Politik der Straße

Der 15. Juli 1927 markiert einen Wendpunkt in der Geschichte der Ersten Republik. An diesem Tag demonstrieren Tausende Menschen in Wien: Die politischen Spannungen erreichen die Straßen.

Obwohl die Parteien auf parlamentarischer Ebene noch zu Kompromissen fanden, verhärteten sich die Fronten zwischen den einander zunehmend feindlich gegenüberstehenden politischen Lagern. Auf die antiparlamentarische Rhetorik der Rechten reagierte die Linke mit Verbalradikalismus.  

Bürger:innenblock gegen Arbeiter:innenpartei

Christlichsoziale, Großdeutsche und rechte Kleinparteien bildeten für die Nationalratswahl 1927 einen "antimarxistischen" Bürger:innenblock, um einen möglichen Wahlsieg der Sozialdemokrat:innen zu verhindern. In ihrem Linzer Parteiprogramm 1926 hatten sie die Strategie für den erhofften Machtwechsel festgelegt.

In einem Klima wachsender Spannungen zwischen den Parteien und schwindenden Vertrauens in die parlamentarische Demokratie stieg die Bereitschaft, politische Entscheidungen falls nötig mit Gewalt zu erzwingen.

Bewaffnete Wehrverbände, die auf militärische Formationen der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgingen, gewannen an Einfluss. Sie beherrschten die politische Auseinandersetzung auf der Straße. Mit Drohgebärden wie Aufmärschen, Waffenübungen und gezielten Provokationen demonstrierten sie gegenüber dem politischen Gegner Stärke und Entschlossenheit.

Steigende Gewaltbereitschaft

Heimwehren und Frontkämpfer, die eng mit dem bürgerlichen Lager verbunden waren, richteten ihre Aktivitäten gegen den "Marxismus" als vermeintlichen inneren Feind.

Der sozialdemokratische Republikanische Schutzbund übte sich in "proletarischer Wehrhaftigkeit" zur Verteidigung der Republik gegen einen möglichen Angriff von rechts.

In Verbindung mit einer radikalen politischen Sprache schürte die zunehmende Gewaltbereitschaft bei der Bevölkerung die Erwartung, dass politische Konflikte notfalls außerparlamentarisch gelöst würden.

Spontane Revolte: Justizpalastbrand 1927

Am 15. Juli 1927 kam es zur Revolte: Demonstrant:innen aus den Arbeiter:innenbezirken Wiens zogen vor den Justizpalast. Sie protestierten gegen ein Gerichtsurteil, das sie als Ausdruck der "Klassenjustiz" empfanden.

Ein Geschworenengericht hatte Mitglieder der Frontkämpfervereinigung freigesprochen, die auf Teilnehmer:innen einer Veranstaltung des Republikanischen Schutzbundes in Schattendorf geschossen hatten. Ein Mann und ein Kind starben, mehrere Menschen waren verletzt worden.

Proteste und Polizeieinsätze

Als die Polizei mit großer Härte gegen die Protestierenden vorging, eskalierte die Auseinandersetzung. Aufgebrachte Demonstranten:innen stürmten den Justizpalast und setzten das Gebäude in Brand. Die Polizei eröffnete das Feuer auf die Menge: 89 Menschen starben und mehr als 600 Personen wurden schwer verletzt.

Originalaufnahmen der Ereignisse zeigt der Film "Der Brand des Justizpalastes in Wien": das Hinauswerfen von Akten, den Polizeieinsatz, die Löschversuche.

Die sozialdemokratische Partei scheiterte mit dem Versuch, den spontanen Protest zu nutzen, um einen Regierungswechsel zu erwirken. Auch der für den nächsten Tag ausgerufene Generalstreik war erfolglos: Heimwehr-Einheiten in Tirol und der Steiermark gelang es, den Streik zu brechen.

Aufarbeitung im Nationalrat

In der Nationalratsdebatte über die Ereignisse vom 15. Juli 1927 kam deutlich die wachsende Kluft zwischen den Parteien zum Ausdruck. Der damalige Bundeskanzler Ignaz Seipel forderte die Abgeordneten auf, nichts zu verlangen, "das den Opfern und den Schuldigen an den Unglückstagen gegenüber milde erscheint, aber grausam wäre gegenüber der verwundeten Republik".

Die sozialdemokratische Opposition reagierte mit einem Misstrauensantrag gegen die Regierung und forderte Amnestie für die Verhafteten und einen Untersuchungsausschuss. Die spontane Erhebung ihrer Anhänger:innen führte zu einem deutlichen Prestigeverlust, während sich die Rechte ermutigt fühlte, ihre Angriffe auf die parlamentarische Demokratie weiter zu verschärfen.

Bundeskanzler Seipel machte kein Hehl aus seiner Sympathie für eine "wahre Demokratie" mit "mehr Verantwortlichkeit der Führer der Demokratie" anstelle der angeblichen "Parteiendiktatur".

Staatsfeiertag 12. November – umstrittener Gedächtnisort

Je stärker sich die Rechte mit antiparlamentarischer Rhetorik profilierte, desto mehr sah sich die Linke als Verteidigerin der Republik. Symbolisch dafür stand das sozialdemokratische Erinnerungsritual an den Jahrestagen der Republikgründung.

Den 12. November, der bereits wenige Monate nach der Ausrufung der Republik von der Provisorischen Nationalversammlung einstimmig zum Nationalfeiertag erhoben worden war, feierte die sozialdemokratische Partei traditionell als einen Tag des Gedenkens an die eigenen politischen Leistungen.

Die anderen Parteien konnten sich weniger mit diesem Tag identifizieren, wenngleich bei den offiziellen staatlichen Feiern stets positive Bilanzen zur Entwicklung des Staates gezogen wurden.

Politisch Resümee ziehen

So auch von Wilhelm Miklas, dem Präsidenten des Nationalrats und späteren Bundespräsidenten, bei der Festsitzung des Nationalrats zum zehnten Jahrestag der Republikgründung am 12. November 1928. Im Bezug auf die Inflationskrise betonte er:

"Dass damals und in der Folgezeit die vorhandenen politischen Gegensätze oftmals in sehr scharfer Form in Erscheinung traten, soll nicht geleugnet werden. Dass aber daraus dem Bunde kein dauernder Schaden erwuchs, vielmehr trotz des heftigen Aufeinanderprallens der Parteimeinungen reiche positive Arbeit im Dienste des Wiederaufbaues geleistet wurde, mag als Beweis für die unleugbare innere Festigung unseres Staatswesens angesehen werden."

Anerkennend äußerte er sich auch über die, trotz großer Parteiengegensätze, erfolgreiche gesetzgeberische Arbeit des Nationalrats: "Es waren nicht immer sonnige Tage, die dem Nationalrat beschieden waren. Aber auch die schwersten Kämpfe und die stärksten Parteigegensätze vermochten die gesetzgeberische Arbeit nie völlig lahmzulegen." Thema der offiziellen Ansprachen war auch die von den bürgerlichen Parteien angestrebte Korrektur der Verfassung in Richtung eines Präsidialsystems.

Sozialdemokratisches Denkmal

Die sozialdemokratische Opposition demonstrierte währenddessen mit einer Massenkundgebung mit mehr als 250.000 Teilnehmer:innen vor dem Parlament Republiktreue.

Die Stadt Wien, in ihrer Politik das "rote" Gegenmodell zum von der christlichsozialen Partei dominierten "schwarzen" Bund, hatte aus Anlass des Republikjubiläums ein Denkmal in Auftrag gegeben, das in unmittelbarer Nähe des Parlaments aufgestellt und am 12. November 1928 feierlich eröffnet wurde.

Die Büsten zeigen die Sozialdemokraten Victor Adler, Ferdinand Hanusch und Jakob Reumann, jedoch keine Repräsentanten der anderen an der Republikgründung beteiligten Parteien.

Der Anfang vom Ende der Demokratie

Die Heimwehren antworteten auf die sozialdemokratischen Republikfeiern, die bundesweit stattfanden, mit Aufmärschen gegen das "Rote Wien", gegen Republik und Demokratie.

Fünf Jahre später beendete das autoritäre Regime unter Engelbert Dollfuß die Demokratie in Österreich.

Bis heute gilt das mit Kruckenkreuzfahnen – dem Zeichen des autoritären "Bundesstaats Österreich" und der Einheitspartei Vaterländische Front – verhüllte Monument als bildliches Zeugnis des Endes der Demokratie.