnis von Behinderung hat sich seit den 1970er-Jahren gewandelt. Die vorwiegend medizinische Betrachtung der jeweiligen Dysfunktionalität wurde vom verstärkten Blick auf die soziale Umgebung der Betroffenen abgelöst. Es ist nämlich die ungenügende Reaktion dieser Umgebung auf die Andersartigkeit, die letztlich behindert (Teglbjaerg et al., 2021). So lautet etwa Art. 1, zweiter Satz UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 (UN-BRK): "Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können."

Vereinfacht kann im gegebenen Kontext zwischen Beeinträchtigungen der Mobilität, der Sinne – also des Hörens, des Sehens, des Verstehens – und der Psyche unterschieden werden (Trescher/Hauk 2020, OSCE ODIHR 2019).

Die Mobilität lässt sich z. B. durch die Errichtung von Rampen, geräumigen Liften, Türen mit verlangsamten Schließmechanismen, rollstuhlgerechten WCs usw. wiederherstellen.

Kommunizieren ist für Gehörlose oder hochgradig Hörbeeinträchtigte mittels Gebärdensprache möglich, wenn sie diese erlernt haben, das heißt, es bedarf einer Gebärdensprachdolmetschung. Beherrschen sie nur die Lautsprache, so sind sie zum Verstehen auf die Verschriftlichung des Gesagten (durch Schriftdolmetschung) angewiesen. Dabei ist zu bedenken, dass es auch taubblinde Menschen gibt, für die die Übersetzung von Ton in lesbare Zeichen keine taugliche Kommunikationshilfe ist. Hörgeräteträger:innen oder Personen mit Cochlea-Implantaten (Hörprothesen) können zusätzlich durch direkte Tonübertragung (mittels Induktion, Infrafrot oder Funk) unterstützt werden.

Für blinde Menschen müssen Informationen ertastbar oder hörbar gemacht werden. Nicht alle beherrschen die Blindenschrift (Braille). Für die Orientierung im Raum bedarf es z. B. taktiler Bodenleitsysteme. Sehschwachen Personen hilft es , wenn Text in großen Buchstaben lesbar gemacht wird.

Für Menschen mit Lernschwierigkeiten sind Texte in Einfacher oder Leichter Sprache hilfreich. Für psychisch kranke Menschen ist an kurzfristige Rückzugsräume zu denken. Die adäquate Reaktion auf die weiteren Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen setzt ein nuanciertes Verständnis und Wissen voraus, das gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Organisationen aufgebaut werden kann. Neben allen baulichen, technischen oder sonstigen regulären Maßnahmen kommt es auf den „menschlichen Faktor“ an. Das bedeutet u. a., Vorurteile abzubauen und achtsam auf die Bedürfnisse des Gegenübers einzugehen.

Auf welche konkreten Barrieren und Maßnahmen in Parlamenten zu achten ist, wird im Folgenden exemplarisch aufgezeigt.

Räumliche Barrieren

Die Teilnahme an Beratungen und Abstimmungen in den Ausschüssen und im Plenum gehört zum Kern parlamentarischer Tätigkeit. Deshalb ist die Erreichbarkeit der Sitzplätze bzw. Redner:innenpulte für mobilitätsbeeinträchtigte Mandatar:innen von entscheidender Bedeutung. Haben Plenarsäle eine stufenweise Anordnung der vielen Sitzreihen, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. 1988 musste der erste österreichische Abgeordnete im Rollstuhl, Manfred Srb, noch von seinen Kollegen von seinem Sitzplatz in der letzten Reihe zu einem Mikrofon neben dem Redner:innenpult getragen werden (siehe StenProt zur 3. Sitzung des NR in der XVII. GP. S 127). Heute kommt Abg. Kira Grünberg im Rollstuhl ohne fremde Hilfe in das Parlamentsgebäude und zum Redner:innenpult.

Wie das kanadische Beispiel zeigt, kann es auch zu Geschäftsordnungsänderungen kommen, um die Mitwirkung von Mandatar:innen mit Behinderungen sicherzustellen, etwa um Personen im Rollstuhl zu ermöglichen, bei der Abstimmung ihre Zustimmung nur durch Handzeichen (statt Aufstehen) zum Ausdruck zu bringen (siehe Art. 1.1 Standing Orders of the House of Commons). In Österreich ist in der parlamentarischen Praxis anerkannt, dass Abgeordneten mit Behinderung im Nationalrat ein Abgehen von der Regel gestattet werden kann (Zögernitz 2020, S. 471).

Neben den Plenar- und Ausschussräumlichkeiten sind noch die Arbeitsräume der Mandatar:innen und ihrer Mitarbeiter:innen sowie die Arbeitsräume der Parlamentsverwaltungen zu beachten. Dazu kommen Veranstaltungsräume, Bibliotheken und Pressefoyers. Viele Parlamente haben schon eigene Besucher:innenzentren zur Information über das Parlament eingerichtet (Prior/Sivashankar 2023). Die Barrierefreiheit eines Parlaments ist auch an diesen Räumen und ihrer Ausstattung zu messen. Diesbezügliche Maßnahmen für Blinde und sehbehinderte Personen im österreichischen Parlament wurden als beispielhaft bezeichnet (siehe Accessible Parliament).

Kommunikative Barrieren

Neben den räumlichen Barrieren können auch verschiedene Barrieren auf der Kommunikationsebene entstehen.

Das Wort Parlament geht auf das französische Wort für Sprechen zurück. Der Entscheidung, z. B. über einen Gesetzesentwurf, geht der intensive Austausch der Ideen und Argumente voraus. Oft ist die Auseinandersetzung konfrontativ, gerade auch wenn es um die Kontrolle des Regierungshandelns geht. Da muss jedes Wort sofort verstanden werden, um prompt reagieren zu können. Mikrofone und Lautsprecher in den Plenar- und Ausschussräumlichkeiten zählen daher zum Standard. Mehr und mehr werden auch Induktionsschleifen u. a. zur noch besseren Tonübertragung verlegt bzw. bereitgestellt.

Für gehörlose (oder hochgradig schwerhörige) Mandatar:innen müssen Gebärdensprach- oder Schriftdolmetscher:innen eingesetzt werden, um ihre volle Teilhabe sicherzustellen. Aus Anlass des Einzugs der gehörlosen Abgeordneten Helene Jarmer im Jahr 2009 wurden die Nationalratssitzungen von 9:00 bis 19:00 Uhr in Gebärdensprache live übersetzt. Zur weiteren persönlichen Begleitung durch einen bzw. eine Gebärdensprachdolmetscher:in stellte das Parlament ein Budget zur Verfügung. Die allgemeine Gebärdensprachdolmetschung für die Nationalratssitzung wurde inzwischen zur Regel. Sie wird durch die Übertragung (Fernsehen, Livestream sowie Video on Demand der Parlamentswebsite) auch für die betroffene Öffentlichkeit fruchtbar.

Neben dem Hören ist auch das Sehen sehr relevant. Dem Großteil der parlamentarischen Beratungen geht ein schriftlicher Verhandlungsgegenstand wie z. B. ein Bericht der Bundesregierung voraus. Debatten können in Stenographischen Protokollen nachgelesen werden. Hier hat die Digitalisierung insbesondere für blinde Menschen wesentliche Verbesserungen gebracht, besonders wenn parlamentarische Materialien über die Websites der Parlamente in maschinenlesbarer Form zugänglich sind. Dies bedeutet, dass der Text mithilfe verschiedener Programme z. B. vorgelesen oder in Braille übersetzt werden kann.

Ausgehend von den EU-Vorschriften zur Web-Barrierefreiheit (Richtlinie (EU) 2016/2102, Europäische Norm "Accessibility requirements for ICT products and services" etc.) müssen öffentliche Stellen auf ihren Websites und mobilen Anwendungen vier Grundsätze für den barrierefreien Zugang einhalten: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit.

Für gehörlose und hörbehinderte Menschen bringt die Digitalisierung einen weiteren Vorteil, wenn Parlamente ihre Sitzungen live mit Untertiteln übertragen. Seit 2021 überträgt z. B. der Deutsche Bundestag alle öffentlichen Sitzungen mit Untertiteln (auf Basis automatisierter Spracherkennung mit geringfügiger manueller Nachbesserung).

Die Digitalisierung ermöglicht nicht nur einen unmittelbaren Nachvollzug des parlamentarischen Geschehens, sondern auch die Partizipation an der politischen Willensbildung, wenn etwa eine maschinenlesbare Petition online unterstützt werden kann. Informationen in Leichter Sprache sind besonders leicht verständlich und unterstützen Menschen mit Lernschwierigkeiten (siehe z. B. Website des österreichischen Parlaments in Leichter Sprache).

Von der Digitalisierung können jedoch nur Menschen profitieren, die Zugang zu Internet und entsprechender Hardware (z. B. PC, Tablet und Smartphone) haben. Dies setzt zunächst finanzielle Mittel und Entscheidungsfreiheit voraus. So weist Witten (2021) darauf hin, dass sehr viele Menschen mit Behinderungen in Institutionen mit Betreuung untergebracht sind (so auch in Österreich, siehe kritisch dazu UN-Ausschuss für die Rechte der Menschen mit Behinderungen, Abschließende Bemerkungen 2023, S. 9). Dazu käme, dass die Kommunikationsmodi, die sogenannte bildungsferne Menschen oder Menschen mit Marginalisierungserfahrungen mitbrächten, sowie die Kommunikationsformen und -wege, wie sie im digitalen Raum etabliert seien, sehr weit auseinanderlägen. Es bedürfe daher sehr maßgeschneiderter Angebote für politische Bildung.

Synergien

Die baulichen, technischen, digitalen und sonstigen Maßnahmen, die wie oben dargestellt zugunsten von Mandatar:innen und der Öffentlichkeit gesetzt werden, kommen bei Bedarf neben den Mitarbeiter:innen mit Behinderungen auch all jenen zugute, die an den parlamentarischen Beratungen teilnehmen, wie etwa Regierungsmitgliedern und deren Mitarbeiter:innen, Expert:innen und Bürger:innen mit Behinderungen, die von Ausschüssen angehört werden. Als Ort und Angelpunkt politischer Teilhabe strahlt die Barrierefreiheit des Parlaments somit in andere politische Institutionen aus. Und sie erleichtert dem Parlament (der Parlamentsverwaltung, den Klubs, den Mandatar:innen) als Arbeitgeber:innen, einen Beitrag zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu leisten. So bemüht sich das Europäische Parlament mit einem eigenem Programm, den Anteil von Menschen mit Behinderungen unter den Mitarbeiter:innen zu heben (Tamburini 2023).

Vorgaben und Empfehlungen zur politischen Teilhabe

Die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist von jeher in den demokratischen Grundrechten, dem aktiven und passiven Wahlrecht sowie im Gleichheitsgrundsatz angesprochen. Letzterer wird vor allem auch im Diskriminierungsverbot im Arbeitsleben wirksam.

Einige Verfassungen gehen speziell auf Menschen mit Behinderungen ein (so z. B. Österreich seit 1997 in Art. 7 Abs. 1 B-VG; 2005 wurde mit Art. 8 Abs. 3 B-VG die Gebärdensprache anerkannt). Wesentliche neue Impulse brachte die UN-BRK, die in Österreich 2008 mit Erfüllungsvorbehalt ratifiziert wurde. Art. 4 Abs. 3 und Art. 33 Abs. 3 verpflichten zur Beteiligung von Menschen mit Behinderungen bzw. ihrer Organisationen am nationalen Gesetzgebungsprozess und am Monitoringprozess zur Umsetzung der UN-BRK. Art. 9 schreibt die Barrierefreiheit öffentlicher Einrichtungen, d. h. auch von Parlamenten, vor. Gemäß Art. 29 ist die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am politischen und öffentlichen Leben sicherzustellen.

Im Zentrum des Monitorings zu Art. 29 UN-BRK standen bisher das aktive Wahlrecht von Menschen mit Behinderungen und behindertengerechte Wahlmodalitäten (siehe UN-Monitoring-Dokumente 2023). Anders als in Österreich sind etwa in 14 EU-Staaten nach wie vor insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten vom aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen (European Disability Forum 2022). Die Wahlbeteiligung von Menschen mit Behinderungen liegt in allen Staaten der Welt unter der allgemeinen Wahlbeteiligung (Bah 2022, Kuhlmann/Lewis 2022). Neben oft fehlender Distanzwahl z. B. mittels Briefwahl, fehlenden barrierefreien Wahllokalen oder etwa taktil unterstützten Stimmzetteln gibt es tiefere Gründe dafür.

Das Interesse an Politik wächst mit der Ausbildung, der Inklusion am allgemeinen Arbeitsmarkt und dem damit einhergehenden Erlernen sozialer Kompetenzen (Kuhlmann/Lewis 2022). Engagement und Funktionen in Behindertenorganisationen lassen jedoch meist erst den Wunsch reifen, sich auch für ein Mandat zu bewerben (Kramer et al. 2019).

Auch in den Parlamenten sind Menschen mit Behinderungen unterrepräsentiert (FRA 2014, Waltz/Schippers 2020). Das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der OSZE adressiert seine einschlägigen Guidelines (2019) zunächst an die politischen Parteien als "gatekeeper to political participation within […] national parliaments", da die politischen Parteien über die Kandidat:innenlisten entscheiden. Sie enthalten aber auch Empfehlungen an Parlamente. Besonderes Augenmerk auf Menschen mit Behinderungen legt auch der Global Parliamentary Report 2022: Public engagement in the work of parliament der Interparlamentarischen Union.

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